Der Autor lebt, und er ist nicht allein

Seraina Plotke untersucht in ihrem Buch „Die Stimme des Erzählens“ textvermittelnde Instanzen in der mittelhochdeutschen Epik

Von Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seraina Plotke, Universitätsdozentin für Germanistische Mediävistik an der Uni Basel, untersucht in ihrer jüngsten Monographie das Verhältnis zwischen Autor, Erzähler und „textvermittelnden Instanzen“ in der Vormoderne. Diesen Instanzen versucht sie mithilfe der strukturalen Narratologie auf die Spur zu kommen. Ein gewagtes Unterfangen, denn die moderne Erzähltheorie hat ihre Erkenntnisse an modernen Romanen gewonnen. Minutiös geht die Autorin auf die Unterschiede zwischen moderner, mittelalterlicher und – kursorisch – antiker Buchproduktion ein und erklärt die Folgen für Autoren, Leserschaft und Publikum: Anders als in Antike und Moderne gibt es bei der volkssprachigen Literatur des Mittelalters nämlich kaum Paratexte. Alle zusätzlichen Informationen müssen im eigentlichen Text untergebracht werden. Keine Verlagsankündigung, kein Klappentext, häufig noch nicht einmal Autor und Werktitel finden sich in beziehungsweise auf dem mittelalterlichen Kodex. Die Autoren müssen also zu anderen Mitteln greifen, um den Rezipienten ihre Autorschaft kenntlich zu machen. Wie dabei vorgegangen wird, zeigt Plotke exemplarisch an fünf Epen des 12. und 13. Jahrhunderts. Bevor sich die Autorin der historischen Narratologie widmet, stellt sie jedoch zunächst ausgewählte Vertreter der klassischen (also modernen) Erzähltheorie und deren Positionen vor: Käte Friedman, Percy Lubbock, Franz K. Stanzel, Käte Hamburger, Wayne C. Booth und natürlich Gérard Genette. Genette unterteilte seinen Begriff des Paratexts in Peritexte (Texte, die sich im gleichen Buch befinden, also materiell mit dem literarischen Basistext verbunden sind) und Epitexte (Texte, die sich außerhalb des Buchkörpers befinden und die Basistextwahrnehmung durch andere Medien beeinflussen). Nach dieser Einführung in die Narratologie bemerkt Plotke, dass Paratexte bei mittelalterlichen Texten nicht immer gegeben sind und stellt die Frage, was der Grund dafür ist. Dass Textrezeption mit literatur- und bildungssoziologischen Bedingungen und der vorherrschenden Buchkultur verbunden ist, ist ein Allgemeinplatz. Wie lässt sich diese Erkenntnis für das Mittelalter fruchtbar machen? Plotke nimmt die textüberliefernden Handschriften des von ihr ausgewählten Korpus in den Blick, kommt aber letztlich zu der Erkenntnis, dass das Nichtvorhandensein von Paratexten in der mittelalterlichen Literatur nichts mit der Handschriftenkultur zu tun hat, denn auch die Antike verwendete dieses Medium und da finden sich Paratexte zu Hauf. Der Grund muss also woanders liegen. Plotke sieht ihn im Erzähler, dem die Rolle des Kommunikations-Trägers zukam; das heißt, der Erzähler vermittelt das, was in den Büchern steht, an sein Publikum. Die Lesefähigkeit des mittelalterlichen Publikums war nicht immer gegeben, so dass die Texte meist vorgetragen wurden. Die „auditive Rezeption“ der mittelalterlichen Epen könnte also die Erklärung sein, warum Paratexte durch Erzählerkommentare und -einschaltungen ersetzt werden. Diese Hypothese überprüft die Autorin an den fünf Epen ihres Korpus, die alle aus unterschiedlichen Stofftraditionen stammen und deshalb auch unterschiedliche Erzählerkonfigurationen aufweisen.

Den Auftakt macht der mittelhochdeutsche Herzog Ernst B. Da der Stoff auch in mittellateinischen Fassungen überliefert ist, geht Plotke hier von einem ursprünglich lesekundigen Rezipientenkreis aus. Bei ihrer Untersuchung des Herzog Ernst B-Prologs legt die Autorin nun erstmals dezidiert ihre Terminologie offen: Da in moderner Literatur der Erzähler als Figur gewertet wird und für das Mittelalter andere Kriterien gelten müssen, spricht sie von der „Erzähl-“ oder „Redeinstanz“, und zwar immer dann, wenn ein Pronomen in der ersten Person Singular mit einem Verb des Sagens verknüpft ist.

Im Prolog des Herzog Ernst B tritt ein Sprecher auf. Angaben zu Autor oder Urheberschaft gibt es hingegen nicht. In welchem Verhältnis stehen also Erzählerstimme und Urheber zueinander? Da der Erzähler den lobt, „derz uns getihtet hât“ sind Erzähler und Dichter nicht identisch. Plotkes Fazit zum Herzog Ernst B liest sich folgendermaßen: „Als Erzählinstanz fungiert in diesem Werk also die explizit markierte Sprecherposition, die in der Rezeptionssituation vom Vortragenden ausgefüllt und damit buchstäblich verkörpert werden konnte.“ Es bleibt das Problem, dass sich nicht abschließend klären lässt, wann der Text faktische Informationen liefert und was lediglich Stilmittel sind, beispielsweise wenn es im Epilog heißt, dass der Kaiser die Geschichte von Herzog Ernst aufschreiben ließ.

Nach einem Vergleich mit dem lateinischen Ernestus Odos von Magdeburg kommt Plotke zum zweiten Text ihres Korpus: dem Eneasroman von Heinrich von Veldeke. Dieser basiert auf dem französischen Roman d’Enéas, in dem keine Bezüge auf Dichter oder Quellen zu finden sind. Der mittelhochdeutsche Eneasroman nennt hingegen Vergil als Gewährsmann für die Faktizität der Geschichte. Im Epilog finden sich Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte des Manuskripts und wir erfahren von der Sprecherinstanz den Namen des Autors: „daz was von Veldeke Heinrich“. Der Sprecher berichtet auch davon, wie dem Dichter seine Vorlage gestohlen wurde und es deshalb zu einer Zwangspause von neun Jahren bis zur Fertigstellung des Manuskripts kam. Diese Zusatzinformationen müssen im Basistext – wenn auch im Epilog – stehen, da es sonst keine Möglichkeiten gab, sie unterzubringen, wie Plotke erläutert. Etwas lakonisch stellt die Autorin abschließend fest, dass die modernen Begriffsbildungen aus der Narratologie unzureichend sind für die Erfassung der „Stimme des Erzählens“ im Eneasroman, denn der Sprecher wäre eigentlich der Autor-Erzähler im Sinne Genettes, der Text nimmt allerdings eine klare Trennung von Sprecher und Verfasser vor.

Damit geht Plotke weiter zum nächsten Text: dem Iwein Hartmanns von Aue, den der Erzähler auch direkt namentlich als Autor nennt. Obwohl der Text auf dem Yvain Chrétiens de Troyes basiert, wird die französische Quelle im mittelhochdeutschen Werk an keiner Stelle erwähnt. Der Iwein bereitet narratologisch weniger Probleme als Herzog Ernst B und der Eneasroman, denn es wird klar unterschieden zwischen der Sprecherposition, die als Narrationsinstanz das Publikum einbezieht, und Hartmann als dem Verfasser des Werks.

Noch einen Schritt weiter geht es im Willehalm Wolframs von Eschenbach, wo sich Wolfram selbst in der ersten Person Singular nennt. Allerdings stilisiert er sich (wie auch schon im Parzival) als Erzähler und nicht als Schreiber beziehungsweise Autor. Außerdem fügt Wolfram Kommentare ein, die ihn als Person außerhalb der Autorrolle greifbar werden lassen, wenngleich offenbleiben muss, ob es sich hier um wirkliche Fakten handelt.

Der letzte Text, den Plotke untersucht, ist Rudolfs von Ems Alexander. Hier findet sich zum ersten Mal die ausdrückliche Personalunion von Sprecher und schriftstellerischem Dichter. Der Erzähler hat die Aufgabe, den Text ans Publikum zu vermitteln. So finden sich sehr häufig Einschübe, die direkten Bezug auf die Zuhörer nehmen und darauf verweisen, dass der Erzähler die Informationen bereits an früherer Stelle gegeben hat, zum Beispiel „als ich iu dicke hân gesagt“ oder „als ich hân gezalt“. Plotke merkt an: „Allein die schiere Masse dieser Wendungen verdeutlicht, dass der ‚Alexander‘ von einem Sprecher erzählt wird, der die Kohärenz der Narration immer wieder plakativ pointiert.“ Die Autorin bemerkt außerdem, dass im Alexander Elemente lateinischer Gelehrtenkultur mit stilistischen Mitteln volkssprachiger Narrative kombiniert werden, was sogar am Handschriften-Layout deutlich wird. Spannend ist zudem Rudolfs Positionierung gegenüber anderen mittelalterlichen Autoren, die er in seinen Text einflicht. Da es im Mittelalter keine etablierten textexternen Organe der Literaturkritik gab, sind die Dichter gezwungen, andere Texte innerhalb ihrer Werke zu rezensieren, was wiederum durch eine Sprecherinstanz geschieht und so ans Publikum vermittelt wird. Plotke schreibt hier von „Peritexten für das Ohr“.

Nach den fünf Einzeluntersuchungen endet Die Stimme des Erzählens mit einem knapp acht Seiten langen „Fazit und Ausblick“, in dem die Autorin noch einmal ihre Ergebnisse zusammenfasst. Sie kommt zu dem Schluss, dass das Fehlen von Paratexten innerhalb der mittelhochdeutschen Literatur grundlegende Konsequenzen für die Konstituierung der Erzählinstanz hat. Daraus leitet Plotke zwei „Hauptfolgen“ ab: zum einen fehle für volkssprachige Texte ein schriftliterarisches Diskurssystem. Wie die Texte rezipiert wurden, müsse also aus den Texten selbst erschlossen werden. Zum anderen sei es den mittelhochdeutschen Autoren nur möglich sich innerhalb ihrer Texte zu offenbaren, was zur Folge habe, dass sich Autor, extradiegetischer Erzähler sowie die textvermittelnde Erzählinstanz zwangsläufig überlappten. Hinzu komme dann noch, anders als bei moderner Literatur, das leseunkundige oder -ungeübte Publikum, was eine Mittlerfunktion – die Erzählinstanz – notwendig mache. Aus mediävistischer Sicht ein relativ dünnes Fazit. Bleibt zu hoffen, dass Plotkes Untersuchung zumindest die Neugermanisten und die Theorieversessenen sensibel macht für die Alterität mittelalterlicher Literatur, denn die Autorin zeigt eindrücklich auf, wie die Begriffe und Kategorisierungen der strukturalistischen Narratologie bei mittelhochdeutschen Texten an ihre Grenzen stoßen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Seraina Plotke: Die Stimme des Erzählens. Mittelalterliche Buchkultur und moderne Narratologie.
V&R unipress, Göttingen 2017.
283 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783847105923

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