Apokalypse im Kinderzimmer

Leila Slimani strapaziert die Nerven ihrer Leser

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Horrorszenario, wie es sich Eltern nicht schlimmer vorstellen können: Ein blutdurchwirkter Prinzessinnenteppich, darauf Adam, der kleine, zweijährige Junge, tot, und Mila, das 18 Monate ältere Mädchen, das an ihren Verletzungen sterben wird. Louise, das Kindermädchen, überlebt. Nachdem sie die Kinder gnadenlos erdolcht hat, schlägt ihr Selbstmordversuch fehl.

Mit dieser apokalyptischen Episode eröffnet die marokkanisch-französische Autorin Lëila Slimani ihren zweiten Roman mit dem Titel Dann schlaf auch du, dessen Originalausgabe 2016 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde und danach wochenlang in Frankreich die Bestsellerlisten anführte. Das nicht von ungefähr, denn Slimani greift ein ganzes Panoptikum brandaktueller und vielschichtiger Themen auf, die nicht nur für Eltern von hoher Relevanz sind. Auf knapp 200 Seiten begibt sie sich auf Spurensuche im Umkreis des Mordes, dessen Täterin feststeht. So ist der ganze Roman als Rückblende angelegt. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes kommt der Juristin Myriam das Stellenangebot eines ehemaligen Kommilitonen mehr als recht, scheint sie sich doch so sehr zu langweilen, dass sie bereits mehrfach Kleinigkeiten gestohlen hat, um ihren Alltag etwas aufzupeppen. Damit sie die Herausforderungen meistern kann, beschließt sie mit ihrem Mann Paul, einem Musik-Produzenten, tagsüber eine Nanny einzustellen. Bedingung ist jedoch, dass es keine Immigrantin ist. So kommen sie auf Louise, eine kleine blonde Frau um die 50 mit hervorragenden Referenzen, der es schnell gelingt, aus der etwas verkommenen Wohnung ein „trautes Heim“ zu machen. Sie entpuppt sich als wahre Perle, die mit Aufräumen, Putzen und Kochen, sogar mit dem Zaubern festlicher Diners für ganze Partygesellschaften und dem Organisieren von Kindergeburtstagen, das Glück im bourgeoisen Mittelstand zu garantieren beginnt. Das Ideal erfährt einen ersten Dämpfer, als Louise mit in den Griechenland-Urlaub fährt, Paul sie zum ersten Mal als Frau wahrnimmt und kurz die Gefahr eines Ehebruchs aufblitzt. Allmählich schleichen sich mehr und mehr Störfaktoren und Unbehaglichkeiten ein, für die Paul empfänglicher als Myriam ist. Er ist wütend, als Louise seiner kleinen Tochter die Nägel lackiert und sie schminkt. Myriam hingegen ist erst außer sich, als Louise, zuvor immer wieder einmal empört, weil ihre Arbeitgeber so viel wegwerfen, ein sauber gewaschenes und glänzendes Hühnergerippe wie eine Skulptur auf dem Esszimmertisch exponiert. Ab diesem Punkt beginnt die „Ausweich-Choreographie“ von Akteuren, deren Beziehung in Auflösung begriffen ist. Louise hofft, dass Myriam zum dritten Mal schwanger wird und ein neues Baby in die Familie kommt, damit sich alles zum Guten wendet. Unterdessen jedoch zerren Mila und Paul mehr und mehr an ihren Nerven, bis zu dem Tag, an dem das Unglück seinen Lauf nimmt.

In Slimanis Fiktion erweisen sich alle Hauptfiguren als typische Gestalten in einem unheilvollen gesellschaftlichen Rondo, als Protagonisten in einem Spiel, in dem letztendlich alle Verlierer sind. Vermittelt von einer heterodiegetischen, seltsam unbeteiligten Erzählstimme diagnostiziert und seziert Slimani mit messerscharfer Genauigkeit, reiht viele Details aneinander und lässt in einigen Rückschauen, die den Haupthandlungsstrang interpunktieren und auf unterschiedlichen Zeitebenen angesiedelt sind, Personen im Umkreis der Protagonisten in derselben heterodiegetischen Brechung zur Sprache kommen.Dabei geht es unter anderem um Rose Grinberg, Concierge und Nachbarin, um Jacques, Louises verstorbenen Exmann und vor allem um Stéphanie, Louises uneheliche Tochter, die nur deshalb nicht abgetrieben wurde, weil Louise den Termin verschlief. Daneben zeigen Einblicke in Louises berufliches Leben als Pflegerin einer alten Dame und als Kindermädchen, wie patchwork- und zickzackartig ihr Leben verlief.

