Der Vogel als Mensch, als Sänger und als Denkfigur

Drei Zugänge zur Betrachtung der artenreichsten Klasse der Wirbeltiere

Von Rolf SchönlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Schönlau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vögel faszinieren die Menschen seit jeher, wohl weil sie fliegen und singen können. Wobei das Interesse noch einmal zugenommen hat, seit die Vogelbeobachtung neudeutsch Birdwatching, Birdspotting oder schlicht Birding heißt, und es eine Meldung wert ist, dass auch Jonathan Franzen dieses Hobby hat. Bei den Sommer- und Winterzählungen von Gartenvögeln meldet der NABU Jahr für Jahr neue Teilnehmerrekorde – zuletzt machten rund 125.000 Menschen mit und zählten wieder einmal signifikant weniger Individuen und Arten als im Vorjahr.

Auch in Literatur und Film ist das Thema allgegenwärtig. Der Titelheld in Marcel Beyers Roman Kaltenburg von 2008 ist ein nach dem Vorbild von Konrad Lorenz gestalteter Vogelkundler. Die Hauptfigur in João Pedro Rodriguesʼ Film Der Ornithologe von 2016 beobachtet Schwarzstörche in Portugal. Der vogelkundlichen Begeisterung ist sicher auch zuzuschreiben, dass 2009 Johann Friedrich Naumanns (1780–1857) epochales Werk Die Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas neu aufgelegt wurde. Bernd Brunner führte 2015 in seinem Buch Ornithomania ein Panoptikum der Verrücktheiten vor, zu denen Vogelliebhaber fähig sind. Und Jennifer Ackerman, um ein letztes Beispiel für den aktuellen Vogel-Hype anzuführen, landete 2016 mit The Genius of Birds (deutsch Die Genies der Lüfte) einen Sachbuch-Weltbestseller.

2017 gab es gleich drei Veröffentlichungen, die sich dem Thema auf je eigenwillige Art nähern. Jürgen Roth und Thomas Roth legten im Blumenbar Verlag eine Kritik der Vögel vor. Für Matthes & Seitz stellte Peter Krauss unter dem Titel Singt der Vogel, ruft er oder schlägt er? ein Handwörterbuch der Vogellaute zusammen. Die Neue Rundschau widmete ihre erste Ausgabe des Jahres einer Poetischen Ornithologie. Literatur trifft Vogelkunde.

Dass Vögel, wie die reine Vernunft oder die Warenästhetik, Gegenstand einer Kritik, also der Beurteilung anhand bestimmter Maßstäbe sein können, erscheint erst einmal abwegig. So situiert sich die Kritik der Vögel auf der Buchrückseite auch gleich im Umkreis der Neuen Frankfurter Schule, und das nicht nur, weil F.W. Bernstein die Illustrationen beigesteuert hat. Es ist also nicht ganz unernst gemeint, was die Brüder Jürgen und Thomas Roth, der eine Schriftsteller, der andere Historiker, sich vorgenommen haben.

Wie es sich für so ein grundlegendes Werk gehört, werden in einer ausführlichen Einleitung Verhaltensbiologen, Kommunikationsforscher und Vogelhermeneuten herbeizitiert, die von philosophischen Rotkehlchen und in sich ruhenden Flamingos berichten, aber auch von miesen Möwen und kükenmordenden Putenmüttern sowie von Papageien, bei denen der Alkoholgenuss den Schnabel löst. Aristoteles, lesen wir, findet Spuren seelischer Gesinnung bei Vögeln, Jules Michelet sieht in der Brutpflege eine Art Proto-Moral. Derart wissenschaftlich unterfüttert, machen sich die Autoren auf, „die Intellektual- und die ethische Verfasstheit des Vogelkosmos“ zu erforschen. Methodisch schlagen sie sich auf die Seite von Alfred Brehm, der im Vorwort zu seinem berühmten Tierleben über Wissenschaftler herzieht, die vor lauter Zergliederungs- und Systemkunde keine Zeit mehr fänden zur Beobachtung der Tiere als handelnde und wirkende Wesen.

In 40 zumeist monografischen Einträgen collagieren die Autoren munter Zitate aus Büchern, Zeitungen, Fernsehen und Internet sowie anderen subalternen Quellen, mischen fröhlich Aussagen von Gerhard Polt und Harvey Keitel bis Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Paul Watzlawick darunter, beuten genussvoll Grimms Wörterbuch aus und geizen auch nicht mit steilen Formulierungen und starken Sprüchen. Bis auf wenige Exoten wie den Nashornvogel, die Harpyie oder den Kea sind alle untersuchten Vögel dem Leser wohlbekannt. Klare Urteile über Kleiber, Adler, Spatz und Specht heißt das Buch im Untertitel.

Auf den Kleiber, auch Spechtmeise genannt, lassen die Autoren nichts kommen. Sie nennen ihn „Kopfübervogel“, einen beiläufigen Akrobaten, der auf die Schwerkraft pfeift. Er gilt als Baufacharbeiter, der seine Baumhöhle nach allen Regeln der Kunst verleimt und abdichtet. Egal, was er gerade macht, er ist gutgelaunt und freudig. Wenn er eine Nuss einklemmt, um sie aufzumeißeln, sieht das wie ein Tanz aus, nicht wie Arbeit. Der Kleiber ist einer, der zu leben weiß. Kein Wunder, dass er von den Kritikern der Neuen Frankfurter Schule hoch geschätzt wird. 

Meisen, lernen wir gleich im ersten Satz des Eintrags, sind dagegen „nicht ganz dicht“: nassforsch und rücksichtslos, jähzornig und neidisch – und vor allem hyperaktiv. Sie sind die Abräumer am Futterplatz, gehen auf Plündertour durch die Gärten und kennen kein Erbarmen gegenüber Schwächeren. Von ihrer Gestalt her ist die Schwanzmeise ein „fliegender Pfannenstiel“. Kurz, die ach so beliebten Meisen sind alles, was nicht fein ist, und definieren den als „Nonspechtnichtmeise“ apostrophierten Kleiber ex negativo als guten Typen.

Und die Spechte? Sind rein, einfach und haben nichts Böses, sagte schon Hildegard von Bingen. „Wir müssen uns den Specht als glücklichen Vogel vorstellen“, sagen die Kritiker heute und feiern ihn als gewandten Performer am Stamm, als seriösen Handwerker, der eine Arbeit um ihrer selbst willen gut macht, und sich als Waldkonservator auch noch um das große Ganze kümmert. Einen äußerst kräftigen Schnabel zu haben, der nicht für den Kampf geeignet ist, macht ihn zum Humanisten und Pazifisten. Der Specht ist der Vogel Utopie – der Kleiber das, was unter den herrschenden Umständen möglich ist. So ist die launig-gelehrte Kritik der Vögel im Grunde als Fabel in der Tradition von Aristophanesʼ Wolkenkuckucksheim zu lesen – bekanntlich eine Kritik am athenischen Stadtstaat unter Perikles. „Sich ausdenken, was Tiere an einem zu loben fänden.“ Diese Aufforderung Elias Canettis reichen die Autoren zum Schluss an den Leser weiter.

Schon der Buchtitel besagt, dass es bei Peter Krauss ums Akustopoetische geht: Singt der Vogel, ruft er oder schlägt er? Drei Allerweltsverben, die darauf hinweisen, wie ärmlich der Wortschatz ist, der bei der Beschreibung von Lautäußerungen aus der Vogelwelt üblicherweise verwendet wird. Dabei ist das Deutsche sehr reich an differenzierten Bezeichnungen für die Töne, die Vögel in den verschiedensten Lebenslagen von sich geben. Nur gehörten die allermeisten davon in eine Rote Liste, wenn es die auch für bedrohte Wörter gäbe. Mit dem schön gestalteten Handwörterbuch der Vogellaute liegt nun ein Archiv vor. Schlägt man etwa bei der Feldlerche nach, laut Nikolaus Lenau eine „Singrakete“, so erfährt man, dass sie ihre Stakkato- und Paarstrophen nicht nur trillert und wirbelt, sondern auch tiriliert, tremoliert, quiriliert oder quinkeliert, es sei denn, sie stümpert, weil ihr die Begabung für den Gesang fehlt.

Kraussʼ weiß in seiner Linguistik der Vogellaute zu unterscheiden zwischen eigentlichen Vogelrufen und instrumentalen Lautäußerungen, etwa dem Meckern der Gabelweihe, das durch die Bewegung der Schwingen produziert wird. Nicht selten stehen bei der Übersetzung von Vogellauten in die Wortsprache klangliche Hervorbringungen anderer Lebewesen Pate, wie beispielsweise beim Bellen des Reihers, Blöken des Pelikans, Jodeln des Kiebitzes oder Miauen des Bussards. Bei originär vogelspezifischen Bezeichnungen besteht oft eine Korrespondenz zwischen Vogelnamen, Ruf und Tätigkeitswort: Die Blauracke „rackt“, weil ihr Ruf wie „rackrack“ klingt, der Wiedehopf heißt nach seinem Paarungsruf „hupphupp“.

Von Adler bis Zwergschnepfe werden 82 Vögel in prächtigen Aquarellen des 18. und 19. Jahrhunderts vorgestellt. Aufgelistet und kurz kommentiert wird das gesamte Spektrum ihrer Lautäußerungen samt Quellenangaben, Notenbildern und Anekdoten, wie dem jährlichen Finkenwettgesang im Harz, seit 2014 Immaterielles Kulturerbe, das jedoch von den Tierschützern nicht anerkannt ist.

Ein Kleinod im Anhang des Buches ist der Sprossergesang, notiert von Johann Matthäus Bechstein in seiner Naturgeschichte der Stubenvögel von 1795 – mehr als 100 Jahre vor Hugo Ball und Kurt Schwitters! Angesichts dieses Lautgedichtes ist Jürgen und Thomas Roth nur zuzustimmen, wenn sie in ihrer Kritik der Vögel vermuten, dass der Sprosser in puncto poetischer Würdigung nur hinter der Nachtigall zurücksteht, „weil er auf Rügen singt und nicht in Ravenna“:

Gia – gü gü gü!/ Hagoi, hagoi, zü zü zü zü./ Gergegegegegeh,/ Zicka Zerrrrrrrrr –/ Hoa, goigoigoi gi,/ Zicka zicka zicka./ Davitt davitt davitt!/ Owawawawawawat,/ Gockörk gockörk;/ Geden geden geden geden geei,/ Goi goi goi goi girrrr –/ Philipp Philipp Philipp!/ Golka golka golka golk./ Hia giagiagiagia;/ Glock glock glock glock glock glock./ Geä geä geä gi!/ Sherk sherk Sherketz/ Goi gagagaga gägi,/ Heih heid heid heid hi:/ Woi da da! Woi da da!/ Gei gei gei gei girr girr./ Hoi gegegege,/ Hoigoi! Zerrrrrrretz.

Schließlich die Poetische Ornithologie, herausgegeben von der Künstlerin und Schriftstellerin Teresa Präauer, die als Gastprofessorin an der FU Berlin im Sommersemester 2017 auch ein Seminar zum „Flugwesen in der Literatur“ gehalten hat. Die Anthologie über den Vogel als Denkfigur versammelt 25 Texte – Erzählungen, Gedichte, Essays und ein Interview.

Ältestes Zeugnis der Liaison von Ornis und Poesis im deutschen Sprachraum ist Walther von der Vogelweides Lied Under der linden: Eine Liebesnacht, mit der Nachtigall als einziger Zeugin, die das Geschehen, so dezent wie anzüglich, nur mit „tandaradei“ kommentiert. „Als trüge der Vogel das Brieflein Literatur im Schnabel“, interpretiert Teresa Präauer. Denn Sinn entsteht erst im Hör- oder Leseakt, wäre vielleicht hinzuzufügen.

