Visionär oder Scharlatan?

Zum 200. Geburtstag von Karl Marx legt Jürgen Neffe eine bemerkenswerte Biografie vor

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 5. Mai 2018 jährt sich der Geburtstag von Karl Marx zum 200. Mal. Doch bereits in diesem Herbst gab es ein kleines „Karl-Marx-Jubiläum“: Sein Hauptwerk Das Kapital erschien vor 150 Jahren. Anlässlich dieses Doppeljubiläums gibt es zahlreiche Ausstellungen und Publikationen. Der Biochemiker und Journalist Jürgen Neffe, Autor vielfach ausgezeichneter Biografien über Albert Einstein und Charles Darwin, legt nun eine umfangreiche Biografie über Karl Marx vor, den revolutionären Querkopf und bedeutenden Denker des 19. Jahrhunderts. Auf den knapp 700 Seiten beleuchtet er nicht nur das unstete Leben von Marx, sondern auch dessen Schriften und deren vielfältige Wirkung. In verständlicher Form erklärt Neffe quasi nebenher die philosophischen und ökonomischen Theorien.

Der Autor räumt auch mit den extremen Widersprüchen auf, die die Geschichte der Biografik von Marx kennzeichnen – vom „Realisten“ bis zum „Traumtänzer“, vom „Genie“ bis zum „Scharlatan“. Dabei wird häufig die Umwelt außer Acht gelassen, die Marx stets mit wachem und kritischem Auge registrierte.

Doch wer war dieser Mann mit dem Rauschebart wirklich, auf dessen Lehren sich bis heute kommunistische Staaten in aller Welt berufen? In 34 Kapiteln zeichnet Neffe – auch anhand zahlreicher Zeitzeugenberichte – die Lebensstationen von Karl Marx nach, von Trier über Bonn, Berlin, Köln und Paris und Brüssel bis nach London. Neffe nimmt eine Zäsur und Zweiteilung nach der bürgerlichen Revolution von 1848/49 vor und hält die biografische Zeitmaschine kurz an, um den „multiplen Marx“ in seiner Widersprüchlichkeit vorzustellen, denn es gibt nicht den einen Marx, „sondern eher einen multiplen, menschlich wie fachlich, als hätte da einer tatsächlich ein Doppelleben zwischen Mr. Marx und Dr. Marx geführt“. So sind einige Kapitel dem Privatmenschen Marx gewidmet, zum Beispiel in der Rolle als „Haushälter“, die ihm aus eigener Lebenspraxis die Möglichkeit gab, über das Wesen des Geldes nachzudenken. Marx war ein Mensch aus Fleisch und Blut, der zwar die Verwandlung von Geld in Kapital analysierte, mit Geld aber nicht umgehen konnte. Im Kapitel „Being Jenny Marx“ beleuchtet Neffe die Ehe von Karl und Jenny Marx, vor allem deren entbehrungsreiche Jahre in London, die der „begabten Gattin“ zahlreiche Schicksalsschläge abverlangten.

Neben den Lebensstationen zieht sich die Marxʼsche Gedankenwelt wie ein roter Faden durch die Biografie – von den Frühschriften über die Kritik der politischen Ökonomie bis zur Kapitalismus-Analyse Das Kapital. Für Neffe markiert Das Kapital einen „Meilenstein“ in der Geschichte des abendländischen Denkens, denn es ist gleichzeitig ein philosophisches Buch. Es ist eine der bedeutendsten und umstrittensten Schriften, die je ein Mensch zu Papier gebracht hat – vielleicht vergleichbar mit den Werken von Darwin, Einstein oder Sigmund Freud. Marx beschrieb hier den Kapitalismus in seiner Totalität. Über dieses Buch, das die ökonomischen Bewegungsgesetze enthüllt, wird bis in unsere heutigen Tage heftig diskutiert und gestritten – in verherrlichenden Hymnen und vernichtenden Kritiken. Seine Analyse des Kapitalismus hat sie jedoch alle überlebt. Neffe ist der Ansicht, dass der Kapitalismus unserer Tage in vielem dem Bild gleicht, das Marx vor 150 Jahren vorgezeichnet hat. Selbst die globalisierte Welt bis hin zur Finanzkrise sagte er voraus.

Nicht nur in dem umfangreichen „Kapital“-Kapitel beschreibt der Autor Marx als revolutionären Visionär. Vielfach zeigt er, dass die Marxʼschen Theorien heute noch zutreffend, ja aktueller denn je sind. Dabei sollten wir uns hüten, Marx mit Marxismus gleichzusetzen. Marx selbst hat nie einen Marxismus begründet. Nichts lag ihm ferner, als ein abgeschlossenes System zu schaffen. Und so ist sein gewaltiges Werk keine geschlossene Ideologie, sondern eher eine „gewaltige Baustelle“, die von nachfolgenden Generationen weitergeführt werden sollte.

Komplettiert wird die bemerkenswerte Biografie durch einige historische Abbildungen sowie einen umfangreichen Anhang mit Anmerkungen, Bibliografie und Register. Wem die knapp 700 Seiten allerdings eine zu anstrengende Lektüre sind, der kann sich entspannt zurücklehnen und das gleichnamige Audiobuch aus dem Hörverlag genießen. Auf drei mp3-CDs (Gesamtlaufzeit 25 h 45 min) gibt es eine vollständige Lesung der Biografie. Dem Schauspieler und Sprecher Stefan Wilkening, bekannt unter anderem durch zahlreiche Hörfunk- und Hörbuchproduktionen, gelingt es, mit seiner prägenden und unverkennbaren Stimme die nicht immer leichte Thematik hörbar und damit nachvollziehbar zu machen.

Titelbild

Jürgen Neffe: Marx. Der Unvollendete.
C. Bertelsmann Verlag, München 2017.
656 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783570102732

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Titelbild

Jürgen Neffe: Marx. Der Unvollendete.
Der Hörverlag, München 2017.
3 CDs, 15,95 EUR.
ISBN-13: 9783844528251

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