Der bedeutendste englischsprachige Satiriker

Zum 350. Geburtstag von Jonathan Swift

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der englisch-irische Schriftsteller Jonathan Swift, der am 30. November 1667 geboren wurde, wird bis heute hauptsächlich als Kinderbuchautor gesehen. Bei seinem Namen denkt man unwillkürlich an Gullivers Reisen, an die Abenteuer des Schiffsarztes Lemuel Gulliver in Lilliput und Brobdingnagim, wo die Zwerge und die Riesen wohnen. Und so sind die „Reisen zu etlichen fernen Völkern der Welt“, wie es auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe heißt, viel bekannter als ihr Autor. Mit seinem 1726 erschienenen Reiseroman, der längst zu einem Klassiker der englischen Literatur, ja der Weltliteratur geworden ist, wollte Swift aber nicht zur Kinderunterhaltung beitragen, sondern vielmehr seinen Zeitgenossen, besonders den Engländern, einen Spiegel vorhalten. Swifts realistisch-fantastischer Reisebericht ist eine frühe Form der politischen Satire.

Ähnlich rätselhaft, ja polarisierend wie Gullivers Reisen ist auch die Biografie von Jonathan Swift, die bis heute in vielen Teilen ein Verwirrspiel ist. Hin- und hergerissen zwischen dem katholischen Irland und dem protestantischen England ist seine Lebensgeschichte auch ein Abbild der englischen Vorherrschaft und Unterdrückung, die immer wieder zu wirtschaftlichen und religiösen Konflikten führte. Am 30. November 1667 in Dublin als Sohn einer Engländerin geboren – der Vater verstarb vor seiner Geburt –, verbrachte der kleine Jonathan die ersten fünf Jahre mit einem Kindermädchen in England. Nach seiner Rückkehr wuchs der Halbwaise bei Verwandten auf. Diese kindlichen Erfahren scheinen seinen stolzen und störrischen Charakter geprägt zu haben. 1682 nahm er – auf Wunsch eines Onkels – in Dublin ein Theologiestudium auf, das er jedoch ohne besonderen Glanz absolvierte. Nach seinem Studium fand Swift eine Anstellung als Sekretär beim englischen Lord Sir William Temple, einem Freund der Familie und Diplomaten in Ruhestand, der auf seinem Landsitz Moorpark in Surrey lebte. Mit dessen Unterstützung konnte er seine akademische Ausbildung in Oxford weiterverfolgen und sich mit der englischen Politik vertraut machen. Nach Zerwürfnissen mit seinem Dienstherren kehrte Swift jedoch nach Irland zurück und fasste hier den Entschluss, sich in der anglikanischen Kirche zum Priester ordinieren zu lassen. 1694 fand er eine Stelle als Dorfpfarrer in Kilroot, die er jedoch nach einem Jahr bereits wieder aufgab, um nach Moorpark zurückzukehren. Sir William Temple hatte ihm ein zweites Angebot gemacht.

In den folgenden Jahren (Sir William Temple starb im Januar 1699) konnte Swift seiner Liebe zur Literatur nachgehen und es entstanden erste literarische Arbeiten, A Tale of a Tub (dt. Ein Tonnenmärchen) und The Battle of the Books (dt. Die Bücherschlacht), die aber erst 1704 im Druck erschienen. Mit Esther Johnson, der unehelichen Tochter Sir Temples, von ihm stets als „Stella“ in seinen literarischen Werken verehrt, verband Swift lebenslang eine tiefe Freundschaft, sodass er sich später in St. Patrick neben ihr bestatten ließ. War sie die Liebe seines Lebens? Es soll sogar 1716 zu einer geheim gebliebenen Eheverbindung gekommen sein. Neben seiner Beziehung zu Esther Johnson hatte Swift aber über elf Jahre noch eine heimliche Affäre mit der von ihm „Vanessa“ genannten Esther Vanhomrigh (eine weitere Esther), die nichts von Stella wusste. Sie starb 1723, kurz nachdem ihr Swift die Doppelbeziehung gebeichtet hatte. Ob an gebrochenem Herzen? Ein weiteres Geheimnis in seiner Biografie.

Nach dem Tode Sir William Temples ging Swift mit dem Theologen und Philosophen Earl of Berkeley als Hauskaplan nach Dublin zurück, wo er 1702 am Trinity College promovierte. Swift wechselte wieder nach England, wo er sich der Politik widmete. Zunächst unterstützte er die liberalen Whigs; als diese jedoch 1710 gestürzt wurden, schloss er sich den konservativen Tories an. Seine politischen Freunde konnten ihm jedoch keinen Bischofssitz verschaffen. Schuld daran war Swift zu einem großen Teil aber selbst, denn mit seinen scharfzüngigen Satiren – vor allem gegen die Kirche – verbaute er sich die Beförderung zu einer hohen geistlichen Würde. Anstelle einer vielversprechenden Karriere im Umkreis des Londoner Hofes blieb ihm nur der Posten des Dekans von St. Patrick’s Cathedral im provinziellen Dublin. Welche Zurücksetzung!

Über das folgende Jahrzehnt ist wenig bekannt; Swift schien, angeekelt vom Undank der Großen, als „armer Dekan“ in Dublin still dahingelebt zu haben. Als das englische Parlament 1723 in Irland ein neues, ziemlich wertloses Kupfergeld einführte, erwachte wieder der Satiriker in Swift. In seinen anonymen The Drapier’s Letters (dt. Briefe des Tuchhändlers W.B. in Dublin) geißelte er die englische Geldprägepolitik und das „unverschämte Plundergeld“. Im vierten Brief wandte er sich sogar an „das ganze Volk von Irland“ und erzielte damit eine ungeheure Wirkung. Das ganze Land geriet in fiebrige Erregung. Der Drucker wurde ins Gefängnis geworfen und Swift selbst geächtet. Die englische Regierung lobte sogar eine Belohnung von dreihundert Pfund für denjenigen aus, der den Autor ausfindig machte. Obwohl jeder wusste, wer der Verfasser war, wurde er nicht verraten. Gern erzählte man auch die Geschichte, dass der Premierminister Robert Walpone, als er Swift schließlich verhaften wollte, von einem klugen Freund gefragt wurde, ob er denn 10.000 Soldaten hätte, um den Beamten bei der Befehlsausführung zu begleiten.

Durch diesen Erfolg geriet Swift kurzzeitig in die Rolle des volkstümlichen Patrioten, was ihm neuen literarischen Ansporn verlieh. In den nächsten Jahren schrieb er das Werk, das ihn später zum Weltruhm verhelfen sollte: Gulliverʼs Travels (dt. Gullivers Reisen), die 1726 erschienen. Die Idee dazu entstand wahrscheinlich bereits in den Jahren 1715 bis 1720, als sich Swift verbittert aus dem politischen Leben zurückgezogen und wenig veröffentlicht hatte. Aus Briefen geht hervor, dass die vier „Gulliver“-Bücher in der Reihenfolge I, II (1721–23), IV (1723) und III (1724) entstanden sind. Aufgrund seiner schlechten Erfahrung mit den Behörden war Swift darauf bedacht, nicht als Autor zu erscheinen. So erschien Gulliverʼs travels zunächst anonym. Der Erfolg war überwältigend und die Erstauflage binnen einer Woche verkauft.

Reiseliteratur gab es damals zuhauf, aber Satire in Form eines fiktiven Reiseberichtes war etwas gänzlich Neues. Durch detaillierte Einzelheiten, zum Beispiel bei den geografischen und nautischen Angaben, versuchte Swift, dem Leser exakte Wirklichkeitsbeschreibung vorzugaukeln, wobei ihm die gesellschaftlichen Zustände im England des 18. Jahrhunderts Modell standen. Auf seinen beiden ersten Reisen verschlägt es Gulliver nach Lilliput (A Voyage to Lilliput), wo er den wichtigtuerischen Zwergen begegnet, und dann zu den recht einfältigen Riesen (A Voyage to Brobdingnag). Grotesk kritisiert Swift hier, wie die Akzeptanz eines Menschen von seiner körperlichen Größe abhängt.

Diese beiden Reiseschilderungen kennt jedes Kind, während Gullivers dritte und vierte Reise ziemlich unbekannt sind und in Veröffentlichungen lange Zeit unterschlagen wurden. In A Voyage to Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib, and Japan verschlägt es Gulliver auf die fliegende Insel Laputa, wo er die Gelegenheit hat, sich mit einigen Größen der Antike zu unterhalten. Hier leben auch völlig vergeistigte Wissenschaftler, die regelmäßig mit Schlägen an die einfachsten Dinge erinnert werden müssen. Viele sahen darin eine Kritik an dem modernen Wissenschaftsverständnis und der gerade gegründeten Royal Academy. Auf seiner letzten Reise A Voyage to the Country of the Houyhnhnms gelangt Gulliver in das Land der „Houyhnhnms“, wo er schließlich seine Vision einer besseren Welt verwirklicht sieht. Den edlen und sprachbegabten Pferden, ausgestattet mit großer Vernunft und hoher Moral, gehört zunächst Gullivers ganze Bewunderung. Ihre Welt aber ist eine der Logik, die keine Liebe und Zärtlichkeit kennt. Außerdem halten sie sich menschenähnliche Geschöpfe, die einfältigen Yahoos, die die schwere Arbeit verrichten müssen. Nachdem die Houyhnhnms bemerken, dass auch Gulliver ein ganz gewöhnlicher Yahoo ist, wird er von ihrer Insel verbannt. Zurückgekehrt nach England, sind ihm Freunde und Familie völlig fremd. Er, der selbst gern ein Houyhnhnm wäre, entdeckt an sich die verruchte Yahoo-Natur. Mit der utopischen Idealgesellschaft der Houyhnhnms ging es Swift jedoch nicht um eine Rückkehr zu den menschlichen Anfängen, sondern um eine Rückbesinnung auf vernünftiges Handeln.

Beim genauen Hinsehen steigert sich die Ironie von Reise zu Reise. Ist der Aufenthalt in Lilliput noch drollig beschrieben, so werden die Schilderung der weiteren Reiseziele und die Darstellung der menschlichen Torheiten immer rigoroser, aber auch komplexer. Obwohl Gullivers Reisen in fantasievolle Fernen führten, steckte das Buch voller zeitgenössischer Bezüge. So wird angenommen, dass sich hinter dem Kaiser von Lilliput, der mit absoluter Machtfülle herrscht, ein entlarvendes Porträt von Georg I. verbirgt. Am Hof von Lilliput gibt es Intrigen und Kämpfe wie am englischen Hof, eben nur im verkleinerten Maßstab. Mit seinen satirischen Seitenhieben zielte Swift also auf die damaligen politischen und sozialen Missstände in England. In kirchlichen Kreisen stieß besonders das vierte Buch auf schroffe Kritik. Man verurteilte es als das Werk „eines seelisch und geistig Kranken“. So wurde vor allem im viktorianischen Zeitalter an Gullivers Reisen so lange herumgekürzt und verändert, bis man sie als gemäßigtes und häufig illustriertes Märchenbuch in Kinderhände geben konnte. Die satirische Abrechnung fiel dieser Abmilderung, besser gesagt einer Verstümmelung zum Opfer. Nach zahllosen geglätteten „Bearbeitungen“ erschien der Originaltext, wie ihn Swift verfasst hatte, in England erst wieder 1905. Vier Jahre später erfolgte eine deutsche Übersetzung des vollständigen Textes; es war überhaupt die erste vollständige Übersetzung nach knapp 200 Jahren.

Doch zurück zu Jonathan Swift, der 1727 noch einmal versuchte, in London eine politische Stellung zu erlangen. Als der Versuch missglückte und seine geliebte Stella im Januar 1728 starb, verschärfte sich nicht nur sein literarischer Ton, auch sein Leben verdüsterte sich zunehmend. Das Ergebnis waren grobe Schmähschriften, darunter seine schärfste Satire A Modest Proposal (1629, der komplette Titel auf Deutsch lautet: Ein bescheidener Vorschlag: Um zu verhindern, dass die Kinder der Armen in Irland ihren Eltern oder dem Staat zur Last fallen, und um sie nutzbringend für die Allgemeinheit zu verwenden). Swifts Vorschlag in dem Pamphlet, irische Babys als Nahrungsmittel zu verwenden, wird ihm bis heute angelastet, obwohl er mit diesem Sarkasmus nur den frühen Kapitalismus anprangern wollte, der den Menschen lediglich als Ressource betrachtet. Oder sollte man bei Swifts Zynismus an den illegalen Organhandel von heute denken?

In den 1730er Jahren zog sich der Autor immer mehr zurück, er beschäftigte sich nur noch mit älteren Projekten. Immerhin wurden 1735 noch seine Gesammelten Werke in vier Bänden veröffentlicht. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich jedoch zunehmend, er litt unter Taubheit und Schwindel. 1742 fiel er schließlich in geistige Umnachtung, sodass man ihn entmündigte. Die letzten Jahre seines Lebens soll er kaum noch gesprochen haben. Swift starb am 19. Oktober 1745 in Dublin im Alter von 78 Jahren. Zuvor hatte er testamentarisch bestimmt, dass sein nicht unbeträchtliches Vermögen für den Bau eines „Irrenhauses“ verwendet wird. Das „St. Patrick’s Hospital“ (auch „Swifts Hospital“ genannt) war nicht nur das erste „Irrenhaus“ in Irland, sondern für lange Zeit auch das einzige.

Pünktlich zu seinem 350. Geburtstag ist in der Manesse Bibliothek sein bekanntestes Werk Gullivers Reisen in einer Jubiläumsausgabe in der kongenialen Übersetzung von Christa Schuenke (aus dem Jahr 2006) erschienen. Sie enthält natürlich alle vier Reiseberichte, die es dem deutschen Leser ermöglichen, neben der fantastischen Abenteuergeschichte Swift als Meister der Ironie kennenzulernen. Komplettiert wird die kommentierte Ausgabe durch ein Nachwort des Anglisten und Literaturhistorikers Dieter Mehl, in dem er die „satirische Botschaft Gullivers“ und Swifts Gesellschaftskritik näher beleuchtet.

Wem das mehrere hundert Seiten starke Original zu umfangreich ist, dem sei die Nacherzählung des israelisch-österreichischen Schriftstellers Doron Rabinovici empfohlen, der die wichtigsten Teile ausgewählt hat und dabei immer noch Swifts Gesellschaftskritik durchschimmern lässt. Ausgestattet mit ganzseitigen und farbenfrohen Illustrationen aus der Feder des deutschen Zeichners und Cartoonisten Flix (Felix Görmann) hat man zudem einen prachtvollen Insel-Band zur Hand.

Titelbild

Jonathan Swift: Gullivers Reisen. Nacherzählt von Doron Rabinovici. Illustriert von Flix.
Insel Verlag, Berlin 2017.
144 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783458200260

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jonathan Swift: Gullivers Reisen.
Mit einem Nachwort von Dieter Mehl.
Aus dem Englischen übersetzt von Crista Schuenke.
Manesse Verlag, München 2017.
704 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783717520788

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch