Philologie gegen das „bare Nichts“

Erich Auerbach in Essays und Briefen

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeiten, in denen der ein oder andere Student der Literaturwissenschaft Auerbachs Mimesis zur Hand nahm, um darin vielleicht etwas über Mimesis zu erfahren, dazu dann gar nicht viel fand, aber trotzdem weiterlas, weil das Buch einfach gut geschrieben ist und nachvollziehbare Interpretationen zu wichtigen Texten der europäischen Literaturgeschichte bietet, dürften lange vorbei sein.

Dass Auerbach aktuell trotzdem, wie Matthias Bormuth in seiner Einleitung zu Die Narbe des Odysseus. Horizonte der Weltliteratur skizziert, „weltweit im Gespräch“ ist, verdankt sich wohl vor allem der Tatsache, dass Auerbach Mimesis im Exil verfasst hat. Als jüdischer Professor in Deutschland zunehmend in Bedrängnis, ergriff er 1936 die Gelegenheit, den Lehrstuhl des bereits zuvor ausgewanderten Romanisten Leo Spitzer in Istanbul zu übernehmen. Bei Spitzer hatte sich Auerbach mit einer bahnbrechenden Schrift Dante als Dichter der irdischen Welt habilitiert, beide gingen schließlich an Universitäten in die USA, Spitzer an die John Hopkins University, Auerbach nach einigen Zwischenstationen nach Yale.

Sowohl in den USA als auch in der Türkei haben sich Wissenschaftler dieser Exilerfahrung Auerbachs in letzter Zeit verstärkt angenommen, woran auch der exilerfahrene Komparatist palästinensischer Herkunft Edward Said nicht ganz unbeteiligt war. Dabei gelangte Auerbach sowohl in den Blickpunkt von Forschungen, die die grundsätzliche Bedeutung von Exil und Migration für die Disziplin der Komparatistik hervorhoben, als auch mitten in die Debatten um Weltliteratur und Eurozentrismus.

Diesem ausufernden Forschungsfeld kann sich Matthias Bormuths Einleitung naturgemäß nicht widmen, interessant ist aber, dass er mit Kader Konuk auf eine Studie verweist, die den „Entstehungsmythos“ von Mimesis „entzaubern“ möchte, womit zunächst einmal vor allem eine solide Archivarbeit gemeint ist, die die konkreten Arbeitsbedingungen Auerbachs in Istanbul nachzuzeichnen versucht, wo Auerbach in den Jahren der Kooperation der Türkei mit dem NS-Regime abermals mit dessen Verwaltung konfrontiert war.

Eine solche am Material ausgerichtete Herangehensweise prägt auch Matthias Bormuths Bemühungen um Auerbach, der sich in Die Narbe des Odysseus. Horizonte der Weltliteratur jeder verallgemeinernden Deutung von Auerbachs Exil entzieht. Stattdessen bietet er dem Leser eine Auswahl an Briefen, die Auerbach aus Marburg, Istanbul, aber auch später aus den USA an Freunde und Kollegen schreibt, die nahezu alle Deutschland hatten verlassen müssen oder dort als Regimegegner nur mühsam überlebten: Walter Benjamin, Paul und Otti Binswanger, Siegfried Kracauer, Thomas Mann, Traugott Fuchs, Fritz Saxl, Erwin Panofsky, Victor Klemperer, Werner Krauss, Karl Vossler, Martin Buber. Bormuth gelingt es dabei, in seinen Kurzeinleitungen zu den Briefen die jeweils ganz individuelle Situation der Adressaten zu beleuchten sowie in wenigen Sätzen deren Verhältnis zu Auerbach zu schildern. Der Leser erhält so hilfreiche Orientierung und sicher auch Anregung, den ein oder anderen Faden von Auerbachs Korrespondenz weiterzuverfolgen, wozu der Band die nötigen Hinweise liefert, sind doch nahezu alle Briefe aus bereits erschienenen größeren und kleineren Sammlungen von Auerbachs Korrespondenz entnommen.

