Über eine zu wenig beachtete Quellengattung

Konzeptionelle Überlegungen zur Edition von Rechnungen und Amtsbüchern

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie andere historiographische Disziplinen erschließt auch die Mediävistik immer neue Quellengattungen oder findet neue Methoden zur Nutzung bekannter Bestände. Verdienstvoll ist in diesem Zusammenhang ein kürzlich bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienener Sammelband, der unter Federführung des in Hamburg lehrenden Mittelalterhistorikers Jürgen Sarnowsky entstand.

In sieben kurzen Aufsätzen werden Möglichkeiten, Grenzen und Nutzen der Edition von Rechnungen und Amtsbüchern des Spätmittelalters ausgelotet.

Einig scheinen alle Autoren in der Frage, ob neben digitalen Ausgaben weiterhin gedruckte Editionen sinnvoll sind. Sie befürworten dies uneingeschränkt, da ihnen Bücher im Sinne einer Langzeitarchivierung unverzichtbar erscheinen. Ein Beiträger, Carsten Jahnke, bietet hierfür ein sehr präzises und anschauliches Beispiel. So seien Stuart Janks „Die mittelalterlichen Schraen des hansischen Kontors in Novgorod“ aus dem Jahre 2005 heute ohne Zusatzprogramme auf modernen Applerechnern nicht mehr lesbar.

Sarnowskys Sammelband wird eröffnet durch einen Beitrag des Grazer Historikers Georg Vogeler. The Content of Accounts and Registers in their Digital Edition präsentiert in hervorragender Weise neben Möglichkeiten der Erschließung bekannten Quellenmaterials durch die Verwendung von Semantic Web auch dessen Nutzen bei der Erfassung bislang weniger bekannter Bestände. Er führt diese unter anderen an den von Susanna Burghartz 2015 online edierten Jahresrechnungen der Stadt Basel (1535-1610) vor. Weiteren wichtigen Editionen, wie der Erfassung des Donauhandels oder der Handelsregister des 17. und 18. Jahrhunderts sowie der dänischen Sundzollregister der Jahre 1497 bis 1857 bietet die Software umfassende technologische Möglichkeiten zur Neuinterpretation. Carsten Jahnkes anschließender Beitrag zur Edition der hamburgischen Pfundgeldlisten enthält bemerkenswerte Darlegungen, die über die von ihm gewählte Quelle, ja, eigentlich über den Rahmen der Mediävistik deutlich hinausreichen. Seine editorischen Überlegungen verdeutlichen die interpretatorische Verengung, die in Folge der Drucklegung zu erwarten steht. Wird eine mittelalterliche Rechnung erfasst, so stelle beispielsweise die Einführung von Zwischenräumen ein modernes Ordnungsprinzip dar, das im Original nur teilweise vorhanden sei. Auch die Einfügung von Datumsangaben in die Kopfzeile der Edition bildet ein derartiges modernes Ordnungsprinzip, das den Quellen so nicht innewohnt. Für jede Edition bilden Lesbarkeit, Nutzbarkeit und editorische Genauigkeit eine Nagelprobe. Hinzu kommen sprachliche Probleme. Es ist wichtig zu verdeutlichen, so Jahnke, dass „jede Edition auch zu einem gewissen Teil Interpretation ist“. Jahnke zeigt dies an der Abkürzung „br.ber“, die nach langer Recherche als „brouwelse beres“ entschlüsselt wurde, ein „(hoffentlich richtiger) Sekundärschluss“ wie Jahnke schreibt. Die Übertragung in originaler Orthographie erschwere zusätzlich die Suche, ja lasse sie bisweilen unmöglich erscheinen. Abschließend diskutiert Jahnke wesentliche Probleme moderner Editionen. Eine Gefahr bestehe in dem Glauben, das Material erlaube grundlegende quantitative Aussagen. Jahnke drückt dies anders, im Grunde missverständlich aus, indem er schreibt: „die wesentliche Gefahr ist der Eindruck der Vollständigkeit“. Auch bleibe die Frage, was Einträge eigentlich bedeuteten, etwa wenn ein Schiff nach England fahre und dies so verzeichnet sei, heiße dies noch lange nicht, dass es dort auch angekommen sei. Mithin werde keine Aussage über den direkten Warenaustausch zwischen Hamburg und England getroffen.

Gudrun Glebas Ausführungen Die Ordnung im Kopf des Schreibers-Textbildgestalt als Teilaspekt der Edition mittelalterlicher Rechnungsbücher knüpfen unmittelbar an Jahnkes Gedankenführung an. Gleba problematisiert, ähnlich wie Jahnke, die Vereinheitlichung der Textgestalt, die auch andere Editoren als „defizitär“ ansähen. Konkret geht für den Nutzer die Möglichkeit verloren „Entstehungsprozesse, Temporalität und Arbeitstechniken“ der Quelle nachzuvollziehen.

Gleba zeigt die Unverzichtbarkeit der Einsichtnahme in das ursprüngliche Schriftbild, auch wenn eine gedruckte Edition vorliegt und bricht so wiederum eine Lanze für digitale Editionen des Originals.

