Zur Vermittlung des wahren Glaubens notwendig

Der von Bruno Quast und Susanne Spreckelmeier herausgegebene Sammelband ‚Inkulturation‘ vermittelt in Fallstudien zu Strategien bibelepischen Erzählens

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mag bis vor wenigen Jahren durchaus zu Recht davon ausgegangen worden sein, dass Religion und religiöse Themenfelder außerhalb der entsprechenden Fachdisziplinen kaum diskutiert würden, hat sich dies in jüngerer Vergangenheit deutlich geändert. Die vorliegende ‚Inkulturation‘ ist somit ein weiterer Beleg für die geänderte Perspektive innerhalb der (Alt-)Germanistik. Dabei ist die Thematisierung bibelepischer Quellen womöglich ein gangbarer Weg der Annäherung an das Feld des Religiösen. Denn „bibelepisches Erzählen“, so heißt es auf der Buchrückseite, „steht in einem polaren Spannungsfeld zwischen heiligem Prätext und poetisch-ästhetischem Anspruch“. Dies ist vermutlich in unserer ‚post-religiösen‘ Zeit einerseits recht adäquat, wirft andererseits, so läßt sich den Formulierungen des Herausgeberduos entnehmen, aber auch Probleme auf, die in der „umstrittenen Hybridität bibelepischer Texte“ liegen.

Dass Herausgeberin und Herausgeber aber auch die Beitragenden auf Bewährtem aufbauen und gleichwohl zumindest neue Richtungen einschlagen, geht bereits aus der lesenswerten ‚Einführung‘ hervor, denn, so heißt es, „der Bezeichnung des prozessualen Verfahrens bibelepischen Schreibens und Erzählens wird im vorliegenden Band der Vorzug vor einer strengen Definition der nur schwierig zu profilierenden Gattung Bibelepik bzw. Bibeldichtung eingeräumt: Die begrifflichen Komposita sind unscharf.“ Zur einprägsamen Hauptüberschrift wird ausgeführt: „Unter Inkulturation soll die Implementierung christlicher Inhalte in eine fremde Kultur, das Anpassen der Verkündigung an eine fremde Kultur verstanden werden.“ Hier werden zunächst Rahmen abgesteckt mit deren Hilfe der vorliegende Band funktioniert und späterhin erweitert, das heißt, die Beiträge trotz ihrer breiten Streuung gewissermaßen auf funktionalen Kurs gebracht. Dass manches Neue beim genaueren Hinschauen nicht so ganz neu ist, tut dem Anwendungsaspekt dieser Hinführung keinen Abbruch, die für die Lektüre der Beiträge eine solide Basis setzt.

Die insgesamt neun Beiträge beschäftigen sich in erster Linie mit ‚bibelepischem Erzählen‘, zudem weist der Band erfreulicherweise auch Illustrationen auf, und es werden sogar Bildbeispiele außerhalb der reinen Textillustrationen herangezogen. Bibelepisches Erzählen ist mithin, die Abbildungen aus dem Kontext der Kirchenarchitektur legen es nahe, nicht ausschließlich textgebunden und fand in seinen ‚Graubereichen‘ auch außerhalb der literaren Gesellschaftsgruppen des Mittelalters statt.

Bereits anhand der Hinführung wird der Begriff eines ‚work in progress‘ fassbar. Die Lektüre der einzelnen Beiträge legt nahe, dass dieser offene Duktus auch im Sinne eines weiterführenden Diskurses gewollt ist. Eine grundsätzliche Richtung scheint somit vorgegeben, in der Reihenfolge der einzelnen Artikel hingegen ist kein vollständig stringentes System erkennbar. Ob eine – aus anderen Sammelbänden gewohnte – Ordnung in Themenblöcke die angestrebte Offenheit gerade auch auf formaler Ebene unterlaufen hätte, ist möglich; mir persönlich hätte allerdings eine binnen-chronologische Reihung, etwa den Abfolgen der zugrundeliegenden Bibeltext entsprechend, deutlich besser gefallen. Dies gilt nicht zuletzt, weil die Programmatik ja darin liegt, starre Dogmatiken früherer Forschung aufzubrechen. Angesichts von angestrebter sachorientierter ‚Unordnung‘ ist eine nachvollziehbare Struktur nicht von Nachteil.

Aufgenommen sind zeit- und themenübergreifende Beiträge (Jan-Dirk Müller, ‚Anfang vor dem Anfang‘), dezidiert auf das Frühmittelalter orientierte Artikel (Heike Sahm, ‚Scrîban, settian endi singan endi seggean forđ. Textgenese und Tradierung in der Fiktion des Heliand‘ sowie Elke Koch und Harald Haberland, ‚Heilsteilhabe bei Otfrid‘). Daneben findet sich allerdings auch Übergreifendes oder Thematisch-Explizites.

Henrike Manuwald geht ihr Thema (‚Der Heilige Rock – gestrickt. Magischer Realismus in Bruder Philipps Marienleben?‘) pragmatisch an; es geht um die Funktion alltagsweltlicher Detailrealismen im Kontext bibelepischer Texte, also einen Blick auf die Problematik einer Art ‚praktischen‘ Inkulturation, eine Art der ‚Imitatio‘. Ute von Blohs Beitrag (Sagen und Zeigen. Joseph (Gn 39) und Susanna (Dn 13) in biblischen Geschichten des Mittelalters‘) hebt insbesondere auf die illustrative Umsetzung biblischer Stoffe als Möglichkeit des Zugangs ab. Gegenüber so viel an Augenschmaus wirkt der Beitrag Bernd Rolings (‚Held wider Willen. Jonasepik zwischen Mittelalter und Konfessionalisierung‘) deutlich nüchterner. Dies nimmt auch nicht wunder, kann der Verfasser doch eine eigene „gattungsspezifische Ästhetik der protestantischen Bibelpoesie“ rekonstruieren und damit aus dem mittelalterlichen Kontext hinausweisen.