„Was ist Ornithopoesie?“ fragt Georg Jappe, grenzüberschreitender Künstler und Dichter, der beim Bielefelder Kolloquium „Neue Poesie“ unter Missbilligung Helmut Heißenbüttels Vogelaufnahmen vorführte, als „Fremdsprache, zu der wir mit keinem Wort Zugang haben“. Er betrieb ein Leben lang die Umsetzung der Ornithologie in formuliertes Erlebnis, sah sich als Ersthörer, der das Gehörte weitergibt: „Es sind nicht die Kraniche selbst, das Lauschen auf Kraniche ist das poetische Ereignis.“

„Sich in einen Vogel zu verwandeln“ ist leicht, schreibt Andrea Grill, denn das Basismaterial ist da: das Ei, aus dem Mammalia und Aves kommen, sowie die Wirbelsäule. „Wen gäbe es noch, der trotz Rückgrat zweibeinig läuft?“ Mit Jakob Degen legt sie sich Flügel an und erhebt sich mit seinem Ornithopter von 1808 über Wien. Flugs verwandelt sie sich in Charles Darwin auf den Galapagosinseln. Was ihm die Finken, sind ihr die Tauben. Vererbte Gesänge? Familiendialekte? Wie man etwas sagt? Immer bringt Luft aus den Lungen Membranen zum Schwingen, bei Menschen im Larynx, bei Vögeln in der Syrinx.

Es gibt noch weit mehr zu entdecken in der Anthologie: Die Schreibszene mit Eichelhäher, Elster oder Dohle, die für Marcel Beyer die Frage aufwirft, ob und wie sprachferne Erfahrung zu fassen ist. Oder Jan Snelas Text über H.C. Artmann, der sich als „das kind aus einer verbindung einer wildente und eines kuckucks“ beschreibt. Oder Claudia Dürrs Essay, in dem es heißt, dass man beim traditionellen Lied „nicht über etwas singe, sondern versuche, singend etwas zu erschaffen, einen  Menschen, eine Insel, einen Vogel“. „Auf einem Baum ein Kuckuck – Simsalabim bamba saladu saladim“, kommt dem Rezensenten in den Sinn. Oder Margaux de Weck, wenn sie sich in der kurzen Erzählung eines Kindheitsherbstes in die Vogelperspektive aufschwingt. Oder Franz Friedrich, der bei den Franziskanern anfragt, warum die Vögel bei der Vogelpredigt des Franz von Assisi stumm sind. Oder, um zum Ende zu kommen, ein poetisches Birding par excellence, bei dem Schauplatz, Tageszeit und Handlung in eins fallen. Die Stare im Mohn von Mirko Bonné:

Der Busch voll schwarzer Blüten,/ mitten im Mohn, als du morgens/ vors Haus gehst, in die Grasdünen,/ der sonderbar schwarze Strauch/ sprüht davon, steigt auf, der Rest/ der Nacht rauscht ab in die Bläue,/ den vorüberfliegenden neuen Tag.

Titelbild

Teresa Präauer (Hg.): Neue Rundschau 2017/1. Poetische Ornithologie.
128. Jahrgang 2017, Heft 1. Herausgegeben von Hans Jürgen Balmes, Jörg Bong, Alexander Roesler und Oliver Vogel.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
272 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783108091095

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Peter Krauss: Singt der Vogel, ruft er, oder schlägt er? Handwörterbuch der Vogellaute. Die Lautäußerungen der Vögel. Bestandaufnahme eines aussterbenden Wortschatzes.
Herausgegeben von Judith Schalansky.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
224 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573933

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Jürgen Roth / Thomas Roth: Kritik der Vögel. Klare Urteile über Kleiber, Adler, Spatz und Specht.
Illustriert von F. W. Bernstein.
Blumenbar Verlag, Berlin 2017.
320 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783351050320

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