Ikarus folgt dem Flug des Phönix

Bernd Roecks „Der Morgen der Welt“: Geschichtserzählung im Schatten der Wissenschaft

Von Josef SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Abend einer erfolgreichen Karriere als Historiker und Wissenschaftsfunktionär legt Bernd Roeck mit Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance ein opulentes, rund 1300 Seiten starkes Buch vor. Es ist erschienen in der Reihe „Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung“, die mit der Aufnahme eine herausragende geisteswissenschaftliche Forschungsleistung würdigen und zugleich eine große Leserschaft erreichen will.

Am Anfang der Wissenschaftstheorie steht Aristoteles, und der postulierte, dass zunächst der Untersuchungsgegenstand präzise zu definieren und daran die Untersuchungsmethode auszurichten sei. Am Gegenteil krankt Roecks Buch: Anstelle einer klaren Exposition erhält der Leser eingangs ein multiples Vorhaben vorgestellt. Der Titel kündet von einer Geschichte der Renaissance, zugleich möchte der Autor von der „Kultur der Renaissance“ berichten sowie „rekonstruieren, wie die Renaissance möglich werden konnte“. Sodann gräbt er nach den „Wurzeln der Moderne“, und plötzlich steht „die Geschichte eben jenes großen Gesprächs mit der europäischen Antike und den islamischen Hochkulturen, das in der Renaissance seine Höhe erreichte“, im Zentrum des Buches.

Aber erst im Nachwort erfährt der Leser überrascht, was Roeck eigentlich wagen wollte, nämlich den Versuch, „Lateineuropas Renaissance in eine vergleichende Perspektive zu rücken, um auf diese Weise ihre welthistorische Bedeutung sichtbar werden zu lassen.“ Einen solchen Strukturvergleich jedoch kann der aufmerksame Leser im Darstellungstext nicht erkennen, knappe Abstecher nach China, Indien, Japan et cetera reichen dafür ebenso wenig aus wie die versuchte Quintessenz im Epilog des Buches.

Der Verunklärung des Untersuchungsgegenstandes folgt die des Vorgehens. Zunächst bietet Roeck in der Einleitung eine systematische Gliederung an, die weit über die Renaissance hinaus wirkt, nämlich die von ihm ausgemachten – und diskutablen – sieben Säulen (das heißt Voraussetzungen) der Moderne (nicht der Renaissance!): geografische und klimatische Bedingungen, staatliche Vielfalt (politische und kulturelle Konkurrenz), städtische Mittelschichten und der Einfluss der Horizontale (dieser Begriff taucht ab und zu auf, bleibt jedoch unscharf), die Eindämmung der Religion, das kritische Gespräch mit der antiken und der arabischen Philosophie und Wissenschaft, die Medienrevolution (die Erfindung des Buchdrucks) und sehr lange Zeiträume für echte Paradigmenwechsel. Dieser Einteilung wird im Text aber nicht konsequent und systematisch gefolgt.

Bereits im ersten Kapitel stellt Roeck nämlich seine Phönix-Reise auf der Spur des – alten, zwischenzeitlich verlorengegangenen und wiederbelebten – wissenschaftlich-technischen Wissens vor, die ein chronologisch-geografisches Procedere suggeriert: vom Mittleren Osten nach Griechenland und Rom, von Byzanz über die ganze arabische Welt mit Abstechern nach Indien und China und zurück nach Italien. Doch auch diese Route wird nicht durchgehalten, der Phönix verschwindet immer wieder spurlos über längere Strecken. Dazwischen springt der Autor nervös von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent, von Disziplin zu Disziplin.

Zuletzt wird noch eine teilchronologische-thematische Struktur mit diversen Revolutionen eingeführt, die laut Roeck die Renaissance ausmachen: eine „Diskursrevolution“ (das heißt eine Debatte/Diskussion, ein Anschluss an den Diskursbegriff etwa von Jürgen Habermas oder Michel Foucault ist dabei nicht zu erkennen), eine „Medienrevolution“ (die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg), eine „Religionsrevolution“ (die Reformation) sowie die „Revolutionen“ in Kosmologie (Astronomie) und Physik. Am Rande sei angemerkt, dass Roeck an anderer Stelle die Annahme einer richtiggehenden Umwälzung am Ende des Mittelalters zurückweist und auf manchen Gebieten zu Recht Evolutionen nachweist.

An Klarheit fehlt es auch im Umgang mit zentralen Begriffen. So wird an keiner Stelle der Begriff der „Renaissance“ definiert. Nirgends wird deutlich gemacht, dass die Renaissance in den verschiedenen Ländern und Disziplinen zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzte und endete. Wo Roeck etwa noch von „Hochrenaissance“ spricht, hat in der italienischen Kunst längst der Manierismus begonnen, während sich in Deutschland die Renaissance gerade erst durchsetzt. Auch über die unterschiedlichen Epochenmodelle der wissenschaftlichen Fächer erfährt der Leser nichts.

Mit dem Begriff „Moderne“ verhält es sich analog. Der Laie wird dabei an die Gegenwart denken, der Halbgebildete möglicherweise an die Zeit zwischen den Weltkriegen. Dass Roeck aber – vermutlich – damit die Zeit ab der Aufklärung oder der Industriellen Revolution meint, ohne ein Ende der Moderne zu benennen, muss sich der Leser umständlich erschließen. Dass zwischen der Renaissance und Roecks Moderne die gewaltigen Gegenbewegungen der Gegenreformation und des Absolutismus herrschten, dass Renaissance und Aufklärung letztlich als kurze auflodernde Zwischenepochen zu werten sind, dass die Moderne/Aufklärung keine simple Fortsetzung der Renaissance ist, sondern völlig neue, in der Renaissance zum Teil noch nicht einmal angedachte Errungenschaften wie die Unterwerfung des Herrschers unter das Gesetz, die Erklärung der Menschenrechte, die Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und vieles mehr hervorgebracht hat – all dies wird nicht thematisiert.

„Lateineuropa“ ist ein weiterer Begriff, der irritiert. Zunächst benutzt ihn Roeck für den geografischen Raum zwischen Ostsee, Atlantik (inklusive der Nordsee) und Mittelmeer sowie nach Osten zum russisch- und griechisch-orthodoxen Kulturraum. Da an anderer Stelle Latein den Status einer „Supersprache“ erhält, die „das große Gespräch über alle seine [Europas Binnen-]Grenzen hinweg“ ermöglichte, definiert Roeck „Lateineuropa“ anscheinend über die vermeintliche Lingua franca Latein. Dabei übersieht er jedoch, dass Latein lediglich die Sprache der Gelehrten und des gelehrten Teils des Klerus war. Wie aber soll eine solche Sprache kulturelle und soziale Einheit bewerkstelligen, wenn der überwiegende Anteil der Bevölkerung von ihr ausgeschlossen ist? Und sprachen die Gelehrten in Alexandrien, in Byzanz, in Moskau nicht auch Latein?

Im Übrigen ist der Begriff „Lateineuropa“ längst besetzt und unterläuft Roecks Verwendung. Denn in Analogie zu „Lateinamerika“ formulierte Michel Chevalier im 19. Jahrhundert diesen Kampfbegriff im Sinne eines kulturellen Gegengewichts der romanischen Länder Europas gegen die Dominanz Englands und der USA. Weitere europäische Schwergewichte wie Deutschland, Österreich, Russland sowie die Wiege des Westens, Griechenland, gehörten also explizit nicht zu „Lateineuropa“.

Roecks Rede vom „Möglichkeitsraum“ hingegen wirft Fragen zu seinem Geschichtsverständnis auf: „Er umgreift, was denkbar ist und was geschehen kann, aber eben nicht muss.“ Nicht stattgefundene Ereignisse jedoch sind nicht Gegenstand des Fachs Geschichte, ihre Schilderung sollte wahrlich befähigten Schriftstellern überlassen bleiben. Und so reduziert sich die Rekonstruktion von „Möglichkeitsräumen“ auf die Rekonstruktion von Voraussetzungen, die auch tatsächlich zu einem Ereignis geführt haben. Alles andere ist ein Nullsummenspiel ohne jeden Erkenntniswert.

Zum eigentlichen Darstellungstext ist nicht viel zu sagen, er speist sich aus dem – nicht immer aktuellen, nicht immer unumstrittenen – Kenntnisstand der diversen Wissenschaftsdisziplinen, der zwar souverän zusammengetragen, letztlich jedoch zusammenhanglos, ohne Stringenz und Systematik wiedergegeben wird, so, als seien Aufsätze, Vorlesungen und Vorträge nachträglich in ein Korsett gepresst worden. Angesichts der überbordenden Fülle des Stoffes geht schnell der Überblick verloren, und dem arbeitet der Autor nicht entgegen. Wer möchte nach der Lektüre des Buches behaupten zu wissen, was etwa die Malerei der italienischen Renaissance kennzeichnet, worin sie sich von der deutschen oder polnischen Renaissancemalerei unterscheidet? Was etwa italienische und flämische Philosophie der Renaissance verbindet? Was die Struktur des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ausmacht und welche Probleme sie mit sich brachte? Worin Staatlichkeit in der Vorzeit der Nationalstaaten eigentlich bestand?

