Gilgi, kunstseidene Mädchen und andere Frauen zum (Wieder-)Entdecken

Heinrich Detering und Beate Kennedy haben Irmgard Keuns Werke in einer ebenso gediegenen wie preiswerten Gesamtausgabe herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irmgard Keun war gegen Ende der Weimarer Republik eine der meistgelesenen SchriftstellerInnen deutscher Sprache. Doch wie diejenigen so vieler anderer wurden auch ihre Werke von den Nationalsozialisten verboten. Nur wenige AutorInnen hatten allerdings den Mut, dagegen zu klagen, so wie Keun es wagte. Dass dem wenig Erfolg beschieden war, lässt sich leicht denken. Sie war deshalb gezwungen, einige ihrer besten Romane im Exil zu schreiben. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft wurden ihre Texte dann zwar kürzer – sie veröffentlichte mit Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen nur noch einen weiteren Roman –, doch wurden sie keineswegs schlechter. An die früheren Publikumserfolge konnte Keun allerdings nicht wieder anknüpfen. Es sollten vielmehr einige Jahrzehnte vergehen, bevor sie in den 1970er Jahren wiederentdeckt wurde. Zu danken ist das, wie so manch andere Wiederentdeckung auch, der Neuen Frauenbewegung. Denn ihr gehörten nicht zuletzt etliche Literaturwissenschaftlerinnen an.

Seither sind nicht nur zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Sachbücher über Keun und ihr Werk erschienen, auch ihre bekanntesten Romane sowie die eine oder andere Sammlung der Kurzgeschichten, Glossen und Essays dieser vielseitigen Autorin wurden hin und wieder neu aufgelegt. Eine Ausgabe ihres Gesamtwerks aber gab es bislang nicht. Dass sich das nun geändert hat, ist das Verdienst von Heinrich Detering und Beate Kennedy. Vorangestellt haben die beiden HerausgeberInnen Keuns Werken nicht etwa eine eigene erläuternde Einleitung oder eine Einführung, sondern einen ebenso persönlichen wie kenntnisreichen und informativen Essay von Ursula Krechel.

Die Werkausgabe umfasst drei Bände von schlichter Schönheit. Detering und Kennedy haben Keuns Werke sinnvoller Weise nicht etwa nach Textsorten, sondern entsprechend der Chronologie ihres Erscheinens angeordnet. Den ersten Band füllen Keuns Texte aus der Zeit der Weimarer Republik. Das sind im Wesentlichen ihre beiden, man kann sagen, weltberühmten Romane Gilgi, eine von uns und Das kunstseidene Mädchen. Falls das zu hoch gegriffen sein sollte, so hätten sie doch zumindest verdient, es zu sein.

Der zweite Band enthält die in NS-Deutschland und im Exil verfassten Schriften. Neben zahlreichen Kurzgeschichten und – man höre und staune – einigen Gedichten sind das ihre Romane Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften, D-Zug dritter Klasse sowie Kind aller Länder. Und natürlich Nach Mitternacht, der noch immer einer der wichtigsten antifaschistischsten Romane überhaupt ist. Zwei der Gründe hierfür nennt Krechel in ihrem Essay: seine „Hellsichtigkeit“ und sein „radikal entblößter Blick auf den alltäglichen Faschismus“, den Keun bereits 1937 geschärft hatte, zu einer Zeit also, zu der „der Begriff und auch das Bewußtsein des Tatbestandes noch nicht vorhanden waren“.

Der dritte Band bietet neben dem gemeinsam mit Heinrich Böll verfassten Briefwechsel für die Nachwelt und wiederum einigen Gedichten vor allem kleinerer Texte, von denen etliche zwar immer mal wieder neu aufgelegt wurden, die aber doch manche Entdeckung bereithalten – die Kurzgeschichte Nur noch Frauen… etwa. Gerade dieser kleine von Keun als „Fantasie“ ausgewiesene Text ist eine besondere Rarität, folgen die HerausgeberInnen doch dem seither nicht wieder publizierten Erstdruck aus dem Jahr 1947 in der Zeitschrift Die Frau, der 1954 in veränderter Form in Keuns Erzählband Wenn wir alle gut wären aufgenommen und bislang aufgrund dieser rezipiert wurde.

Jedem der drei Bände ist ein umfangreicher Kommentarteil angehängt. Er setzt jeweils mit allgemeinen und eher kurzen Informationen zu den im entsprechenden Band enthaltenen Werken ein. Sodann werden die einzelnen Texte gesondert kommentiert, beginnend mit Informationen zur „Textgrundlage und Entstehung“. Ihnen folgen Erläuterungen etwa zur Struktur und den Themen sowie der Erzählkonzeption und den Rollenschemata des jeweiligen Werks. Darüber hinaus informieren die Kommentare, sofern es sich um einen Roman handelt, über dessen Rezeption. Ein „Stellenkommentar“, in dem Keuns Quellen offengelegt, historische Hintergründe dargelegt oder Abkürzungen, Begriffe und historische Personen erklärt werden, beschließt die Erläuterungen zum jeweiligen Werk. All das geschieht profund, detailliert und verlässlich. Zudem verzeichnet der Stellenkommentar inhaltliche Abweichungen. Im Falle der Kurzgeschichte Nur noch Frauen… etwa diejenigen der späteren Ausgaben gegenüber der Erstveröffentlichung.

Die Interpretationen der HerausgeberInnen kann man nicht in jedem Fall unterschreiben. Die matriarchalische Utopien satirisch aufs Korn nehmende Kurzgeschichte Nur noch Frauen…, in der zahlreiche Geschlechterstereotypen und -klischees auf sehr humorvolle Weise ironisiert werden, muss man nun wahrhaftig nicht unbedingt als „makaber-gespenstische Dystopie“ lesen. Zu monieren bleibt darüber hinaus nur noch die Absenz von Seitenverweisen im Stellenkommentar. Sie hätten der schnellen Orientierung dienen und den Lesenden so Zeit sparen können, die sie ohne diese für das suchende Hin- und Herblättern vertun müssen.

Dieser kleinen Misslichkeit ungeachtet ist die Ausgabe nicht nur Forschenden, sondern auch dem vergnügungssüchtigen Publikum aufs Höchste zu empfehlen. Denn dass die Werke Keuns auch heute noch sehr unterhaltend und amüsant sind, werden alle wissen, die jemals auch nur einen kurzen Blick in einen ihrer Texte geworfen haben. Und dass sie nicht nur in ihrer Kritik des Nationalsozialismus ausgesprochen politisch – und ansonsten auch schon einmal unterschwellig feministisch – sind, macht sie umso lesenswerter. Höchst erfreulich also, dass sie nun allesamt in einer schönen, ja repräsentativen Ausgabe erschienen sind, die überdies zu einem erschwinglichen Preis zu erwerben ist.

Titelbild

Irmgard Keun: Das Werk.
3 Bände. Mit einem Essay von Ursula Krechel. Herausgegeben von Heinrich Detering und Beate Kennedy.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
2044 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835317819

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