Moralische Instanz oder Staatsfeind Nr. 1?

Jochen Schubert schildert den Dichter und Zeitgenossen Heinrich Böll

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Um eine öffentliche Rolle, gar als ‚moralische Instanz‘, hat er sich nie beworben. Er bekam sie zugewiesen.“ Im Vorwort zum Buch Heinrich Böll von Jochen Schubert benennt sein Sohn René Böll einen Grundkonflikt im Leben des Nobelpreisträgers. Er wollte nur Dichter sein, doch schweigen über die Zustände in seinem Land konnte er nicht. Es gelingt Jochen Schubert, diesen dauernden Wechsel zwischen der Arbeit als Dichter am Schreibtisch und der Rolle als Intellektueller coram publico zu beschreiben.

Dabei profitiert das Buch von Schuberts profunder Kenntnis des Gesamtwerkes von Heinrich Böll. Schubert ist Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung und Mitherausgeber der Werkausgabe von Böll. Er ist mit dem literarischen Werk des Autors bestens vertraut und zitiert auch ausgiebig und erhellend aus Bölls umfangreicher Korrespondenz.

Das Biografische rückt nur in den Fokus, wenn es dazu beiträgt, das Werk, seinen Autor und den öffentlich in Erscheinung tretenden Intellektuellen besser zu verstehen. Beispielhaft hierfür ist die Beschreibung der besonderen religiösen Stimmung in Bölls Elternhaus. Nur Kenner des Katholizismus werden etwas mit den „rigiden Vorstellungen eines jansenistisch geprägten Katholizismus“ anfangen können. Schubert erläutert den Kern dieser rigorosen Spielart des Katholischen, „derzufolge der Mensch tendenziell böse und durch die Erbsünde prinzipiell verderbt sei.“ In dieser Geisteshaltung waren die Eltern von Böll erzogen worden, ohne sie an die Kinder weiterzugeben: „Es wurde nie ausgesprochen, und trotzdem glaube ich heute, daß meine Eltern gedacht haben: diesen Schrecken wollen wir unseren Kindern ersparen.“ Das Zitat zerstört das Klischee vom katholischen Heinrich Böll und es erklärt, wo die Wurzeln für seine kritische Haltung gegenüber der katholischen Kirche zu finden sind. Als Jugendlicher kann Böll über sein religiöses Leben selbst entscheiden, seinen Eltern, „die ja klassisch-katholisch erzogen worden waren im Sinne des 19. Jahrhunderts“, ist er dankbar dafür, „daß sie meine religiöse Praxis niemals kontrolliert haben.“ Diese frühe Erfahrung, in Glaubensfragen selbst entscheiden zu dürfen, mündet 1976 in den Austritt aus der katholischen Amtskirche.

Die Freiheit, welche die Eltern dem Sohn zubilligen, prägt maßgeblich dessen Denken und Schreiben. Sich an seine Kindheit erinnernd, mutmaßt Böll, seine Eltern hätten ihm „jeden Respekt vor der bürgerlichen Ordnung“ ausgetrieben, entstanden sei damals „dieses anarchistische Element“, das „in der völligen Ablehnung irgendwelcher Vorschriften bestand“.

Akribisch skizziert Schubert die Ereignisse im privaten Leben des Schriftstellers, die sich als prägend für das Werk erweisen. Der Biograf erspart seinen Lesern Anekdoten, die einzig die bloße Neugier des Lesers befriedigen würden, ohne zum Verständnis des Werkes oder Bölls Rolle als öffentlicher Person beizutragen.

Schubert hat ein lesenswertes Buch geschrieben, das allerdings nicht immer leicht zu lesen ist: „Was das unbestechliche und menschliche Auge des Schriftstellers durch das ‚Wie‘ seiner literarisch entworfenen Szenen zum Sehen bringt, versteht sich als Markierung von Relevanz, als ein perspektivisches Zeigen, das auf etwas zeigt, in dem sich etwas zeigt, auf das dann gezeigt werden kann.“ Lange, verschachtelte Sätze erschweren an vielen Stellen die Lektüre, es bleibt unklar, was Schubert in der hier zitierten Passage genau meint.

Hingewiesen werden muss auch auf zumindest eine Fehlinterpretation. Am 2. Dezember 1943 wird Böll zum dritten Mal als Soldat in Russland verwundet. In einem Brief bezeichnet Böll das Geschehene als „gute Fügung, die mich aus dem großen, großen Elend, der furchtbaren Gefahr befreien sollte“. Auch Schubert kommt auf diese Ereignisse zu sprechen:

Seine dortigen Erfahrungen führten zum endgültigen Zusammenbruch seiner pseudomythischen Vorstellungen über die „Attraktion“ des Fronterlebnisses, das er aus den einschlägigen Kriegstagebüchern von Werner Beumelburg, Rudolf Binding und Ernst Jünger zu kennen meinte. Der Mythos „Fronterlebnis“, den Böll Mitte Juni 1940 noch begrüßte (…), wurde nachhaltig erschüttert. Die Entmythologisierung erfolgte gründlich: Der Krieg ist „grausam, böse und schrecklich“.

