Körper und Komik

Zur Erinnerung an Robert Gernhardt, sein Gedicht „Noch einmal: Mein Körper“ und die Dialektik der Aufklärung

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Noch einmal: Mein Körper

Mein Körper rät mir:
Ruh dich aus!
Ich sage: Mach ich,
altes Haus!

Denk aber: Ach, der
sieht´s ja nicht!
Und schreibe heimlich
dies Gedicht.

Da sagt mein Körper:
Na, na, na!
Mein guter Freund,
was tun wir da?

Ach gar nichts! sag ich
aufgeschreckt,
und denk: Wie hat er
das entdeckt?

Die Frage scheint recht
schlicht zu sein,
doch ihre Schlichtheit
ist nur Schein.

Sie läßt mir seither
keine Ruh:
Wie weiß mein Körper
was ich tu?

Die Einsicht, dass das Ich „nicht einmal Herr ist im eigenen Hause “, nach Freud eine der großen Kränkungen, die der „menschlichen Größensucht“ zugefügt wurden, ist nicht erst der Psychoanalyse zu verdanken. Sie ist seit jeher eine schier unerschöpfliche Quelle gezielt eingesetzter Komik. Deren Effekte beruhen vielfach auf spielerisch inszenierten Eigenwilligkeiten des Körpers gegenüber dem, was das Bewusstsein will. Jemand stolpert beim Marschieren, muss niesen bei einer feierlichen Rede. Das sind Situtationen zum Lachen. Sie machen, so Freud in seiner einschlägigen Schrift über Witz und Komik, auf die Abhängigkeit seelischer Leistungen von körperlichen Bedürfnissen und Unzulänglichkeiten aufmerksam. Das Niveau, auf dem dabei gelacht werden kann, ist freilich unterschiedlich.

Robert Gernhardt, einer der großen komischen Dichter des 20. Jahrhunderts, hat sich die Konflikte zwischen den Niederungen des Körpers und den erhabenen Ansprüchen des Geistes wieder und wieder zum Gegenstand seiner poetischen Spielsucht gemacht. Von ihr lassen wir uns gerne anstecken. „Noch einmal: Mein Körper“: Warum „Noch einmal“? Das Gedicht steht in dem 1987 erschienenen Band „Körper in Cafés“. Das unmittelbar vorangehende heißt „Siebenmal mein Körper“. Schon dort wollen Ich und Körper nicht das gleiche: „Mein Körper hält sich nicht an mich, / Er tut, was ich nicht darf.“ Oder: „Mein Körper macht nur, was er will …“ Also: „Mein Körper ist voll Unvernunft…“

Gernhardt hat hier ein sehr ernstes und zentrales Thema der „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno aufgegriffen, erschienen zuerst 1944, in den studentenbewegten 1960er Jahren in zahlreichen Raubdrucken verbreitet und 1969 bei S. Fischer neu aufgelegt. In diesem für die „Kritische Theorie“ der „Frankfurter Schule“ grundlegenden Werk geht es um das aufgeklärte, zivilisierte Subjekt, das sich gegenüber einer bedrohlichen Natur zu behaupten und von den Zwängen dieser Natur zu emanzipieren versucht und dabei selbst vielfach destruktive und zwanghafte Herrschaftsansprüche entwickelt, mit denen es sich die Natur, auch die eigene, zu unterwerfen versucht.

Gernhardts Körper-Gedichte sind komische Beschreibungen eines Kampfes zwischen menschlicher Vernunft und Natur, Kopf und Körper. Bereits in einem der ersten Gedichte des genannten Bandes gelingt es den Wünschen des Körpers und dem Bedarf des Ichs partout nicht zu harmonieren: „Als dann die Lust kam, war ich nicht bereit. / Sie kam zu früh, zu spät, kam einfach nicht gelegen.“ Die fatale Pointe: „Erst als sie wegblieb, blieb mir für sie Zeit.“

Gegenüber all diesen Versen ist „Noch einmal: Mein Körper“ keine bloße Wiederholung. Zum ersten Mal setzen Ich und Körper sich in Form eines Dialogs auseinander, und neu ist, dass hier die Rollen vertauscht scheinen: Unvernünftig ist nun das Ich, es widersetzt sich dem klugen Rat des Körpers. Gernhardt lässt ihn wie einen besorgten und weisen Arzt sprechen. „Mein Körper rät mir: / Ruh dich aus!“ Das klingt so ernst und betulich wie jene wohlfeilen, populärmedizinischen Mahnungen, die in der körperbewussten Gesundheitsbewegung seinerzeit geradezu inflationäre Verbreitung gefunden hatten. Der Rat steht hier denn auch, wie die pseudophilosophischen Schlussverse mit ihren Anklängen an die hohe Schule des deutschen Idealismus, nicht ohne parodistische Untertöne da. Das Ich jedenfalls antwortet unbekümmert und eine Stillage niedriger in kumpelhaftem Ton. „Ich sage: Mach‘ ich, altes Haus.“

Die Verse scheinen, wie auch die übrigen, recht schlicht zu sein, doch diese Schlichtheit ist nur Schein. Hinter dem Schreiben solcher Gedicht stehen vielleicht sogar, ohne dass man es ihnen anmerkt, Anstrengungen, vor denen ärztliche Ratgeber zwanghaft produktive Autoren mit gutem Grund warnen könnten. Jedenfalls sind die Wörter so sorgfältig und artifiziell zusammengestellt, dass das Gedicht insgesamt hohen Ansprüchen an poetische Formprinzipien der Wiederholung, der Variation, des Kontrastes und der Vieldeutigkeit genügt: „Ruh“ aus der ersten Strophe taucht als verneintes Reimwort in der letzten wieder auf. Der Gegensatz von sagen und denken ist einmal über zwei Strophen verteilt, dann innnerhalb einer Strophe. Bei näherem Hinsehen scheinen sogar ganz harmlose Redewendungen in bewusster Doppelbödigkeit eingesetzt. Der Körper als Haus, in dem das Ich nicht autonom ist: eine Anspielung auf Freud? Und „alt“ ist durchaus auch wörtlich zunehmen. Es ist der alternde Körper selbst, der Ruhe braucht.

Alter und körperliche Hinfälligkeit sind permanente Themen in Gernhardts Lyrik. Der komische Autor ist zugleich melancholisch. Die angemessene Medizin für ihn ist nicht Ruhe, sondern jene milde und gelassene Heiterkeit, die sich über die Widrigkeiten der Existenz zu erheben vermag. Sie stellt sich durch dieses Gedicht ein. Seine Pointe hat es nur scheinbar in der abschließenden Frage. Die eigentliche, heimlichere ist die: Das Ich hat seinen eigenen Willen durchgesetzt und ist dabei einem geradezu körperlichen Bedürfnis gefolgt. Es hat ein Gedicht geschrieben.

Der Beitrag ist eine etwas erweiterte und modifizierte Fassung einer Gedichtinterpretation, die zuerst am  24.11.2001 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Rahmen der von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Reihe  „Frankfurter Anthologie“ erschien. Der Gedichttext steht u.a. in Robert Gernhardt: Reim und Zeit. Gedichte. Stuttgart, Reclam Verlag 1990; und in Robert Gernhardt: Gesammelte Gedichte 1954–2006. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch 2017, hier S. 223 f.

Dass Robert Gernhardt im Dezember 2017 80 Jahre alt geworden wäre, war ein Anlass zur erneuten Veröffentlichung – in unserer Reihe Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.