Als der Hansische Geschichtsverein auf seiner Pfingsttagung 2013 den zweiten Band der von Michail P. Lesnikov und Walter Stark herausgegebenen Handelsbücher des hansischen Kaufmanns

Hildebrand Veckinghusens präsentierte, war auf eine vierzigjährige mit vielerlei Schwierigkeiten verbundene Editionsgeschichte zurückzublicken. Dass die Präsentation in Wismar stattfand, gereichte der mecklenburgischen Stadt zu Ehre, war doch ihr bekannter Stadtarchivar Friedrich Techen an der Veckinghusen-Forschung, wenn auch nur in bescheidenem Maße, beteiligt. Albrecht Cordes, nicht zuletzt durch seine Habilitation bestens mit dem Gegenstand vertraut, möchte mit seinem Beitrag Die Veckinghusen-Quellen und ihre weitere Erforschung. Ein faszinierendes und sperriges Stück Kaufmannsgeschichte erklärter Maßen drei wesentliche Ziele erreichen: die Forschung zur weiteren Beschäftigung mit den Veckinghusenpapieren auffordern, die Nachlässe beteiligter Historiker, vor allem des sowjetischen Forschers Lesnikov zu erschließen und schließlich die Einrichtung eines virtuellen Veckinghusenarchives anzuregen. Hinzu kommt, und dies wird von Cordes nicht einleitend erwähnt, den Weg zur weiteren Recherche nach Dokumenten aus dem Veckinghusennachlass in Brügge und anderen Städten zu bereiten. Sowohl im Falle der Nachforschungen nach hinterlassenen Papieren des Kaufmannes und der früheren Editoren als auch bezüglich der Errichtung eines virtuellen Archivs hat Cordes einige Anstrengungen unternommen und mit sichtbarem Erfolg ins Werk gesetzt. Cordes geht zunächst auf den Weg der Veckinghusenforschung und die Editionsgeschichte ein, setzt sich sodann mit den einzelnen Abschnitten der 2013 erschienen Edition anhand der dazugehörigen Rezensionen auseinander und führt schließlich Ideen zur erweiterten Forschung aus. Verdienstvoll ist hierbei die Achtung vor der wissenschaftlichen Leistung der akribischen Rezensenten, die den einen oder anderen Übertragungsfehler revidieren konnten, beziehungsweise neue Lesarten ins Spiel brachten. Zudem verweist Cordes wiederholt auf den Wert des familiären Beziehungsgeflechtes innerhalb der Veckinghusen, die durchaus für die Forschung relevant sein könnte. Konkret wünscht Cordes der Witwe Veckinghusens mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Interessant ist auch die wissenschaftshistorische Darstellung der Editionsgeschichte. Der Nachlass Veckinghusen befand sich größtenteils in Tallinn/Reval und wurde erst im Krieg durch das Amt Rosenberg nach Westdeutschland gebracht. Lesnikov war so genötigt, die zunächst auf Fotokopien übertragenen Manuskripte im Westen zu prüfen. Sie wurden eigens zu diesem Zweck nach Westberlin verbracht. Lesnikov passierte täglich die Grenze. Nach seinem Tode bot der Sohn der hansischen Sektion in der DDR den Nachlass seines Vaters an, wurde jedoch durch die sowjetischen Behörden gezwungen, sein Angebot zurückzuziehen. Wo sich der für die weitere Forschung sehr wichtige Nachlass derzeit befindet, ist ungewiss.

Cordula A. Franzke und Joachim Laczny setzen den Beitragsreigen mit Digital Humanities und die Edition von Amtsbüchern-Die Verwaltungstätigkeit des Deutschen Ordens im ländlichen Raum Preußens fort. Die Statuten des Deutschen Ordens verpflichteten lokale Amtspersonen zur Verschriftlichung ökonomischen Handelns. In den Jahren 2012 bis 2016 wurden die Ordensfolianten 186 und 186a ediert. 2015 erschienen diese Amtsbücher des Erwin Hug von Heiligenberg von Seehesten und jenes aus der Komturei Schönsee (Kulmer Land), die dem Vogt Georg von Egloffstein unterstand, in gedruckter Form. Franzke und Lacny diskutieren vor allem die Möglichkeit einer hybriden digitalen Edition, die neben dem Originaltext die Verknüpfung mit historisch-geographischen Daten bietet.

Sarnowskys Band wird abgeschlossen durch Konzeptionelle Überlegungen zur digitalen Edition der Augsburger Baumeisterbücher von Simone Würz.

Der Rezensent hat nicht viel zu bemängeln. Um den Anspruch des kritischen Gutachters zu wahren, verweist er abschließend auf einige Lappalien. Sätze wie der folgende wären künftig vor ihrer Drucklegung näher zu überdenken: „Die Originale dieser Rechnungen entsprechen dem typischen Aufbau, wie er für so viele Rechnungsbücher typisch ist“. Zudem wäre auf einheitliche Schreibweise von Eigennamen zu achten (Lesnikov/Lesnikow), und auch, wenn Abkürzungen bekannt zu sein scheinen, sollte bei Quellenbeständen die Archivsignatur zumindest bei Erstverwendung vollständig genannt werden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Jürgen Sarnowsky (Hg.): Konzeptionelle Überlegungen zur Edition von Rechnungen und Amtsbüchern des späten Mittelalters.
Mit 19 Abbildungen.
V&R unipress, Göttingen 2016.
117 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783847106777

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