Kopfkino par excellence

Emmanuel Boves Figuren zwischen Einsamkeit und Wahnsinn

Von Liane SchüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liane Schüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die wesentlich jüngere Ehefrau von Robert Marjanne, Claire, ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Robert, „klein und wohlgeraten, ein sehr empfindlicher Mann, dessen Menschenscheu durchaus in Nervenschwäche umschlagen konnte“, steigert sich sorgenvoll und ängstlich in die Vorstellung hinein, seine Frau, die so schön war, „dass sie […]  unverzüglich eins wurde mit jener Frau, die zu heiraten er sein ganzes Leben geträumt hatte“, habe ihn betrogen. Als Claire nach einer für Herrn Marjanne quälend langen Nacht am frühen Morgen auftaucht und ihr Fortbleiben in einem Dialog mit Robert zu (er)klären sucht, wird den Lesern der gedankliche Subtext des Ehemanns zu den Ausführungen seiner Ehefrau mitgeliefert. Gaukelt Claire ihm nur etwas vor? Liegt der Betrug nicht auf der Hand? Immer mehr gerät die Erzählung zu einem amüsant-deprimierenden Spiel zwischen Lüge und Wahrheit. Verschiedene Abstufungen von Misstrauen dokumentieren Roberts schwankende Haltung: „Bei diesen Worten war es Herrn Marjanne, als breche um ihn herum alles zusammen. Das waren alles nur Lügen. Er war dessen sicher“, über: „Robert Marjanne hatte nun den Eindruck, dass die Geschichte, die seine Frau zu erzählen sich anschickte, gänzlich erfunden war“ und: „Diesmal hatte Robert Marjanne den klaren Eindruck, dass der Bericht von Claire nichts als eine große Lüge war“, schließlich: „Gut, ich glaube dir“. Die Leser erfahren jedoch: „Er glaubte ihr nicht. Er war zutiefst davon überzeugt, dass sie gelogen hatte. Aber plötzlich war ihm deutlich geworden, dass er sich dem Alter näherte und dass es, statt alles zu verlieren, besser war, still zu leiden“.

Wenn Robert zu der resignierenden, altersweisen Einsicht gelangt, es spiele keine Rolle, ob Claire lüge, letztlich zähle die Mühe, die sie sich beim Fabulieren gebe, bleibt ein bitter-wehmütiger Beigeschmack zurück. Soll das der Charakter und Sinn zwischenmenschlicher Kommunikation und Gemeinschaft sein? Die Erzählung Ist es eine Lüge? verdeutlicht die subtile Schreibkunst des französischen Autors Emmanuel Bove. Mit bangem Vergnügen schaut man der Hauptfigur beim Denken, Grübeln und Verzweifeln zu. Dabei wird ein lebendiges Kopfkino in Gang gesetzt, da die Texte bei aller sprachlichen Reduktion (über)deutliche Bilder erschaffen. Was malen wir uns in unserer Phantasie aus, wenn wir Angst haben vor Verlust, Einsamkeit und Mangel an Anerkennung und Liebe? Boves Figuren präsentieren verschiedene Spielarten des Umgangs mit Angst und Sehnsucht. Sie treten zumeist als distanzierte Flaneure, stille Außenseiter oder notorische Exzentriker auf, träumen von (Un-)Möglichem wie „wahrer“ Freundschaft (Ein anderer Freund) oder Mord (Verbrechen einer Nacht) und befinden sich häufig an einem Scheideweg oder in Grenzsituationen – unsicher, einsam, zweifelnd, resignierend.

Erstaunlicherweise ist der Erzähler und Romancier Emmanuel Bove in der Literaturszene nach wie vor eine Randerscheinung. 1898 in Paris geboren, dauerte es, bis er seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben bestreiten konnte. Zu seinem Debütroman Mes amis, der im Jahr 1924 erschien, hatte ihn die bekannte Künstlerin, Journalistin und Schriftstellerin Colette ermuntert, nachdem sie zwei Jahre zuvor begeistert eine seiner Erzählungen gelesen hatte. Der Roman über den Kriegsinvaliden Victor Batȏn, der sich verzweifelt nach einem Freund und Vertrauten sehnt, rückte Bove schlagartig ins Rampenlicht und bescherte ihm in Literatur- und Künstlerkreisen viele namhafte Förderer und Bewunderer, im deutschsprachigen Raum unter anderem Rainer Maria Rilke und Klaus Mann. Ende der zwanziger Jahre erhielt er mit dem Prix Figurière eine wichtige und hochdotierte Auszeichnung. Dennoch war der Autor nach seinem frühen Tod mit nur 47 Jahren zunächst nahezu vergessen. Erst Ende der 1970er Jahre erfuhr sein umfangreiches Œuvre, das über zwanzig Romane und dreißig Erzählungen umfasst, eine Renaissance, die durch Raymond Cousse, Samuel Beckett und Eugène Ionesco und in Deutschland vor allem durch das Interesse Luc Bondys und die Übertragungen Peter Handkes befördert wurde.

