Blinde Superheldin im Einsatz

Andreas Pflüger schickt seine blinde Heldin zum zweiten Mal ins Gefecht: „Niemals“ ist gekonnt inszeniert, lässt aber Raum für kritische Bemerkungen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der B-Besetzung der Marvel-Comics gibt es eine Figur, die es mittlerweile auf Netflix zu hinreichendem Ruhm gebracht hat. Daredevil ist zwar blind, hat aber eine besondere Art der Wahrnehmung entwickelt (bei der im Film Gegenstände als halbwegs lodernde Schemen erscheinen). Sie erlaubt es ihm, schneller und zielgenauer als seine sehenden Gegner zuzuschlagen. Nun, die Heldin von Andreas Pflügers Niemals, Jenny Aaron, ist fast so gut wie Daredevil, eine Spezialagentin schon vorher, blind ist sie seit einem missglückten Einsatz, aber trotzdem äußerst wehrhaft, und kompetent sowieso.

Jenny Aaron orientiert sich halbwegs am Fledermausprinzip, indem sie die Rückkopplung der Geräusche, die sie ausstößt, auswertet und damit ihre Umgebung wahrnehmen kann. Mit anderen Worten: Sie läuft stets schnalzend und mit harten Absätzen auftretend durch die Welt, was eigentlich mehr auffallen müsste, als es im Roman der Fall ist. Aber man soll nicht nörgeln, denn Jenny Aaron und ihre Abenteuer in der Welt der Sehenden sind recht unterhaltsam. Und das schon zum zweiten Mal nach dem 2016 erschienen Thriller Endgültig. Was will man mehr?

Besonders großes Gefälle bekommt der Plot, den sich Andreas Pflüger für seine blinde Heldin ausgedacht hat, dadurch, dass sie mit einer streng geheimen Spezialeinheit, die die „Abteilung“ genannt wird, hinter keinem Geringerem als dem Mastermind des internationalen Verbrechens her ist, der ihr von ihrem Alter Ego, dem sie ihre Erblindung verdankt, präsentiert wird. Dass diese Suche mit einer misslungenen und Jahre zurückliegenden Aktion zusammenhängt, bei der ein Informant Aarons ums Leben kam, ahnt man angesichts der Nachhaltigkeit, mit der sie und der Erzähler an diese Geschichte erinnern.

Allerdings stammt das Vergnügen, dass dieser Agententhriller bereitet, ja nicht daher, dass der Fall besonders kompliziert gebaut wäre und außerordentliche Überraschungen böte, sondern aus der Kombination der außerordentlichen Fähigkeiten der Heldin, ihren immerwährenden Selbstzweifeln, dem internationalen Flair, das durch allerhand rasante Reisen und Einsatzorte ins Gehege kommt, und der rücksichtslosen Gewalt, mit der das internationale Verbrechen auftritt. Wenn etwas und jemand ins Reich des Bösen vorstößt, um seinen Herrscher zu jagen, dann gelten dort eben andere Gesetze als in der unsrigen, die eben auch davon lebt, dass andere ihren Kopf für uns hinhalten.

Das alles ist kompetent entworfen und geschrieben. Leser werden so kurz am Bändel gehalten, dass sie alles mitmachen, auch das, was bei ein bisschen Distanz wenig plausibel wirken würde. Sie jagen mal eben nach Marrakesch und fliehen durch die Wüste ab nach Hause oder entführen mal eben jemanden. Wenn ein Thriller derart auf Action setzt und alle Erwartungen erfüllt, die man an ihn hat, aber eben nicht übererfüllt, dann ist das schon etwas. Wer Vergleichbares lesen will, wo das nicht gelungen ist, wende sich an Dominik W. Rettingers Die Klasse.

Andreas Pflüger kann sich seiner Sache also recht sicher sein, zumal die Sprache, der Duktus und die Dynamik der Erzählung mit dem, was er hier erzählt, Schritt halten kann. Pflüger bleibt quasi immer im Kommandomodus, selbst wenn er intime Themen abhandelt.

Umso schärfer lässt sich freilich konzeptionell gegen den Roman argumentieren: Seine massiv gehandicapte Heldin ist auf ihre Art deutlich überkompetent – so weit, dass er im Wald allein joggen kann, wird ein ‚normaler Blinder‘ nicht kommen, wenn er denn dafür nicht das angemessene Schmerzensgeld wird zahlen wollen. Jenny Aaron ist in ihrer Art zu gut und wehrhaft, um glaubhaft zu sein – und da hilft auch nicht der mögliche Hinweis darauf, dass es Leute geben soll, die sowas tatsächlich können.

Ein Geschmäckle hat auch die Freizügigkeit, mit der die deutschen Agenten in der Welt ihr Wesen treiben, was nicht für alle ein Segen ist (auch wenn französische Regierungen mit afrikanischen Ex-Potentaten und Massenschlächtern kooperieren mögen). Seitdem es Deutsche unter Waffen im Auslandseinsatz gibt, hat sich hier vieles geändert, auch in der Fiktion.

Dann der merkwürdige, naheliegend positive Korpsgeist, den die „Abteilung“ und ihre Angehörigen auszeichnet. Mag sein, dass er erzählökonomisch sinnvoll ist und ein Pendant zur Selbstsucht der Bösen darstellen soll. Diesseits des Limes gehen diese Leute jedenfalls geschlossen vor und stehen zueinander – bis auf den einen oder anderen Verräter. Zu bedenken ist halt nur, dass dieser Korpsgeist – von der anderen Seite betrachtet – ein wenig an historische Vorgänger erinnert, die dann Verräter haben der Feme verfallen lassen. Das kann man sicherlich nicht miteinander vergleichen…

Und schließlich noch das seelische Leiden der Heldin, das am verstorbenen Übervater hingebungsvoll leidet und schließlich auch seinen Frieden finden muss. Am besten am Wesen des Vaters genesen. Soll heißen, wenn man all das hinzunehmen bereit ist, wie man es eben auch bei amerikanischen Korpsfilmen hinnimmt, dann ist alles gut. Auch dieser Roman.

Titelbild

Andreas Pflüger: Niemals. Thriller.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
475 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427569

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