Im Kriegstagebuch findet sich unter dem Datum 13. Juli 1944 die Eintragung „Ernst Jünger: In Stahlgewittern ein tolles Buch“. Ein Feldpostbrief vom 19. Juli 1944 unterstreicht Bölls Bewunderung für das Buch:

Ich habe hier sehr viele Bücher über den Krieg gelesen (…) auch von ‚Jünger‘ ein tolles Buch: ‚In Stahlgewittern‘, ein genaues Tagebuch aller 4 Weltkriegsjahre, die Jünger ununterbrochen an der Westfront im furchtbarsten Feuer erlebt hat, immer im Brennpunkt der Front. Dieses Buch möchte ich wirklich besitzen, weil es das Buch eines Infanteristen ist, real und nüchtern, erfüllt von der Leidenschaft eines Mannes, der alles sieht und alles mit Leidenschaft und Härte erlebt.

Der Widerspruch ist offensichtlich: Jochen Schubert unterstellt, Böll habe den Krieg noch 1940 im Geiste Ernst Jüngers mythisch verklärt, sei dann aber an der Front eines Besseren belehrt worden, Böll aber bewundert im Juli 1944 Jünger für dessen nüchterne Darstellung des Kriegsgeschehens, das auch er selbst hautnah erleben musste. Bewunderung für Ernst Jünger, und zumal für eines seiner umstrittensten Bücher, passt nicht in das Bild, das Schubert von Böll zeichnen möchte.

Stimmiger erscheint Schubert die nachweislich falsche Konstruktion, Böll habe sich zunächst von Jünger und seinen Gesinnungsgenossen verführen lassen, bevor er sich angesichts der eigenen Kriegserlebnisse 1943 besonnen habe. Denn wie kann Böll sich zu einem Autor bekennen, den die Frankfurter Grünen 1982 anlässlich der Verleihung des Goethepreises in die rechte Gesinnungsecke stellten: „Er war unbestritten ein ideologischer Wegbereiter des Faschismus und ein Träger des Nationalsozialismus von Kopf bis Fuß. Ein Kriegsverherrlicher und erklärter Feind der Demokratie. Er war und ist ein durch und durch unmoralischer Mensch.“ So formulierte es ein Beitrag (von Christian Berndt) im Deutschlandfunk vom 28.7.2007 mit dem Titel „Umstrittene Ehrung. Vor 25 Jahren erhielt Ernst Jünger den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main“. Er erinnerte dabei auch daran, wie damals die TAZ der Stigmatisierung Jüngers widersprach:

Ausgerechnet in der linksalternativen „Tageszeitung“ wird die Kampagne der Grünen gegen Jünger als einseitig kritisiert, weil sich der Dichter ab 1933 jeder Zusammenarbeit mit dem NS-Regime verweigert habe. Und die Idee, Jünger für den Goethepreis vorzuschlagen, kommt von Rudolf Hirsch, einem jüdischen Schriftsteller, der 1933 aus Deutschland emigrierte und in Jünger einen inneren Widerständler des NS-Regimes sieht.

Die Frage, wie Schubert die Haltung Bölls zu Ernst Jünger konstruiert, ist deshalb von Belang, weil sie beispielhaft ist für die (zu) große Nähe zwischen dem Biografen Schubert und Böll. Auch gelingt es Schubert kaum, für das Werk von Böll zu werben. Er erläutert dessen Genese und liefert umfangreiche Inhaltsangaben, auf der Strecke bleibt dabei die Frage, warum eine neuerliche Lektüre lohnenswert sein könnte.

Am 10. Januar 1972 erschien im Spiegel ein Beitrag von Böll mit dem Titel Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? Ausführlich skizziert Schubert die hitzige Diskussion um diesen Text: „Die Auseinandersetzung entwickelte sich alsbald zu einer aggressiv geführten Kampagne gegen Böll.“ Schubert stellt sich auf die Seite des Schriftstellers, der um das Jahr 1972 gleichzeitig als moralische Instanz wie als Staatsfeind Nr. 1 angesehen wurde. Wer den Text heute liest, muss sich allerdings fragen, wie genau die folgende Aussage Bölls verstanden werden sollte: „Die Kriegserklärung, die im Manifest enthalten ist, richtet sich eindeutig gegen das System, nicht gegen seine ausführenden Organe.“ Die Unterscheidung zwischen dem System und den Organen – eigentlich gemeint sind Menschen – erinnert an die Diskussion um Gewalt gegen Sachen aus dem Jahr 1967. Stichwort „Kaufhaus-Brandstiftungen“.

Schubert setzt auf ein stillschweigendes Einverständnis zwischen der Haltung von Böll und dem Leser, ein Einverständnis, nach dem sich jede Kritik an Bölls Ausführungen von selbst verbiete. Diese Haltung kennzeichnet Schuberts Blick auf Bölls literarisches Gesamtwerk. Was dabei verlorenzugehen droht, ist dessen ästhetische Qualität, worauf bereits 2003 der Journalist Andreas Rosenfelder in der F.A.Z verwies: „Immerhin teilt Heinrich Böll mit Ernst Jünger, den er im Lesehunger der Kriegsjahre ausgiebig las, das Schicksal, daß seine Haltung zum Krieg das literarische Werk ins Abseits stellte – auch wenn die Kritik bei Jünger einen Überschuß an Ästhetik ausmachte, während sie Böll ein Überangebot an guten Absichten vorwarf.“

Titelbild

Jochen Schubert: Heinrich Böll.
Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung.
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2017.
344 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783806236163

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch