Dichter des Mitleids

Vorbemerkung zum Themenschwerpunkt „Heinrich Böll“ in dieser Ausgabe

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Am 21. Dezember 2017 wäre Heinrich Böll 100 Jahre alt geworden. Droht der Literaturnobelpreisträger von 1972 in Vergessenheit zu geraten? Manche haben es seit seinem Tod im Juli 1985 vermutet – oder sogar gewünscht. Die Resonanz, die der Gedenktag bislang gefunden hat, lässt allerdings durchaus Anderes erwarten. Eine Böll-Renaissance? Die Themen, die dieses Musterbeispiel eines „engagierten Intellektuellen“ und Schriftstellers vor allem bewegten, sind gegenwärtig jedenfalls von traurig neuer Aktualität: Krieg, Terror, Flucht und Vertreibung, soziale Ungleichheit oder das inhumane und humane Potential von Religionen. Für unsere Zeitschrift und auch für unseren Verlag ist der „runde Geburtstag“ eine willkommene Gelegenheit, mit etlichen Beiträgen an Heinrich Böll zu erinnern: mit Rezensionen zu Neuerscheinungen von ihm und über ihn, der Entdeckung eines bislang unbekannten Porträts, das Günter Grass über ihn geschrieben hat, Erinnerungen eines begeisterten Böll-Lesers aus DDR-Zeiten oder mit kaum bekannten Informationen über die Verwirrung, die dieser Autor bei der Stasi ausgelöst hat.

Am 6. Dezember fand an der Universität Mainz eine Tagung zu Böll statt. Initiiert hat sie Dieter Lamping, der Leiter unserer Komparatistik-Redaktion dort. Zwei Tagungsbeiträge erscheinen in unserem Schwerpunkt, alle nun in unserem Verlag LiteraturWissenschaft.de. Außerdem bieten wir eine längst vergriffene Sammlung von Rezensionen und Essays Marcel Reich-Ranickis über ihn als erweiterte Neuausgabe an. Dieser nannte Böll einen „Dichter des Mitleids“.

Böll steht in der Tat in einer Tradition, die der empfindsame und zugleich polemische Aufklärer Lessing im 18. Jahrhundert in seinem Briefwechsel über das Trauerspiel mit dem ethischen Motto „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“ versehen hatte. Die Tragödie „soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß.“ Was Lessing zur Leistung der Tragödie erklärt hatte, gehörte zu den Leistungen von Bölls Erzählungen, Romanen, Aufsätzen, Reden, Gesprächen oder Handlungen.

Die Mitleidsfähigkeit, verbunden mit Witz und aktivierender polemischer Wut, wie sie für Lessing typisch war, kennzeichneten auch das Profil dieses außerordentlichen Schriftstellers. Eine Fernsehsendung zu Heinrich Bölls 100. Geburtstag ging am 19.12.2017 (Bayern 3, ab Min. 37) auf seine Freundschaft mit Rupert Neudeck, dem Gründer von Cap Anamur, ein und auf die Hilfe, die Böll dieser Organisation leistete, die Tausenden von vietnamesischen Flüchtlingen das Leben rettete. Und die Sendung zeigte dann den Ausschnitt einer Rede, in der Böll die Fähigkeit zum Mitleiden gegen ihre Verächter, die heute gerne abfällig von den „Gutmenschen“ reden oder schreiben, verteidigte: „Es wird uns eingeredet, dass Mitleiden in den Bereich der Sentimentalität gehört. Das ist eine Lüge. Mitleiden ist eine ungeheure Kraft, eine große Energie. Und auch eine schöpferische Fantasie gehört zum Mitleiden. Sein unermüdlicher Einsatz hinterlässt Spuren.“

 

.

Lamping-Boell