Die Tränen der Kanzlerin

Konstantin Richter entwirft in „Die Kanzlerin“ ein Zerrbild von Angela Merkel

Von Edyta SzymanskaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Edyta Szymanska

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Journalist Konstantin Richter beschreibt in seinem Roman Die Kanzlerin die Geschehnisse in Deutschland zwischen Sommer 2015 und 2016. Die Geschichte beginnt also noch vor Ausbruch der Humanitären Notlage in Europa, für die sich der Begriff „Flüchtlingskrise“ durchgesetzt hat. Den Rahmen für die Erzählung bilden die Opernaufführungen von Richard Wagners Tristan und Isolde im Jahr 2015 und 2016 im Bayreuther Festspielhaus. In Wagners Oper bedeutet die Nacht für die beiden Liebenden die wahre und uneingeschränkte Welt, wohingegen der Tag die äußerliche Welt voller Täuschungen und gesellschaftlicher Zwänge symbolisiert. Und auch die Kanzlerin fällt im Roman alle ihrer Überzeugung entsprechenden Entscheidungen im Schutz der Nacht und muss sie am Tag gegen die ganze Welt verteidigen, die diese Entscheidungen scheinbar nicht nachvollziehen kann.

Richter konzipiert die Figur Angela Merkel zu einer tragikomischen Figur, die mit der Realität nur wenig gemein hat. Sie wird als eine müde und erschöpfte Frau vorgestellt, die auf einmal unter dem Druck einer neuen, bis dahin unbekannten Situation, der Flüchtlingskriese, aufblüht und unter dem Einfluss vom halbtrockenen Riesling teils unüberlegte und spontane Entscheidungen trifft. Was die Figur zuerst sympathisch und nahbar macht, wenn sie sich nach einem schweren Tag ein Glas Wein bis zum Rand eingießt oder wenn sie erschöpft im Auto einschläft, wirkt gegen Ende wie eine überzeichnete Karikatur, selbst für eine erfundene Romanfigur.

Im Laufe der Erzählung drängt sich immer stärker das Gefühl auf, dass der Autor offenbar ein Problem mit Frauen hat, die in einer Machtposition schwerwiegende Entscheidungen treffen und deren Konsequenzen mit Würde ertragen können. So wird die Figur Angela Merkel zu einem kleinen Mädchen degradiert, das beleidigt den Hörer hinwirft, wenn der Gesprächspartner nicht die erwünschten Antworten gibt und schmollend auf dem Sitzsack in der Praxis ihrer Schwester sitzt und mit einem Kuscheltier spielt. Sie entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer bockigen Frau, die zickige Antworten gibt, sich von der Außenwelt abschottet, da sie der Meinung ist, sie wäre ihren männlichen Kollegen an Verstand überlegen und die ihren politischen Partnern anstelle vollständiger Sätze Smileys als Antwort schickt, da sie offenbar keine Lust verspürt, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen.

Den Höhepunkt erreicht diese Form der karikierenden Überzeichnung, wenn der Autor die schluchzende Merkel in die Arme ihres Mannes fallen lässt, damit dieser ihre Welt wieder in Ordnung bringt und ihr bestätigt, dass sie nicht vollständig versagt hat. Von alleine besitzt sie ja offenbar nicht den Intellekt und das Selbstvertrauen, das selbst zu erkennen. Bei solch einem Bild fragt man sich: Soll dieser Schlag nur gegen die Kanzlerin gehen, der mit dieser fiktiven Figur jede Fähigkeit aberkannt wird, selbstständig zwischen richtig und falsch zu unterscheiden? Oder ist der Roman allgemein gegen Frauen gerichtet, die in Richters Darstellung offenbar nicht das Selbstbewusstsein besitzen, auf Dauer ohne männliche Unterstützung auszukommen?

Vielleicht wollte Richter mit dieser Erzählung nur die immer professionell und ernst erscheinende Figur der Angela Merkel auflockern und zeigen, dass auch sie manchmal zweifelt und irrt. Allerdings hätte er diesem Wunsch schon genüge getan, hätte er sich auf die Beschreibung beschränkt, die die erste Hälfte des Romans beherrscht. So hat er aber dieser fiktiven Figur jegliche Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit genommen. Er offenbart und verteidigt die tief in der Gesellschaft verankerte Überzeugung, Frauen wären nicht fähig, ein Amt mit der gleichen Kompetenz auszuüben wie Männer.

Der Roman Die Kanzlerin ist ein netter Zeitvertreib, wenn man die bekannten und tatsächlichen Ereignisse aus einer fiktiven Sicht betrachten möchte. Richters Schreibstill ist flüssig und amüsant und man erkennt unschwer, dass er ein geübter Schreiber ist. Trotzdem ist der Roman mit Vorsicht zu genießen und man sollte während des Lesens nie die Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Fiktion außer Acht lassen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Konstantin Richter: Die Kanzlerin. Eine Fiktion.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2017.
175 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783036957555

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch