In falscher Verkleidung

Joseph Conrads Roman „Die Schattenlinie“ liegt in einer Neuübersetzung vor

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An Joseph Conrads Roman Die Schattenlinie faszinierte Giuseppe Tomasi di Lampedusa die Evokation eines kaum fassbaren Bannfluches natürlicher und fantastischer Kräfte. „In The Shadow Line verfolgen wir gebannt“, schrieb Lampedusa, „wie ein heruntergekommenes Schiff mit einem Toten an Bord von der Windstille der Südsee an der Mündung eines trüben siamesischen Flusses festgehalten wird.“

Basierend auf autobiografischen Erlebnissen aus der Zeit, als Conrad vor seiner Existenz als Schriftsteller in England zur See fuhr, beschreibt der Kurzroman Die Schattenlinie, der nun in einer neuen Übersetzung Daniel Göskes vorliegt, die Erfahrung einer Extremsituation. Nach der Übernahme seines ersten Schiffskommandos im Golf von Siam muss sich ein junger Kapitän angesichts von Tropenfieber und Flaute, einer mysteriösen unter der Mannschaft grassierenden Krankheit und fehlendem Chinin in der Bordapotheke, eines „Fluches“ des toten Vorgänger-Kapitäns und eines daraus resultierenden Deliriums des Ersten Offiziers auf See bewähren, um das Schiff zu seinem Bestimmungsort zu führen.

Zwischen Februar und Dezember 1915 entstanden und erstmals im New Yorker Metropolitan Magazine im Herbst 1916 erschienen, ist The Shadow Line – wie viele Kommentatoren bemerkten – das einzige Werk Conrads, das sich – wenn auch verschlüsselt – mit der Erfahrung des Ersten Weltkrieges beschäftigt, obgleich Conrad in einer späteren Einlassung das „Engagement“ mit der „leidenden Menschheit“ in Abrede stellte. Die Widmung „To Borys and All Others“ rekurriert auf die Generation seines Sohnes Borys, der an der Schlacht an der Somme teilnahm. Sie habe, schreibt Conrad weiter in seiner Widmung, „in früher Jugend die Schattenlinie“ überschritten. Wie Jacques Berthoud in seiner Einleitung zur Penguin-Ausgabe des Romans hervorhebt, betrachtete Conrad das Schreiben des schmalen Werks (das zunächst den Titel First Command trug) als einen „Akt der Solidarität mit den jugendlichen Kombattanten, mit denen er nicht länger dienen konnte“.

In Conrads Imagination war jedoch die Zeit eingefroren. Das vom technologischen Fortschritt begünstigte „Zeitalter der Katastrophe“ (wie Eric Hobsbawm die Jahre zwischen 1914 und 1945 bezeichnete) findet bei Conrad keinen Niederschlag: Die Bewährung des jungen Kapitäns und seiner Mannschaft ereignet sich auf einem Segelschiff, auf dem sich Offiziere und Untergeordnete als Handwerker alter Provenienz bewähren müssen, während Entwicklungen des globalen Kapitalismus – die Unterwerfung Asiens durch den europäischen Imperialismus – keine Rolle spielen. In der rückwärtsgewandten Beschwörung der Segelschifffahrt, wo Männer sich noch als Männer in der Auseinandersetzung mit den Naturgewalten beweisen können, lässt Conrad der Vorherrschaft „weißer Männer“ ungehemmt freien Lauf, ohne je die Frage zu stellen, welche Rolle Engländer am Golf von Siam spielen. Wie Irving Howe in seiner klassischen Studie Politics and the Novel (1957) zu Recht bemerkte, artikuliert sich bei Conrad eine konservative Politik des altmodischen Englands, das eher von einem prosperierenden Merkantilismus denn von einem gierigen Imperialismus bestimmt wird. Als Subtext in Conrads Roman verbirgt sich die Sehnsucht, unberührt von den verheerenden Auswirkungen des Industrialismus zu bleiben sowie Privilegien und Werte zu bewahren, die von der neuen Zeit erbarmungslos zerstört werden.

Dieser Konservatismus schlägt sich auch in der Aufmachung und Gestaltung der Hanser-Ausgabe des Romans nieder, die mit zwei bunten Lesebändchen und einer Illustration von James McNeill Whistler aus dem Jahre 1866 der Nostalgie frönt. Whistlers Bild rekurriert auf eine scheinhafte Stille der See, während alle Verweise auf den europäischen Kolonialismus und den Ersten Weltkrieg getilgt werden. Nicht nur diese Ausgabe bewegt sich gestalterisch am Rande des Kitsches, sondern auch nahezu alle anderen Bände der Reihe „Hanser Klassiker-Neuübersetzungen“, wie sie auf der Homepage des Verlages beworben werden, betreiben Reklame für ein pseudo-traditionelles „Büchertum“ à la Manufactum. Die „Liquidation des Buches“ (die Theodor W. Adorno bereits 1959 diagnostizierte) zeigt sich nun in der zombiehaften Zurschaustellung Potemkinscher Bibliotheken von Großverlagen, in deren grellen Ausstellungshallen das Tote mit aufgehübschten Fratzen als „Gallerte menschlicher Arbeit“ (Karl Marx) im Zirkulationsprozess einer menschenfressenden Industrie noch einmal verwertet wird. Die Neuübersetzung kommt in einer Falschmünzer-Verkleidung daher und erweist sich schließlich als fehlproduzierter Omnibus, denn als Dreingabe gibt es noch eine Neuübersetzung der Erzählung The Secret Sharer aus dem Jahre 1910. In diesem Text verhilft ein junger Kapitän dem Steuermann eines anderen Schiffes, dem ein Mord vorgeworfen wird, zur Flucht. Die Gründe dieser Fluchthilfe bleiben im Dunkeln.

Ebenso bleibt die Motivation des Verlages verborgen, warum er zwei Conrad-Texte, die vage durch ihr Sujet miteinander verbunden sind, derart disparat aneinander stückelt. Treibende Kraft bei diesem Unternehmen ist Daniel Göske, der als Professor für Amerikanistik an der Universität von Kassel lehrt. Es genügt ihm nicht, Conrads Texte in einer neuen Übersetzung zu präsentieren, sondern er tritt in Impersonationen als Übersetzer, Kommentator, Herausgeber und Literaturwissenschaftler auf, bei denen er einer „I know better“-Attitüde frönt. Schon in einem universitären Lebenslauf behauptet er von sich (vermutlich allen Ernstes), er sei als „Lehrersohn in Lüneburg“ geboren, und stellt sich in seinem ausufernden Anhang mit Nachwort, editorischer Notiz, Zeittafel zur Biografie Conrads und einem Glossar nautischer Begriffe als streberhafter Besserwisser zur Schau. Vor allem gefällt er sich als Steißtrommler früherer Übersetzer, deren „Strategie einer übersetzerischen Einbürgerung“ er ablehne, wie er in seiner editorischen Notiz herausstellt.

Diese aufgeblähte Eitelkeit des Übersetzers (der sich penetrant ins rechte Licht rücken will) vergällt die Lektüre dieser Ausgabe. „Ich kann Ihnen gar nicht genug raten, Conrad zu lesen, denn Sie werden ein großes ästhetisches Vergnügen daran haben“, riet Lampedusa. Diesem Urteil ist nicht zu widersprechen, doch sollte man sich dieses ästhetische Vergnügen eher mit den englischen Penguin-Ausgaben denn mit dieser Nerd-Edition bereiten.

Titelbild

Joseph Conrad: Die Schattenlinie. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen und herausgegeben von Daniel Göske.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
420 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783446254565

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