Wir wollen erregt werden

Tristan Garcia, Shootingstar der französischen Philosophie, weiß, wie wir der Müdigkeitsgesellschaft entgehen können

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Intensiv sein ist alles“: Das war nicht nur das Lebensmotto Arthur Schnitzlers, das war und ist bis heute auch die Devise der Moderne. Jedenfalls wenn man Tristan Garcia folgt, dem Shootingstar der französischen Philosophie, der mit 36 Jahren schon über ein Dutzend Bücher veröffentlicht hat, philosophische wie belletristische. Vor allem sein kulturkritischer Essay La vie intense. Une obsession moderne (auf Deutsch bei Suhrkamp unter dem Titel Das intensive Leben. Eine moderne Obsession erschienen) wurde in seinem Heimatland als intellektuelles Ereignis gefeiert.

Das überrascht angesichts der ökonomischen und multikulturellen Probleme in Frankreich etwas. Gerade die französische Gesellschaft, sollte man meinen, hat drängendere Probleme als die Frage, wie man sich möglichst lange seine Lebenslust erhält. Aber der Reihe nach. Ausgangspunkt von Garcias Reflexionen ist die Diagnose einer entzauberten Moderne, die ihren Individuen nur noch ein einziges Angebot machen könne: „Die moderne Gesellschaft verspricht den Einzelnen nicht mehr ein anderes Leben oder ein seliges Jenseits, sondern lediglich das, was wir schon sind – mehr und besser […], eine Steigerung unserer Körper, eine Intensivierung unserer Freuden, unserer Liebesgefühle und Emotionen.“

Ein Leben also mit möglichst vielen Adrenalinkicks und erfüllenden Erfahrungen. Egal wie und woher, ob man den Globus bereist, am Computer zockt, sich Amphetamine reinzieht oder in Sexabenteuer stürzt: Hauptsache, es kickt. Selbst die Feinde des liberalen Westen, etwa jugendliche Dschihadisten, folgen für Garcia noch dem „Intensitätsideal“, dem Bedürfnis nach einer maximal gesteigerten, erfüllten Existenz. Sein Leben verfehlt habe so gesehen nur, wer es in Mittelmaß und Alltagsroutinen versumpfen lässt. 

Erstmals kam das Intensitätsideal um 1800 auf, als der Intensitätsbegriff – dessen Geschichte Garcia von Aristoteles über Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Henri Bergson bis Gilles Deleuze rekonstruiert – mit der neuen Faszination für das Phänomen der Elektrizität kurzgeschlossen wurde. Alles erschien plötzlich elektrifiziert, so der Philosoph, die anorganische Natur ebenso wie die organische. Zu Pionieren des neuen „intensiven“ bzw. „elektrischen Menschen“ wurden der Libertin und der Romantiker: Suchte der eine die maximale Lust in Experimenten mit sich und anderen („Wir wollen erregt werden“, verlangte etwa der Marquis de Sade und träumte von der Erschütterung durch „den allerheftigsten Schock“, welcher Art auch immer), so der andere in der Natur.

Im 20. Jahrhundert stieg das Intensitätsideal dann zur allgemeinen Norm auf. Maßgeblich zu seiner Demokratisierung und Popularisierung trug der Nachfolger des Romantikers bei, der jugendliche Rocker. Dessen elektrische Gitarre wurde für Garcia zum Emblem des „intensivistischen Menschen“. Freilich zeigen schon die vielen in Absturz und Drogensucht endenden Musikerbiografien das Problem der ständigen Suche nach dem Kick. Das Intensitätsideal wird unweigerlich zum Opfer seines Erfolgs: „Wenn man sich allein auf die Intensität verlässt, um einen Daseinsgrund zu finden, bedeutet dies, sein Leben und Denken einer existenziellen Erschöpfung auszuliefern.“

Garcias Analysen, warum der Traum vom Dauerkick unmöglich ist, warum alles irgendwann unweigerlich im „Morast der Routine“ stecken bleibt und in Erschöpfung, Burn-out, Depression oder Sucht endet, gehören zu den stärksten Partien seines Essays. So gibt es zwar Strategien, die Ermattung aufzuhalten, wie etwa die Variation oder die Beschleunigung. Doch helfen sie nur vorübergehend und machen letztlich alles nur schlimmer. Wie im Freizeitsport: Wo einst die Lust am eigenen Körper dominierte, boomen jetzt immer riskantere Extremsportarten, Dopingmittel und tragbare Messgeräte zur permanenten Selbstüberwachung. Für Tristan Garcia hat diese Entwicklung aber nun ihr Ende erreicht. Längst sei der Westen zu einer „Müdigkeitsgesellschaft“ (Jonathan Crary) degeneriert, habe sich das Intensitätsideal für immer mehr Menschen verbraucht. Die Wiederkehr vormoderner Weisheitslehren und Transzendenzversprechen gilt ihm dafür als Beleg: vom steigenden Interesse an tradierten Techniken der Entschleunigung wie Zen oder Qi-Gong bis zur Rückkehr der Religion. Diese Wiederkehr ist für den französischen Philosophen aber so wenig ein akzeptabler Ausweg aus der Krise wie die vielleicht bald Realität werdenden Silicon-Valley-Fantasien von einer rein digitalen, in Informationsströmen gebadeten Existenz.

Für Tristan Garcia lautet die entscheidende Frage vielmehr, wie man sich trotz der fatalen Logik der Intensität die Lebenslust erhalten kann, denn: „Was nützt es, für immer zu leben, wenn man dabei das Lebensgefühl verloren hat?“ Garcias Antwort bezieht sich auf den Gegensatz von Denken und Leben. Statt eines dem anderen unterzuordnen, gelte es, die „ethische Spannung“ zwischen beiden zu erhalten und produktiv zu machen: „Die Kraft eines Lebens ist etwas sehr Heikles. Um sich so lange wie möglich lebendig zu fühlen, muss man sich auf den Kammlinien der Ideen und Empfindungen halten und erreichen, dem Taumel der Lebensbejahung nicht nachzugeben und auch nicht in den Abgrund der Lebensverneinung zu stürzen.“

Das ist schön gesagt und sicher nicht falsch, nur neu ist Garcias „Ethik der Intensität“ nicht. Davon, dass Vita activa und Vita contemplativa zusammengehören, künden schließlich heute noch die billigsten Lebensratgeber. Und sprechen inzwischen nicht sogar Arbeitgeber von der „Work-Life-Balance“ ihrer Mitarbeiter? Noch zwei Beobachtungen erwecken Skepsis gegenüber Garcias Analysen: zum einen die weitgehende Ausblendung sozialer Werte und Ideale jenseits der individualistischen Kicksuche, die die Moderne kaum weniger geprägt haben dürften. Zum anderen die Abwesenheit von Humor und Ironie, obwohl sie noch immer den zuverlässigsten Schutz davor bieten dürften, zum Adrenalinjunkie zu werden.

Titelbild

Tristan Garcia: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession.
Übersetzt aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
215 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587003

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