Ins Hochmittealter führt Hans-Joachim Ziegeler (‚Das Urteil Salomons. Reflexion zur Geschichte in Text und Bild der illustrierten Handschrift von Priester Wernhers ‚Driu liet von der maget‘ – Berlin/Krakau mgo 109‘). Das bemerkenswerte an dieser volkssprachlichen Dichtung beziehungsweise der untersuchten Handschrift sind eben ihre Illustrationen, die der Verfasser als wesentliche Verständnis- und Verdeutlichungselemente ansieht. Zehn dieser Illustrationen sind dankenswerterweise auch in den Artikel aufgenommen worden. Da Ziegeler auch auf Parallelen mit Bebilderungen von Sakralbauten verweist, die beispielhaft durch zwei Abbildungen der Kirche Notre Dame in Amiens vertreten sind, gelingt es, einen größeren Text-Bild-Zusammenhang darzulegen, dessen Präsenz zweifellos die heilsgeschichtliche Vermittlung und Vergewisserung erleichterte.

Einer der Herausgeber, Bruno Quast, thematisiert anhand der ‚Konversionen in Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu‘ ‚Inkulturation als diskursive Entdifferenzierung‘. Es geht in vorliegendem Text vor allem um die in diesem auf der apokryphen Erzählung der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten beruhenden Episoden von der Konversion des Schächers sowie – und das ist noch gewaltiger – vom Sturz der ägyptischen Götterstatuen in einem aufgelassenen Tempel. Auch dieser Beitrag ist mit zwei Illustrationen versehen, die ein weitergehendes Verständnis des Primärtextes Konrads ermöglichen. Bruno Quast weist eine Inkulturationsstrategie Konrads nach, der es nach ursprünglich definierter Grenzziehung zwischen Gott und der Welt letztlich um eine Aufhebung dieser Grenzziehung zu tun ist.

Susanne Köbele (‚Registerwechsel. Wiedererzählen, bibelepisch. Der Saelden Hort, Die Erlösung, Lutwins Adam und Eva‘) geht explizit auf den Aspekt des Wiedererzählens biblischer Stoffe durch ihre bibelepischen Adaptionen ein. Die gewechselten respektive wechselnden ‚Register‘ sind die der Minne, Natur, Klage und Freude, die aber, und darauf weist die Autorin explizit hin, auch wesentlich für den höfischen Minnediskurs sind. Grenz- und Gattungsüberschneidungen scheinen demnach auch eine nicht unwesentliche Komponente der Weiter- und Wiedergabe biblischer Motive gewesen zu sein, womit auch eine andere Form der Lebens- und Literaturwirklichkeit beleuchtet wird. Dabei nimmt Susanne Köberle die religiöse Komponente aber keineswegs zurück, sondern kann auf die – sicherlich auch und gerade heute noch erkennbare – anscheinend paradoxe Brechung verweisen: „Ein lückenlos sinnerfülltes Glück des Leidens stellt sich erst in künftiger Herrlichkeit ein. Anders gesagt, auf der Erde muss man erst tot sein für die ewige Freude.“

Diese Aspekte aus der Alltagskultur werden in einen Zusammenhang mit theologischen Deutungsmustern gestellt. Neben Alltagsrealität und bibelepischer Textualität bezieht die Autorin überdies ikonographische Darstellungen mit ein, die in vorliegendem Beitrag durch Abbildungen der ‚Heiligen Familie‘ (Jacob Jansz zugeschrieben) sowie Meister Bertrams Buxtehuder Altar illustriert sind. Bei allem Realismus werden die Aspekte des Wunderbaren jedoch nicht außen vorgelassen, denn „auch ein gestrickter Rock kann schließlich mitwachsen!“

Neun Beiträge, eine lesenswerte Einführung, die Meta-Strukturen vorgibt und definiert sowie viele farbige Abbildungen machen den Reiz des vorliegenden Buches aus. Mag angesichts des Umstandes, dass zumindest christliche Religiosität im Gegenwartsbewusstsein nicht unbedingt prominent vertreten ist, das Sujet auf den ersten Blick womöglich realitätsfern erscheinen, lohnt sich ein zweiter und dritter Blick in jedem Fall. Gerade diejenigen, die mit den altüberkommenen Begriffen der ‚Bibeldichtung‘ und ‚Bibelepik‘ in der Altgermanistik aufgewachsen sind, werden ihre Definitions- und Wertungsbasis erweitern können. Und die Nachwachsenden werden an eine vordergründig fremde Welt herangeführt, die sich bei näherem Hinsehen, zumindest was ihre grundsätzlichen Parameter angeht, als gar nicht so exotisch erweisen wird. Wer sich für den ‚Heliand‘ und andere die Bibel adaptierenden Texte des Mittelalters interessiert, wird sicherlich nicht an der ‚Inkulturation‘ vorbeikommen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Bruno Quast / Susanne Spreckelmeier (Hg.): Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit.
De Gruyter, Berlin 2017.
278 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110537154

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