Immer noch ein Medium der Welterfahrung

Der Sammelband „Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne“ belegt die Wandlungsfähigkeit der Gattung

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Zeitalter des Massentourismus und globaler Migrationsbewegungen könnte sich der Eindruck einstellen, das Reisen sei zu einer trivialen Angelegenheit geworden und seine Verarbeitung zu Literatur daher nur noch eine Marginalie. Ob Reisen als ein anthropologisches Phänomen an sein Ende gekommen sei, diese Frage stellen auch Michaela Holdenried, Alexander Honold und Stefan Hermes an den Beginn des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes zur Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne – und noch vor der Lektüre drängt sich angesichts der weit über 600 Seiten dieses Buches der Eindruck auf, dass davon keine Rede sein kann.

Tatsächlich, so lesen wir in der Einleitung, ist die Klage über das Verschwinden der Reiseerfahrung alt, älter als die Postmoderne. Einen so herausgehobenen Status wie einst mag das Reisen als Mittel der Welterfahrung in der Öffentlichkeit zwar in der Tat nicht mehr haben. Wohl aber erweist sich das inhaltliche und ästhetische Spektrum der Reiseliteratur als äußerst wandlungsfähig, sodass die Gattung sich auch in Moderne und Postmoderne immer wieder erneuert. Im Untersuchungszeitraum von ca. 1914 bis 2014 sind in diesem Sinne bedeutsame Veränderungen der Reisepraktiken zu konstatieren, die es nachzuvollziehen gilt. Nicht umsonst setzt der Band dabei mit der Zäsur des Ersten Weltkriegs ein und fragt nach dem Einfluss der massiven technisierten Gewalt auf das Reisen und auf Reisetexte.

Den Herausgebern geht es um die synoptische Bestandsaufnahme einer Gattung, deren Geschichte in der deutschen Literatur noch nicht geschrieben ist. Zwar sind, wie sie zu Recht anführen, zahlreiche Einzelaspekte von Reiseliteratur untersucht worden, eine „systematische Gesamtschau“ aber stehe noch aus. In Auseinandersetzung mit Peter J. Brenners Standardwerken zum Thema und insbesondere mit seiner These vom „Funktionsverlust des Reisens“ – und das heißt eines dramatischen Abfalls der Reiseliteratur im 20. Jahrhundert aufgrund von Massentourismus und medialer Allgegenwärtigkeit – belegen sie die große Zahl reiseliterarischer Werke von zum Teil kanonischen Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts und kompensieren das Forschungsdefizit hinsichtlich moderner und vor allem postmoderner Reiseliteratur. Statt also von einem Niedergang auszugehen, untersuchen die Beiträge mit Fokus auf deutschsprachigen Werken die „Wechselbeziehungen“ zwischen Reiseliteratur und neuen Reisepraktiken wie Medienformaten, die den innovativen Charakter der Gattung unter Beweis stellen.

Um die Beeinflussungen des Schreibens, die „Vielzahl von Mobilitätsmustern und Schreibverfahren“ angemessen einordnen zu können, ist es jedoch unerlässlich, neben der Verortung in der Literatur- und Kulturwissenschaft auch Ansätze der Ethnologie und anderer Disziplinen zu berücksichtigen. Methodisch ist diese interdisziplinäre Ausrichtung hervorzuheben, weil sie zwar als Absichtserklärung heutzutage selbstverständlich ist, weniger aber in der Durchführung. Erst durch Einbezug unterschiedlicher Disziplinen und Wissensfelder kann zum Beispiel die unterschiedliche Motivation der Reiseliteratur erfasst werden: Ethnographische Erkundungen können sich an der Auseinandersetzung mit fremden Räumen entzünden, aber auch Selbsterfahrung oder der Wunsch nach Darstellung einer globalisierten Existenz, dem Unterwegssein als Grundmodus, kommen hier zum Tragen. Ebenso vielfältig wie die Motivationen sind die Manifestationen der Reiseliteratur, die „textuelle Repräsentationen realer wie fiktiver Reisen“ umfasst: Reisehandbücher und wissenschaftliche Reiseliteratur, aber auch Reisebeschreibungen in Romanen, Erzählungen, Essays und Gedichten. All diese Formen sind epochal zu verbinden durch „veränderte Perzeptionsmuster“ wie durch einen „intrakulturell fokussierte[n] Blick“.