Myriam und Paul repräsentieren eine Generation, die in ihrer Gesamtheit unter Überlastung zu leiden meint. Um allen Anforderungen gerecht zu werden, geben die beiden Verantwortung ab, stecken aber insofern in einer Rollenkonfusion, als sie ihrer Fürsorgepflicht als Arbeitgeber nicht gerecht werden. Sie ordnen sich Louise dankbar unter, lassen diese das Zepter schwingen, sie auch für die Eltern eine Elternrolle einnehmen, bis zu dem Moment, als sie merken, dass Louise eine autarke Persönlichkeit mit eigenem Leben ist. Myriam und Paul sträuben sich auch dann noch gegen das Kennenlernen und gegen mögliche Hilfe, als Louises finanzielle Probleme offenbar werden. Die Repräsentationsoberfläche der Nanny verbietet die emotionale Annäherung.

In diesem Klima des Verbergens und Wegsehens keimt eine Tragik, die alle Beteiligten unschuldig schuldig macht. Wo Louise herkommt, bleibt im Verborgenen, nur ihr Leiden an ihrem Leben wird kommentarlos vorgeführt und nebenbei preisgegeben, dass sie bereits seit Langem emotional instabil war und einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hinter sich hat. Sehr eindrücklich bietet sich vor diesem Hintergrund das Ende des Romans dar, als sich die junge Kommissarin Nina Dorval schwört, das Unheimliche im Heimeligen aufzuspüren, herauszufinden also, wo der Fehler liegt. Sie besucht Louise, die schlafend und bandagiert in ihrem Krankenhausbett liegt, spricht mit ihr und versucht den Fall nachzustellen. Doch das offene Ende stellt es den Lesern anheim, ihre Schlüsse zu ziehen.

Mit ihrem ganz besonderen, im Wesentlichen stark parataktisch reihenden Stil und mit wechselnden Tempi gelingt es Slimani, die inhaltliche Ebene hervorragend zu begleiten. Unterzieht man den Roman so etwas wie einem „Parallellesecheck“, liest ihn also abwechselnd auf Deutsch und im französischen Original, dann kann man nur sagen: Chapeau vor der Leistung der Übersetzerin Amelie Thoma. Allerdings steckt der Teufel im Detail, ein paar Wermutstropfen sind exemplarisch zu monieren: Weshalb übersetzt Thoma die „nounou“, Koseform für das Kindermädchen, einmal mit „Nanny“, ein anderes Mal mit „Kindermädchen“? Hier hätte man sich Konsequenz gewünscht. Etwas holprig klingt darüber hinaus die wörtliche Übersetzung von „avoir droit à“ mit „ein Recht darauf haben“. Und vor allem wirkt die Übersetzung des neutralen „quartier chinois“ mit Chinesenviertel nicht nur leicht pejorativ. Das französische Original bietet orientierende Untertitel für die Abschnitte, in denen Nebencharaktere Aufklärungsarbeit leisten, während die deutsche Übersetzung diese weglässt. Nicht zu vergessen ist der Titel, der – wie erwähnte Abschnitte und sowieso oft üblich – auf das Konto des Verlages gehen dürfte: Ist „Dann schlaf auch du“, eine Abwandlung des „Drum schlaf auch du“ aus dem bekannten Schlaflied „La le lu“, reißerischer und damit verkaufsfördernder als „Chanson douce“? Mag sein, aber das simple „Wiegenlied“ wäre der Aussageintention der Autorin mit ziemlicher Sicherheit nähergekommen.

Slimani bezieht ihren Plot aus einem realen Fall, der sich vor einigen Jahren in New York zugetragen hat. Während des Aufenthalts in Griechenland droht zu allem Überfluss auch die sogenannte „Killer-Nanny“, die immer wieder einmal als Schreckgespenst vieler Hollywood-Stars durch die Medien geistert, eine Nanny, die für den Ehebruch des Vaters verantwortlich zeichnet. Vor allem jedoch wird der Roman von einer ganzen Phalanx an „Nanny-Geschichten“ aus Buch und Film gerahmt, denn Slimani schreibt sich ein in eine lange Tradition der Nanny-Literatur, in ein Spannungsfeld, das von extrem komisch bis hin zu tief tragisch, ebenso von trivial bis ästhetisch komplex, alles zu bieten hat. Sehr nah ist sie an der amerikanischen Filmproduktion Die Hand an der Wiege, vor allem jedoch steht die mythische Figur der Nanny, die am ehesten von Pamela Travisʼ Mary Poppins verkörpert wird, im Hintergrund, anfänglich als Ideal erwähnt, dann als grausames Vexierbild impliziert.

Alles in allem hat Slimani einen anspielungsreichen Text mit hohem literarischem Anspruch vorgelegt, in dem eine Vielzahl von Themen angeschnitten, partiell verarbeitet und damit an keiner Stelle totgeredet werden. Während der Lektüre setzt sich ein mentales Soziogramm zusammen, mit dessen Puzzleteilen sich die Leser lange über die Lektüre hinaus beschäftigen werden. Der Prix Goncourt wurde Slimani völlig zu Recht verliehen!

Titelbild

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Amelie Thoma.
Luchterhand Literaturverlag, München 2017.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875545

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