Ohne eine solche Perspektive dem Leser aufzuzwingen, bietet die Auswahl und Zusammenschau der Briefe durch Bormuth einen wertvollen Einblick in das, was Exil bedeuten kann. Das Entwürdigende daran, unverschuldet zum Bittsteller werden zu müssen, ist dabei eine Facette, eine andere die Einsicht in die Fragilität sozialer Ordnungen. Zwar befinde sich Auerbach in Marburg (dort hatte er den Lehrstuhl für Romanistik inne), wie er an Benjamin schreibt, durchaus inmitten von Menschen, die so denken wie er, doch sei es eine „Torheit“ zu glauben, „daß das etwas sei, worauf man bauen könne – während es doch auf die Meinung des einzelnen, und wären es noch so viele, gar nicht ankommt.“

Aus solchen Sätzen spricht natürlich Ernüchterung, der allerdings im Falle Auerbachs kein ausgeprägter Hang zu Illusionen vorausgegangen war. Es ist wohl kein Zufall, dass sich Auerbach in seinem epochemachenden Werk Mimesis mit der Wirklichkeitsdarstellung in der abendländischen Literatur beschäftigt hat. Denn selbstverständlich böte die Literatur auch andere Betätigungsfelder, die eher einem Entkommen von Realität zuträglich sind oder sich dieser zumindest sehr viel weniger verpflichtet fühlen, doch diese waren Auerbachs Sache nicht. Selbst Proust wirft er vor, „den Lärm“ der Welt nicht genug zu hören, was an seiner letztlich positiven Bewertung der Recherche, neben der „alle Romane, die man kennt, als Novellen“ erscheinen, jedoch nichts ändert. Mag Proust auch die empirischen Abfolgen durch eine „Epik der Seele“ ersetzen, so gibt er damit einen Wahrheitsanspruch keineswegs auf – „es ist das eigentliche, immer fließende, nie versiegende, stets uns bedrückende und stets uns tragende Pathos des irdischen Verlaufs.“

Diese letzte Formulierung aus Auerbachs Proust-Rezension, welche zu den von Matthias Bormuth ausgewählten Essays gehört, mag zunächst etwas überraschen, steht aber durchaus symptomatisch für Auerbachs Realismuskonzept. Denn wie schon in dem „nüchternen“ Zitat zu den Marburger Verhältnissen angedeutet, gehört zu Auerbachs Verständnis von Wirklichkeit immer auch das „Erleiden“, das nicht überhöht wird, aber bei einer unverklärten Sicht der Dinge unumgänglich ist.

Dass damit keineswegs eine lustfeindliche Haltung gemeint ist, illustriert in hervorragender Weise Auerbachs Montaigne-Essay, mit dem Bormuth die Sammlung beginnt und der so etwas wie ein Kernstück der Publikation darstellt: Denn er enthält bereits den bei Auerbach wiederkehrenden Bezug von Realismus und der „Geschichte Christi“, die sich durch ihre „Einbettung in die Qual der sinnlichen Welt auszeichnet“. Er enthält aber zugleich die für Auerbach zentrale Bedeutung des „Alleinseins“, als Konsequenz der Freiheit. Denn Montaigne, dem Märtyrertum fremd ist, erscheint die Welt nicht als Gefangenschaft, sondern als „Fülle des Lebens“, in der es sich frei zu bewegen gilt. Doch diese Freiheit, so betont Auerbach, enthält kein Gesetz. „Sie verpflichtet niemanden und zu nichts. Sie läßt den Menschen frei, aber allein“.

Ein interessantes Echo findet dieses (zweifelsohne auch auf Auerbach zutreffende) Bild des weltzugewandten, unabhängigen Denkers Montaigne in Auerbachs Essay zu Vergil: In einem fast schon liebevoll zu nennenden Portrait, das sich mit Dantes ‚Portrait‘ Vergils in der Commedia verbindet, attestiert er diesem eine besondere Form der ‚cortesia‘, „einer selbstlosen und ganz autonomen Größe des Herzens, die keinen Lohn erhofft als das eigene Bewußtsein und die Billigung der Guten.“ Nun wirken solche Sätze als Zitat seltsam aus der Zeit gefallen, im Kontext jedoch trägt sie Auerbachs unnachahmlicher Stil, der philologische Nachvollziehbarkeit mit essayistischer Geschmeidigkeit und unaufdringlichem, aber aufrichtigen Mitteilungswillen verknüpft. Besonders angenehm ist dabei, dass Auerbach trotz gewichtiger Themen nie die Fähigkeit zum Humor verliert, so wenn er nach einem Parforceritt durch Vicos Werk, das er gegen religiös allzu unmusikalische Deutungen abgrenzt, bemerkt: „Es war nicht leicht, Vicos tolles Buch auf zwei Seiten zusammenzufassen.“

Diesen stilistischen Qualitäten Auerbachs, die sich nur beim Lesen erschließen und kaum auf einen Begriff zu bringen sind, scheint auch Matthias Bormuth zu vertrauen. Denn seine Publikation ist von großem Purismus geprägt, die Essays werden nur mit Titel, ohne jede kontextualisierende Information präsentiert (Nachweise finden sich im Anhang), so dass der Leser animiert wird, sich direkt in die Lektüre zu stürzen. Wobei nicht unerwähnt bleiben darf, dass die Einleitung zu jedem Essay hilfreiche Informationen bietet, insbesondere aufschlussreiche Details zur persönlichen Situation Auerbachs und seines Umfeldes. Doch bereits in der Einleitung kommt häufig Auerbach zu Wort, womit sie in gewisser Weise dessen Tendenz zur Konkretheit folgt, die bei ihm weniger mit positivistischer Energie denn mit einem Unbehagen an leichtfertiger begrifflicher Abstraktion einhergeht. Ein köstliches Aperçu hierzu findet sich in einem seiner Briefe aus Istanbul, in dem er mit wenigen Sätzen Atatürk charakterisiert. Er wählt dazu den Beginn des Memoirenbuchs Atatürks: „Am 19. Mai landete ich in Samsun. Zu dieser Zeit war die Lage folgende…“ und ist von dieser phrasenlosen Ausdrucksweise, die bekanntlich nicht bei allen Zeitgenossen vorherrschte, schon fast begeistert.

Wie tief Auerbachs Sensibilität für Sprache und deren Einfluss auf das Verhältnis zur Wirklichkeit geht, zeigt nicht zuletzt der für Matthias Bormuths Sammlung titelgebende Essay „Die Narbe des Odysseus“. In diesem Text, der zugleich die Einleitung zu Mimesis bildete, entwickelt Auerbach weitreichende Überlegungen zu Arten von Wirklichkeitsdarstellung in der europäischen Kultur, ausgehend von nur zwei „Szenen“: der Wiedererkennungsszene des Odysseus anhand dessen Narbe bei Homer und der Opferung Isaaks in der Bibel. Dass dieser Essay nicht nur von Altphilologen häufig kritisiert wurde, kann nicht überraschen – selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Auerbachs kritische Haltung gegenüber dem Homerschen Text auch eine implizite Antwort auf nationalsozialistische Instrumentalisierungen der Antike darstellen könnte. Trotzdem sind Auerbachs Ausführungen allemal eine angenehme Alternative zu dem vagen Gerede von Abendland und christlich-antikem Erbe, das derzeit mancherorts abgesehen von Islam-Ablehnung gänzlich ohne Inhalte auszukommen scheint. Von Auerbach lernen hieße in dem Fall vor allem zu lernen, der Versuchung zu widerstehen, „der Fülle des Materials durch hypostasierende Einführung abstrakter Ordnungsbegriffe Herr werden zu wollen, was zur Verwischung des Gegenstandes, zur Diskussion von Scheinproblemen, und schließlich ins bare Nichts führt.“.

Dieser wunderbare Satz steht in Auerbachs Essay Zur Philologie der Weltliteratur, in dem Auerbach die nicht triviale Frage aufwirft, ob Weltliteratur, die sich auf das Menschliche als „wechselseitige Befruchtung des Mannigfaltigen“ bezieht, in einer Zeit zunehmender Homogenisierung der Lebensweisen überhaupt noch möglich ist. Außer dieser nach wie vor relevanten Frage wird auch gerne das Ende des Textes herangezogen. Auerbach zitiert hier den (übrigens in Sachsen geborenen) mittelalterlichen Theologen und Philosophen Hugo von St. Victor, natürlich auf Latein und ohne eine Übersetzung, die Matthias Bormuth aber in den Anmerkungen hinzufügt: „Wem sein Heimatland lieb ist, der ist noch zu verwöhnt; wem jedes Land Heimat ist, der ist schon stark; wem aber die ganze Welt Fremde ist, der ist vollkommen“. Das passt natürlich nicht so recht in den aktuellen Heimatdiskurs, Edward Said und anderen Komparatisten gefiel der Satz aber ungemein. Zumal damit für Auerbach keine Loslösung von der Welt gemeint ist, sondern ein Weg für den, „der die rechte Liebe zur Welt gewinnen will.“ 

Womit wir in gewisser Weise auch wieder beim Realismus und bei Mimesis wären, dessen Lektüre die von Matthias Bormuth gesammelten Essays und Briefe nicht ersetzen können, die sie aber mehr als nur ergänzen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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Erich Auerbach: Die Narbe des Odysseus. Horizonte der Weltliteratur.
Herausgegeben und eingeleitet von Matthias Bormuth.
Berenberg Verlag, Berlin 2017.
176 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334262

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