Von besonderem Interesse ist für die Texte der Moderne und Postmoderne die Beobachtung, dass durch die „Dominanz der ästhetischen Überformung des Materials“ die Reise oft aus dem Zentrum an die Ränder der Texte gerückt wird und also „eher den Anlass denn das Ziel der literarischen Reflexion“ darstellt. Insbesondere die „paradoxe Verbindung von nahezu unbeschränkter Mobilität und Stillstand“ erscheine als „irritierendes Merkmal eines globalisierten Nomadentums.“

Der Band umfasst nach der knappen und informativen Einleitung drei Teile mit Beiträgen von Germanisten, Romanisten, Kultur- und Medienwissenschaftlern. Im ersten werden „Reiseformen“ untersucht, darunter Reisen durch den Krieg oder in Diktaturen, Reisetexte von Frauen wie z.B. Pilgerberichte von Autorinnen über den Jakobsweg. Auch reisende Paare (Erna Pinner und Kasimir Edschmid) oder „Post-Touristen“ wie Christian Kracht und Wolfgang Herrndorf kommen in den Blick. Von hoher Relevanz, weil auch heute aktuell, sind in diesem Teil sicher die Überlegungen zum Zusammenhang von Reisepraktiken und technisierter Gewalt.

Der zweite Teil fokussiert „Schreibweisen: Intermedialität und Intertextualität“: Untersucht werden mediale Inszenierungen von Reisen; kartographische und visuelle Konstruktionen: Postkarten und Fotografien bei Rolf Dieter Brinkmann bzw. W.G. Sebald, aber auch Atlanten, postmoderne Theorien auf Reisen (mit Roland Barthes, Jean Baudrillard und Stephen Greenblatt), Wahrnehmungsästhetiken in Wolfgang Büschers Berichten seiner Wanderungen von Berlin nach Moskau oder historische Forschungsreisen in der Gegenwartsliteratur. Wie die kurze Aufzählung deutlich macht, ist dieser Teil in sich besonders divers. Wenn es auch nicht der umfangreichste ist, hätte sich eine weitere Strukturierung hier sicher angeboten; andererseits fällt die Heterogenität dessen, was unter das Stichwort Intermedialität/Intertextualität der Reiseliteratur fällt, auf diese Weise gleich ins Auge.

Der dritte Teil, „Reiseziele“, macht den größten Teil des Bandes aus und widmet sich spezifisch Orten, Städten und Weltregionen, darunter sowohl in der Bearbeitung von Autoren, deren Bedeutung für die Reiseliteratur noch weitgehend unerforscht ist, als auch von einschlägigen Autoren wie Hubert Fichte, dessen Brasilien-Ethnographien Thema eines Beitrags bilden. Analysiert werden beispielsweise Orientreisen in der Klassischen Moderne und konkret bei Hugo Hofmannsthal, Palästina-Ansichten bei Arnold Zweig und Arthur Koestler, Ernst Jünger auf Ceylon, aber auch Topoi und Regionen wie Samoa-Reisen im 20. Jahrhundert – aus der Reihe fällt hier ein sehr grundlegender Beitrag zur „Poetik des Globalen“. Die Anordnung der Beiträge, die auch postkoloniale Fragestellungen berühren, verläuft vom Nächsten (auch die brandenburgische Provinz aus Tschick kann exotisch oder fremd wirken) zum Entfernteren (wozu auch die Analyse des historischen Raumfahrtromans zählen dürfte).

Der Band löst mit dem abgedeckten Spektrum an Reiseliteratur und Schreibweisen den doppelten Anspruch ein, den sich die Herausgeber gestellt haben: Er leistet sowohl in literaturhistorischer als auch in literaturtheoretischer Hinsicht einen Beitrag zur Forschung.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Michaela Holdenried / Alexander Honold / Stefan Hermes (Hg.): Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2017.
682 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783503171293

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