Ein Blick zurück, nicht frei von Zorn

Günter Grass kurz vor seinem Tod im Gespräch mit Heinrich Detering

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit Letzte Tänze (2003) beginnt für Günter Grass seine persönliche „Letztzeit“: Den Rest seines Lebens und Schaffens nimmt er unter dem Aspekt der Letztmaligkeit wahr. Sogar das umstrittene Israel-Gedicht Was gesagt werden muss (2012) enthält eine diesbezügliche Bemerkung: Er schreibe es „gealtert und mit letzter Tinte“. Erst recht hat natürlich das im Sommer 2015 postum erschienene Buch Vonne Endlichkait Schlusspunktcharakter, es sei Grass‘ „letztes Gesamtkunstwerk“ (so jedenfalls will es der Steidl Verlag); Text und Illustrationen ergänzen einander, wenn z.B. das Gedicht Der Letzte und die Zeichnung Selbstbild dem „allerletzten Zahn“ gewidmet sind.

Da überrascht es nicht, dass auch Titel und Untertitel des vorliegenden Nachlassbandes auf melancholischen Abschied gestimmt sind: In letzter Zeit. Ein Gespräch im Herbst. Doch das ist irreführend: Strenggenommen beziehen sich Titel und Untertitel nur auf die Entstehung des Buchs. Im Oktober bzw. November 2014 führen Grass und Heinrich Detering, die einander wegen ihres gemeinsamen Interesses an Hans Christian Andersen schon länger kennen und schätzen, in Grass‘ Behlendorfer Haus zwei Gespräche miteinander. Zu der beabsichtigten Fortsetzung kommt es nicht, weil sich das Befinden von Grass verschlechtert und er im April 2015 stirbt. Folglich überliefert der schmale Band, der sich auf Tonbandaufzeichnungen stützt, nur Fragmentarisches. Die aufgezeichneten Erinnerungen und Gedanken, die unabhängig von der Chronologie sein ganzes Leben und einen großen Teil seines Gesamtwerkes im Blick haben, sind unsystematisch miteinander verwoben, und sie säuberlich voneinander zu sondern, ist kaum möglich.

Detering teilt einen Brief von Grass mit, in dem dieser ihm ein aufschlussreiches Kompliment macht: „Sie sind der Erste und damit Einzige, der mir so eindringliche und also auch den Grund meiner Verletztheit berührende Fragen gestellt hat.“ Bedauerlicherweise bricht das Zitat ab, doch steht außer Frage, dass mit „Verletztheit“ ein entscheidendes Stichwort fällt: Durch eine vom Gesprächspartner begünstigte positive Selbstdarstellung will Grass Angriffe parieren, die er als kränkend empfunden hat und immer noch empfindet. Das geht nicht, ohne dass er seinerseits angreift. Außerdem verzichtet er nicht auf Eigenlob. So hat er z.B. den Eindruck, sein Mäzenatentum werde nicht genug gewürdigt, und in Art einer captatio benevolentiae wendet sich das Gespräch verhältnismäßig schnell den von ihm gestifteten Preisen zu, dem Otto-Pankok-Preis zugunsten des Roma-Volks, dem Chodowiecki-Preis für polnische Grafiker, dem Alfred-Döblin-Preis für unveröffentlichte Prosa nach dem Vorbild des Preises der Gruppe 47 und dem August-Bebel-Preis. Außerdem hat er sich für die Erhaltung des Wolfgang-Koeppen-Hauses in Greifswald engagiert und sein eigenes Haus in Wefelsfleth der Stadt Berlin geschenkt mit der Auflage, darin Nachwuchsautoren zeitweise zu beherbergen – zum Gesprächszeitpunkt waren es bereits zweihundertfünfzig Autoren.

Freundlich und gelegentlich mit Wärme spricht Grass von seinen vielen Freunden, die meisten von ihnen aus der Zeit der Gruppe 47. Unter ihnen Siegfried Lenz, mit dem zusammen es „immer sehr amüsant“ gewesen sei, und Johannes Bobrowski, zu dem er „eine wunderbare Beziehung“ gehabt habe. Ein Freund der Extraklasse war Peter Rühmkorf. Nach seinem Tod begab sich Grass ans Totenbett, betupfte die Stirn des Gestorbenen mit Grappa und zeichnete ihn. Die Zeichnung hat Aufnahme in die vorliegende Ausgabe gefunden. Selbstverständlich gab es auch weiterhin Freunde; Grass klagt nicht über deren Mangel, sondern über das Fehlen freundschaftlicher Unterstützung: „Ich habe zu viele beflissen schweigende Freunde.“ Dass diese Klage möglicherweise zu weit geht, stellt Detering implizit richtig, indem er als Unterstützerinnen aus der jüngeren Generation zwei Autorinnen nennt, Eva Menasse und Juli Zeh.

Es ist nahezu ein literarhistorisches Gesetz, dass Gegnerschaften unter Autoren – zuweilen muss man sogar von Feindschaften sprechen – unterhaltungsträchtiger sind als Freundschaften und Grass deshalb als Polemiker mehr Beachtung gefunden hat denn als kollegialer Gefährte. Die lautstarken Auseinandersetzungen, weitaus mehr politisch als literarisch motiviert, sind hinlänglich bekannt. Psychologisch reizvoller als sie sind ambivalente Beziehungen, in denen Sympathie und Antipathie uneindeutig sind und schwer belegbare Gefühle wie Neid und Ressentiment ins Spiel kommen. Die Freundschaft mit Uwe Johnson etwa habe daran gelitten, dass er mit Grass‘ „Bekanntheit nicht fertig wurde“. Auf ein unerklärliches ‚Ressentiment‘ gehe der von Max Frisch erhobene gehässige Vorwurf zurück, Grass sei publizitätssüchtig. Wie es zwischen Grass und Magnus Enzensberger steht, bleibt vage. Der zögerliche Wortlaut der Antwort, mit der Grass auf die Frage nach dieser Beziehung eingeht, ist vielsagend: „Ich bin mit Enzensberger auch befreundet, doch.“ Es folgt eine harsche Ablehnung von Enzensbergers autobiographischem Buch Tumult (2014) als „Selbststilisierung“, als „Enttäuschung“ und „Feigheit“, und Detering subsumiert Grass‘ Urteile über Enzensberger unter dem Verdikt „Leichtfertigkeit“. Die Kluft zwischen einem Linken, der einer sozialdemokratischen Tradition verpflichtet ist, und einem Oppositionellen, der den 68ern nahestand, bleibt schwer überbrückbar.

Die Äußerungen zeigen, dass eine Literaturkritik, die auf die persönlichen Beziehungen zwischen Autoren abhebt, in die Nähe des Klatsches zu geraten droht, wie unterhaltsam auch immer. Doch darin erschöpft sich das Gespräch keineswegs, vielmehr rücken auch wichtige Texte von Grass ins Blickfeld, an erster Stelle der Roman Hundejahre (1963), den er im Vergleich zur Blechtrommel (1959) für unterschätzt hält, was schon seit längerem seine Meinung ist. Er will nicht als Autor nur eines einzigen Buches in die Literaturgeschichte eingehen. Außerdem befolgt er mit seiner Bevorzugung der Hundejahre die Regel, der zufolge Autoren für das ihrer Werke zu werben pflegen, das sie aktuell beschäftigt, und Grass‘ Beschäftigung mit Hundejahre liegt noch nicht lange zurück: Zur Fünfzigjahrfeier von deren Erscheinen hatte der Steidl-Verlag 2013 eine mit hundertsechsunddreißig neuen Radierungen illustrierte Jubiläumsausgabe herausgebracht, die, so jedenfalls Grass‘ Vorwurf, von der Presse „ignoriert“ werde. Ein weiterer Grund, erneut von Hundejahre zu sprechen, mag darin liegen, dass in ihnen mit der vorwiegend positiv charakterisierten Gestalt des „Halbjuden“ Amsel jüdisches Schicksal erzählt wird. Daran zu erinnern, wie übrigens auch an die mit Sympathie dargestellten jüdischen Gestalten in der Blechtrommel, gibt es Anlass genug, sieht sich Grass doch in der um Differenzierung manchmal erstaunlich unbekümmerten Kritik an seinem Israel-Gedicht sogar dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt, ein Vorwurf, der eingestandenermaßen zu seiner „Verletztheit“ erheblich beigetragen hat.

Detering versteht es, Grass mit relevanten Stichworten zum Sprechen zu bringen; und es spielt eine Rolle, dass kein beliebiger Journalist fragt, vielmehr der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ein angesehener und über die literarische Szene bestens informierter Germanist, der außerdem als Lyriker hervorgetreten ist, und dass Grass sich bemüht, den Interviewcharakter des Gesprächs zu verwischen und sein Gegenüber in die Rolle eines gleichgewichtigen Partners drängt, der, bitte doch, auch von sich selbst sprechen möge. Das schafft die Atmosphäre einer Konversation, die Erheiterndes zulässt. Hervorzuheben ist die anekdotische Einlage, in der Detering gesteht, als junger Kritiker der FAZ, befangen in einem Anti-Grass-Vorurteil, eine abwertende Bemerkung über Unkenrufe (1992) gemacht zu haben, ohne diese zu kennen. Das Geständnis fügt sich bestens zu Grass‘ bekannten Klagen über das Feuilleton im Allgemeinen und das der FAZ im Besonderen, die auch hier wiederholt und variiert werden. In dieser Hinsicht wie auch in manchen anderen Punkten bringt das ansprechend gestaltete Büchlein nichts grundsätzlich Neues. Aber als eine authentische und angenehm zu lesende Ergänzung zur Grass-Literatur ist es willkommen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Günter Grass / Heinrich Detering: In letzter Zeit. Ein Gespräch im Herbst.
Steidl Verlag, Göttingen 2017.
128 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783958292932

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