Heute wird Bove mit dem Label ‚Klassiker der Moderne‘ markiert, dennoch kennen und lesen ihn wenige, wenngleich es sporadisch Ausstellungen und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Werk und Leben des Autors gibt. So hat sich beispielsweise der bildende Künstler Armin Hartenstein schon seit 2006 mit der Serie Mes Amis de Emmanuel Bove, die aus kleinformatigen collagierten Bildformaten besteht und bisher etwa 160 Stück umfasst, erklärtermaßen auf den Autor bezogen. Seit 2013 existiert als Erweiterung dieses Projekts eine begehbare Raumskulptur und ein Blog. Aktuell hat im Frühjahr 2017 die Universitäts- und Landesbibliothek in Darmstadt gemeinsam mit der Dr.-Speck-Literaturstiftung Köln dem Autor unter dem bezeichnenden Titel Wer war Emmanuel Bove? eine (biografische) Ausstellung gewidmet. Zu hoffen ist nun, dass sich der nebulöse Status des Autors allmählich ändern wird. Dazu kann vielleicht auch das ambitionierte Projekt der Edition diá, Berlin beitragen. Hier sind als Paperback neben einer 22-bändigen E-Book-Edition von Boves Werken einige seiner Erzählungen erstmalig auf Deutsch erschienen. Der Schriftzug der Umschlaggestaltung ist eine Hommage an die Ausgabe von Mes amis aus dem Jahr 1932.

Der Band umfasst sieben Erzählungen aus den 1920er Jahren, die wohl als die produktivste Phase Emmanuel Boves angesehen werden können. Die Originalausgabe der Erzählungen erschien 1928 unter dem Titel Henri Duchemin et ses ombres bei Éditions Émile-Paul Frères, Paris, eine Neuausgabe mehr als ein halbes Jahrhundert später im Jahr 1983 bei Éditions Flammarion, ebenfalls in Paris. Drei Erzählungen wurden bereits auf Deutsch veröffentlicht, die übrigen vier liegen nun erstmals in deutscher Übersetzung von Martin Zingg vor. Die Hauptfiguren der Erzählungen, häufig Männer meist noch jüngeren Alters, leiden – an ihrem Leben, an ihren Lieben, ihrem sozialen und gesellschaftlichen Status und irgendwie an allem. Sie entwickeln eine Perfektion darin, die Leser an dieser Qual am Leben und des Lebens teilhaben zu lassen. So versichert in der titelgebenden Geschichte eines Wahnsinnigen der Ich-Erzähler Fernand Blumenstein nachdrücklich, dass er bei klarem Verstand sei, und kündigt den Bericht einer wahren Begebenheit an. Nebenbei erteilt er dem Leser höchst energisch konkrete Regieanweisungen, wie man seinen Bericht zu rezipieren und zu verstehen habe: „Jetzt, Achtung!“ und „Achtung Leser! Lesen Sie diese Zeilen ganz allein. Es sollte niemand in ihrer Nähe sein. Ich selber bin auch allein. Wir sind beide allein. Passen Sie auf. Verriegeln Sie die Türe. Die meine ist schon verriegelt. Sie werden sehen, was geschehen ist. Still! Hören Sie gut zu. Stehen Sie nicht auf, bitte nicht bewegen. So ist es gut.“ Überaus redselig und in manischer Manier wird der Leser mit ins Boot geholt. Der Erzähler teilt mit, wie er nach und nach alle Menschen, die ihm nahe standen, verlassen hat. Dieses Prozedere, das die Betroffenen jedes Mal mit ungläubigem „Du bist wahnsinnig!“ oder „Bist du wahnsinnig?“ quittieren, wird detailliert beschrieben, aber keinesfalls erklärt. „Und Sie, Leser, Sie denken vielleicht, dass das alles nicht sehr logisch ist. Nicht wahr, Sie denken das?“, insistiert Blumenstein. Welcher Art sein Wahnsinn ist, bleibt Spekulation. Denn eigentlich scheint er doch bei klarem Verstand zu sein. Oder?

Die Figuren Emmanuel Boves beobachten ihre Umgebung, vor allem aber sich selbst sehr genau. In ihrem oft zwanghaften Verhalten scheinen sie Wegbereiter für die verschroben-neurotischen Gestalten Woody Allens zu sein, die um ihre Lebenslügen kreisen und das eigene Verhalten und das der anderen penibel und genüsslich sezieren. Immer ein wenig aus der Spur des geordneten Lebens gerückt, sind die Akteure in Boves Geschichten von erstaunlicher Normalität und zugleich auch irgendwie anders, wodurch eine elementare Spannung erzeugt wird. Spielerisch und nüchtern arbeiten sie sich an Alltäglichem ab, zappeln in ihren vergeblichen Befreiungsversuchen und bleiben hilflos und allein zurück „angesichts der Unendlichkeit“, wie der Protagonist Victor Batȏn in Mes amis formuliert und sich schließlich zur unüberwindlichen Einsamkeit bekennt: „wie schön sie ist, und wie traurig. Wie ist sie schön, wenn wir sie wählen. Wie ist sie traurig, wenn sie uns aufgezwungen ist durch die Jahre.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Emmanuel Bove: Geschichte eines Wahnsinnigen. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Französischen von Martin Zingg.
Edition diá, Berlin 2016.
156 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783860344132

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