Immer wieder verlässt Roeck eine seriöse Darstellung zugunsten effekthaschender Geschichtserzählung. Ein schlagendes Beispiel hierfür bietet eine Szene um Giordano Bruno: „Rom, 16. Februar 1600. Die Vermummten kamen in der Abenddämmerung. Für den Mann, der in einem fensterlosen Verlies der Tor di Nona, des päpstlichen Kerkers unweit von Roms Engelsburg, kauerte, verhieß ihr Erscheinen nichts Gutes. Die Gestalten mit ihren schwarzen Kapuzen waren Engel der letzten Stunden, Samariter für die furchtbaren Momente zwischen Leben und hartem, gewaltsamen Sterben“. Versucht sich Roeck hier am historischen Roman?

Immer wieder werden komplexe Sachverhalte in blumige, nichtssagende Sprache verpackt: „Der spektakulärste Versuch des Mittelalters, die Widersprüche von Geist und Materie aufzulösen, ist die Kathedrale, jenes monumentale Fanal des westlichen Aufbruchs. Sie zeigt die Arbeit an dem Unternehmen, Geist, Licht und Himmel zum Bauwerk zu machen.“ Oder: „Der Abschied vom Religionskrieg [der Dreißigjährige Krieg] verlief dramatisch. Die Auseinandersetzungen schoben sich zu furchtbaren Todesfugen ineinander.“

Immer wieder gelingen Roeck verrutsche und schreiende Metaphern: „Unbeirrbar verteidigte [das päpstliche] Rom sein Magiemonopol, das Wegerecht auf den Straßen ins Jenseits.“ „Bruder Machiavelli führt uns für einen Moment ins Innerste der Werkstatt des Humanismus, der wesentlich Dialog ist und ästhetische Inszenierung in einer hässlichen Welt, damit zugleich Flucht aus ihr.“ „Historikerinnen und Historiker haben ihr Nekromantengeschäft zu verrichten.“ Europa als „Blutland“, Klöster als „Agenturen der Überlieferung“, „Talentnest Urbino“, „Triumpf des Tintenstaats“, „Christus in den Wäldern“, „Take-off unter der Sonne“ und andere mehr.

Die Literaturliste, in der die Primär- von der Sekundärliteratur nicht getrennt ist, rundet den negativen Eindruck ab. Es fehlen komplett die Schriften etwa von Aby Warburg, Wolfgang Wolters und Joachim Poeschke, des Weiteren zentrale Studien wie etwa John Shearmans Manierismus und Jörg Traegers Renaissance und Religion, um nur einige Forscher und Titel zu nennen, deren Studium Roecks Verständnis für die Renaissancekunst – unabdingbar für eine Darstellung der Epoche – erheblich gefördert hätte. Die Lektüre der zahlreichen Arbeiten des Philosophiehistorikers Eckhard Keßler, von denen nur eine (von 1971!) angeführt ist, hätte zweifellos zu gedanklicher Klarheit und Stringenz beigetragen. Dass nun neben dem unumstrittenen Johannes Fried ausgerechnet Bernd Roeck selbst die meisten Einträge in der Liste der Sekundärliteratur erhält, zeigt dessen Selbsteinschätzung und spricht Bände.

Gegen Ende des Buches stellt der Autor ernüchtert fest, dass letztlich nicht zu klären sei, „warum wissenschaftliche Revolutionen und damit die Industrialisierung von Lateineuropa ihren Ausgang nahmen“. Dem ist zuzustimmen. Warum aber dann der große Aufwand, um genau das Gegenteil zu beweisen?

Im Nachwort schließlich berichtet Roeck, „dass ein weiteres Überblickswerk in der ehrfurchtgebietenden Tradition Jacob Burckhardts, Peter Burkes und John Hales keine wirklich neuen Einsichten zu erschließen versprach“, weswegen er von einer kulturgeschichtlichen Darstellung – die das Buch jedoch überwiegend trotzdem ist – abgesehen habe. Dies ist nachzuvollziehen.

Da nun aber der ebenfalls im Nachwort als Ziel genannte Strukturvergleich mit anderen Kulturen und deren tatsächlichen oder vermeintlichen „Renaissancen“ nicht geleistet wird, darf abschließend die berechtigte Frage nach der „herausragenden geisteswissenschaftlichen Forschungsleistung“ gestellt werden, zumal weder neue Forschungsergebnisse noch eine neue Bewertung der Renaissance vorgelegt werden. Seinen eigenen „Möglichkeitsraum“ konnte also Roeck nicht nutzen. Das ist bedauerlich, denn der Aufwand war enorm.

Titelbild

Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
1310 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783406698767

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