Behinderung, alternative Lebensformen und Sexualität

Deutschsprachig

Von Saskia GrünenthalRSS-Newsfeed neuer Artikel von Saskia Grünenthal und Tina HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tina Hartmann

Einen weiteren Diversitätsaspekt in Kinderbüchern stellt das Thema Behinderung dar. Im Folgenden werden die Bücher Sei nett zu Eddie von Virginia Fleming und Floyd Cooper (Lappan 2006) und Planet Willi von Birte Müller (Klett, 2012) gegenübergestellt, die beide auf unterschiedliche Weise das Zusammenleben und den Umgang mit einem Kind mit Down-Syndrom thematisieren. Sei nett zu Eddie erzählt die Geschichte der Nachbarskinder Christina, Robert und Eddie, die einen Nachmittag miteinander am See verbringen. Robert möchte allerdings nur mit Christina spielen, da Eddie durch das Down-Syndrom manchmal etwas langsam, unbeholfen und tapsig ist. Nachdem Robert ihn bei einem gemeinsamen Ausflug mit Worten verletzt, rennt Eddie in den Wald. Christina folgt Eddie und findet ihn an einem kleinen See, wo er ihr Seerosen zeigt. Sie schauen gemeinsam in das Wasser und sehen ihr verzerrtes Spiegelbild, woraufhin Eddie Christina beruhigend sagt, dass er sie trotzdem mag. Danach gehen sie glücklich nach Hause.

Das Buch ist monothematisch auf die Inklusion des miteinander Spielens gerichtet. Christina übernimmt die Rolle des Kindes, das sich auf Eddie und seine Wahrnehmung der Welt einlässt und erkennt, dass man mit ihm die schönen kleinen Dinge der Welt erkennt. Zugleich werden in dem – fotorealistisch Eddies Physiognomie ausstellend illustrierten – Buch kindliche Schuldgefühle geschürt, wenn sie ein anderes nicht oder nur wenig mitspielen lassen und es ausgrenzen.

Ganz anders stellt das (auto)biographische Buch Planet Willi das Leben von Willi vor, der ebenfalls mit Down-Syndrom geboren wurde. Das Buch beginnt mit dem Kapitel „Willi kommt auf die Welt“ und stellt direkt klar „Willi kommt von einem anderen Planeten. Als seine Mama schwanger war, wusste sie nicht, dass sie einen kleinen Außerirdischen in ihrem Bauch hatte.“[1] Mit der Metapher vom fremden Planeten erklärt das Buch, wie und warum sich Willi anders verhält als andere Kinder. Dabei werden auf einer Doppelseite je eine Situation durch einen Text und ein Bild gezeigt und erklärt (z.B.: „Willi und die Musik“, „Willis Schwester“, „Willis Zunge“). Auch dieses Buch ist monothematisch, allerdings thematisiert es Konflikte als den Zusammenstoß zweier Normsysteme und löst die Die Wir-Ihr-Dichotomie dahingehend auf, als Willis Verhalten auf dieser Welt seltsam erscheint, in seiner Welt jedoch vollkommen logisch ist. Im Gegensatz dazu wird die Wir-Ihr-Dichotomie im Buch Sei nett zu Eddie nicht aufgelöst, sondern die Trennung zwischen dem Kind mit und einer Gesellschaft ohne Down-Syndrom gefestigt.

Relativ zahlreiche Kinderbücher behandeln Trennung, Scheidung und neue Beziehungen der Eltern. Wir sind immer für dich da – Wenn Mama und Papa sich trennen (Grundmann/Schulze, 2010), Ich hab euch beide lieb! Wenn Eltern sich getrennt haben von Claire Masurel und Kady MacDonald Dentor (Brunnen, 2001), und Moritz heißt noch immer Meier – Die Geschichte von Mamas neuem Freund von Corinna Giesler und Stefanie Scharnberg (Heinrich Ellermann, 2002), gehen nach sich wiederholendem monothematischem Aufbau vor, mit der Botschaft, dass die Eltern sich nicht mehr verstehen, das Kind aber nichts dafür kann und beide Elternteile das Kind – trotz Trennung und neuem Partner oder neuer Partnerin – lieben. Auffällig ist, dass das Kind danach immer bei der Mutter lebt und nur das Wochenende beim Vater verbringt.

Nur wenige Bücher zeigen das Aufwachsen ohne Eltern. Darauf macht auch die Autorin Barbara Lütgen-Wienand im Vorwort ihres Buches Hugo allein auf dem Feld (Monsenstein und Vannerdat, 2011) aufmerksam. Inhaltlich geht es um eine Hasen-Mutter, die die kleine Feldmaus Hugo bei sich und ihrer Hasenfamilie aufnimmt, nachdem ihn seine leibliche Mutter auf dem Feld zurücklassen musste. Das Buch ist polythematisch, da es mehrere Konflikte thematisiert, darunter Verlust und Verlustangst, Andersartigkeit, Fremdheit, Nichtdazugehörigkeit und Herkunft. Es soll die Ängste, Sorgen, Aggressionen und innere Ausgrenzung von Kindern, die nicht bei den leiblichen Eltern aufwachsen können, thematisieren, damit die Kinder ihre negativen Gedanken besser zulassen, artikulieren, ordnen und verstehen können und richtet sich damit direkt an betroffene Kinder.[2]

Homosexualität ist vorrangig eine Lebensform und damit als soziale Interaktion angelegt, auch wenn die Veranlagung dazu ein physisches Diversitätsmerkmal ist. Alle Kinderbücher des deutschsprachigen Marktes fokussieren Homosexualität als Lebensform. Papas Freund von Michael Willhoite zeichnet ein konfliktloses Bild des schwulen Vaters. Die Mutter hat Verständnis, der Junge mag den Freund des Vaters, der mit ihm spielt und mit dem Vater eine gleichberechtigte Beziehung führt. Alle sind glücklich, denn „die Liebe ist die schönste Art, glücklich zu sein“[3]. Dass die Mutter immer alleine und beim Kochen gezeigt wird, mag aber dem Fokus geschuldet sein und dem frühen Erscheinungsdatum des Buches. Es erschien 1994 (im Magnus-Verlag, einem Pionier-Verlag für schwule Literatur und Zeitschriften) und damit bereits im Jahr, als der § 175 abgeschafft wurde, der Homosexualität offiziell unter Strafe gestellt hatte; Homosexualität sich also erst vom Status einer Perversion und Straftat emanzipierte.

Die meisten später erschienenen Publikationen behandeln neben der Homosexualität noch ein weiteres Thema. König und König von Linda de Haan und Stern Nijland (Gerstenberg, erstmals 2000) thematisiert das Coming out eines Prinzen, richtet sich damit auch an nicht direkt oder familiär betroffene Kinder und greift zudem mit dem Märchen auf den Kindern vertraute Muster zurück, die zugleich frappiert werden und auch Erwachsene ‚bezaubern‘ können. Ausgrenzung auf Grund der sexuellen Orientierung wird nicht thematisiert und das Buch endet mit der Traumhochzeit von Prinz und Prinz. Doch wie bei Papas Freund generiert der Fokus Stereotype. Im Motiv der ‚Brautschau‘ werden Prinzessinnen aus aller Welt vorgeführt und die Prinzessin aus Bombay mit überzeichnet langen Armen, mit welchen sie „dem Volk bestimmt gut zuwinken“[4] kann, gar mit wenigstens latentem Rassismus dargestellt. Dieser Eindruck findet sich darin bestätigt, dass nur die Prinzessin aus Grönland am Ende als Frau des Kammerdieners in die Familie des ursprünglich auf Niederländisch erschienen Buches integriert wird. Dabei hätte ein Schlussbild mit König und König inmitten der Prinzessinnen mit ihren Partnern das Problem narrativ und darstellerisch befriedigend lösen können.

Mit viel Humor erzählt und gezeichnet ist hingegen Luzi Libero und der Süße Onkel (Pija Lindenbaum; Beltz & Gelberg 2007), das – vielleicht mit Ausnahme des Titels – als Prototyp für Diversität im Kinderbuch beschrieben werden kann, die in Narrativ und Illustration ohne die Zementierung einer Wir-Ihr-Dichotomie auskommt. Vordergründig behandelt wird die Eifersucht der Kleinen Luzi gegenüber dem Partner ihres Lieblingsonkels. Dass es sich um ein schwules Paar handelt, spielt eigentlich keine Rolle, macht das Buch aber (mit seinen an die frühen Comics von Ralf König gemahnenden Zeichnungen) mindestens für Erwachsene zum Brüllen komisch, weil die versammelten Stereotype des schwulen Onkels gegen seine langweiligen Brüder aufgefahren werden und Luzi ihn u.a. dafür liebt. Aufgefangen werden die Stereotype überdies, indem der zunächst verhasste Freund des geliebten Onkels auch ein Langweiler ist, bis sich herausstellt, dass er (fast) so gut Fußball spielt wie Luzi und damit genau das kann, was der Lieblingsonkel nicht kann. Nebenbei wird damit rollentypisches Verhalten von Mädchen auf den Kopf gestellt und so vermieden, dieses in der Thematisierung eher zu festigen als aufzulösen, wie in den meisten monothematisch mit Rollenbildern befassten Kinderbüchern.

Das Kinderbuch Keine Angst in Andersrum – eine Geschichte vom anderen Ufer von Olivia Jones und Philip Militz (Schwarzkopf & Schwarzkopf 2015) möchte so früh wie möglich Vorurteile und Rollenklischees aufbrechen. Die Geschwister Emma und Luis sitzen nach der Schule mit Tante Maria am Küchentisch und Luis sagt „Spinat ist voll schwul“[5]. Das Schimpfwort hat er von Paul gelernt und weiß jetzt, dass es unnatürlich ist, wenn ein Mann einen Mann liebt. Tante Maria regt daraufhin ein Gedankenspiel an über das Land Andersrum, in dem Männer nur Männer und Frauen nur Frauen lieben dürfen, bis sich dort ein Mann in eine Frau verliebt und die Andersrummer das unnatürlich finden. Die Geschichte thematisiert Anderssein insgesamt, Vorurteile, Rollenbilder und die Entstehung von Schimpfwörtern und zeigt die Gesellschaft als willkürliche Konstellation von Werten und Normen.

Intersexualiät ist mit ihren verschiedenen Formen weiter verbreitet als gemeinhin angenommen, da Betroffene im Alltag oft nicht zu erkennen sind. Bis zu den 1990er Jahren wurden Kinder mit uneindeutigem Geburtsgeschlecht in der Regel direkt nach der Geburt operativ definiert, zumeist als Mädchen. Geschlecht galt – gerade auch im Kontext der Genderforschung – als anerzogen und damit steuerbar. Da jedoch viele intersexuelle Menschen diese Festlegung von außen als willkürlich empfinden und darunter leiden, gilt seit den 1990er Jahren die Tendenz, intersexuelle Kinder ihr Geschlecht eigenständig entwickeln zu lassen. Erstaunlich genug ist daher, dass erst 2015 mit Jill ist anders von Ursula Rosen und Alina Isensee das erste Kinderbuch zum Thema erschien (Salmo).[6] Mit Jill kommt ein intersexuelles Kind in eine gemischte Kindergruppe, die im Folgenden versucht, sich an das Thema Geschlecht und geschlechtsspezifische Zuordnungen anzunähern. Die Kinder integrieren Jill sofort. Fragen werfen offenbar vor allem die Erwachsenen auf, deren Suche nach Definitionen die Kinder jeweils am kommenden Morgen zurück in die Kita tragen. Der erste Versuch einer biologischen Bestimmung via Geschlechtsorganen wird vom Buch beeindruckend tabulos aufgezeigt und endet genauso wie alle folgenden mit einem Patt: Keine der Zuschreibungen kann Jill erschöpfend zuordnen, seien es die üblichen Rollenklischees über Mädchen und Jungen – die bei dieser Gelegenheit en passant erledigt werden – oder Zwitter aus der Tierwelt. Besonders lustig ist der Versuch mittels der antiken Mythologie mit Hermes und Aphrodite, bei dem sich die Erzieherin einschaltet, womit das Buch klarstellt, dass ein solcher Prozess von Erwachsenen moderiert werden soll. Abschließend wird das uneindeutige Geschlecht von Jill in die Varianz der Diversitätsmerkmale eingeordnet, die alle Kinder der Gruppe auszeichnet: darunter unterschiedliche Haut- und Haarfarben, Körpergröße, Gewicht, Stärken und Schwächen.

Wie Papas Freund gehört Jill ist anders eindeutig in die Kategorie der utopischen Kinderbücher, indem hier weder ein innerer Konflikt noch Ausgrenzungserfahrung geschildert werden.

Anmerkungen:

[1] Planet Willi (2012), o. S.

[2] Die Lese-Rezensionen kritisieren das von einer Fachkraft bemühte Abarbeiten von Konflikten. Insgesamt wird das Buch als ein „aus fachlicher Hinsicht gutes Buch mit Schwächen“. http://www.amazon.de/product-reviews/3956455851/ref=cm_cr_dp_see_all_summary?ie=UTF8&showViewpoints=1&sortBy=helpful. (besucht am 03.04.2016) bewertet, dessen gute Bewertung auch aus den wenigen Alternativen auf dem Markt zu resultieren scheint.

[3] Papas Freund (1994), o. S.

[4] König und König (2014), o. S.

[5] Keine Angst in Andersrum (2015), o. S.

[6] Das Buch ‚Lila. Oder was ist Intersexualität?‘ richtet sich mit seinem dichten und komplexen Text an betroffene und etwas ältere Kinder. Es ist online abrufbarunter: http://www.im-ev.de/pdf/Lila.pdf (besucht am 3.9.2016).

Der Beitrag ist Teil des Seminar-Projekts „Diversität im Kinder- und Jugendbuch“ an der Universität Bayreuth, dessen Ergebnisse in der Dezember-Ausgabe 2017 von literaturkritik.de veröffentlicht sind.