Eine Mauer durch die Ukraine

Oleksandr Irwanezʼ Anti-Utopie „Pralinen vom roten Stern“ ist auch 15 Jahre nach ihrem Erscheinen in der Ukraine noch von brennender Aktualität

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oleksandr Irwanezʼ Roman, der im Deutschen den nichtssagenden Titel Pralinen vom roten Stern trägt – das ukrainische Original ist mit Riwne/Rowno weitaus treffender überschrieben – erschien im Jahr 2002 in der Ukraine. Da war noch nicht an die Orange Revolution im Anschluss an die ukrainischen Präsidentschaftswahlen vom Oktober/November 2004 zu denken, geschweige denn an die als „Euromaidan“ in die Geschichte eingegangenen Massenproteste der Jahre 2013 und 2014, die in die russische Annexion der Krim und bewaffnete Konflikte im Osten des Landes mündeten, die bis heute anhalten. Umso erstaunlicher, dass der 1961 in Lemberg geborene Irwanez, dessen im Westen noch relativ wenig bekanntes Werk Lyrik und Prosa, Theaterstücke und Übersetzungen aus dem Russischen, Weißrussischen und Polnischen sowie zahlreiche Literaturkritiken umfasst, in seinem satirischen Roman eine Teilung seiner Heimat voraussah, wie sie heute durch die sezessionistischen Bewegungen in der Ostukraine angestrebt wird.

Irwanezʼ Held Schlojma Ezirvan – der Nachname des 42-Jährigen ist ein Anagramm des Nachnamens seines Erfinders – lebt in einer Stadt, deren einer Teil, Rowno, zur Sozialistischen Republik Ukraine (SRU) gehört, während das von ihm umschlossene Riwne zur Westukrainischen Republik (WUR) zählt. Rund um Riwne sorgt eine gut bewachte Mauer dafür, dass sich niemand aus dem ärmlichen Rowno in die kapitalistische Enklave Riwne absetzen kann. Irwanez hat sich bei mehreren Aufenthalten in Deutschland nach der Wende ein Bild machen können von der deutschen Teilung und der Situation Berlins zwischen 1961 und 1989, das sich teilweise in seinem Roman wiederfindet, etwa wenn dort von abenteuerlichen Fluchtversuchen per Drachen oder Untertunnelung der Mauer die Rede ist. Geschützt wird der Status quo zwischen Rowno und Riwne durch polnische und deutsche NATO-Soldaten, ein Transitkorridor ermöglicht – wenn auch unter erschwerten bürokratischen Bedingungen – den gegenseitigen Besuch von Verwandten, da der Mauerbau von einem Tag zum anderen ganze Familien auseinandergerissen hat.

Ezirvan ist einer der von der Teilung Betroffenen. Am Tag des Mauerbaus vor fünf Jahren war er zu Besuch in jenem Teil der Stadt, der über Nacht eingemauert wurde. Getrennt von seiner Familie, den Eltern und der Schwester, erreichten ihn Nachrichten über deren Leben nur noch durch – stark zensierte – Briefe der Mutter. Anträge auf Besuche wurden regelmäßig abgelehnt. Und während Schlojma in Riwne zu einem Schriftsteller von europäischer Bedeutung heranreifte, blieb das Leben, das die anderen Ezirvans hinter der Mauer führten, für ihn ein Buch mit sieben Siegeln, ahnte er kaum, wovon sich die nur ein paar Kilometer entfernt Lebenden ernährten, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienten, wovon sie träumten und was sie brauchten.

Die Wende kommt ausgerechnet an einem 17. September, dem Jahrestag des Einmarsches der Sowjetunion als Verbündeter Nazi-Deutschlands in Polen 1939. In einem 14 Tage alten Schreiben des „Gebietsamts für inneren und äußeren Reiseverkehr der Bevölkerung der SRU des Gebiets Rowno“ wird Schlojma Ezirvan ein eintägiger Besuch bei seinen Verwandten gestattet. Allein an diesem 17. September des Jahres 2000 soll auch des Schriftstellers neues Bühnenstück „Programmvorschau auf übermorgen“ im Freien Theater von Riwne unter der Leitung eines deutschen Top-Regisseurs und mit dem europäischen Bühnenstar Isabella Stolz in der Hauptrolle Premiere feiern. Und während Schlojma noch schnell ein paar Sachen einkauft, von denen er hofft, dass sie bei seinen Verwandten für ein wenig Freude sorgen könnten, ahnt er nicht, dass ihn der östliche Geheimdienst am Ende seines Besuches mit einer Mission beauftragen wird, die die Wiedervereinigung der beiden Stadtteile unter sozialistischen Auspizien zum Ziel hat.

Schlojma Ezirvans Reise durch einen Osten, in dem sich nichts verändert hat seit den Zeiten, in denen die ganze Ukraine noch Teil der UdSSR war, nimmt den Hauptteil von Oleksandr Irwanezʼ Roman ein. Hier zeigt der Autor eindrucksvoll, welch satirisches Genie in ihm steckt. Bewacht von zwei dubiosen KGB-Chargen bekommt Schlojma, nachdem man ihm an der Grenze sein letztes „Westgeld“ abgeschwindelt hat, nur kurz die Gelegenheit, mit seiner eingeschüchterten Mutter zu sprechen.

Dann wird er zu einer Versammlung von parteitreuen Schriftstellern ins „Haus der geistigen Arbeit des Gebietskomitees der kommunistischen Partei der SRU Rowno“ gebracht, wo man ihm in guter alter soz/realistischer Tradition für sein dekadentes Werk die Leviten liest. Endlich von dort ausgebüchst, landet er schließlich nach Konfrontationen mit betrunkenen Raufbolden und einer alten Jugendliebe am Krankenbett von Stepanida Dobromoletz, der großen alten Dame der „ewig sterbenden und zugleich ewig lebenden Ukrainischen Sowjetliteratur“, die ihm ihr Lebenswerk zur Veröffentlichung im Westen anvertraut. Doch die „Polesische Saga“ mit dem Gewicht von „mindestens eineinhalb Kilo, wenn nicht sogar zwei“ stellt sich letztendlich als Leere-Blatt-Sammlung heraus.

Juri Andruchowytsch, der Pralinen vom roten Stern mit einem informativen Vorwort versehen hat und mit Oleksandr Irwanez und Wiktor Neborak zwischen 1987 und 1992 als Dichter-Trio unter dem Namen „Bu-Ba-Bu“ – „Burleske, Balahan (respektive Jahrmarktskunst) und Buffonade“ als „ästhetische Subversion“ und Verschiebung der „herrschenden Grenzen des Anstands in der Dichtung“ – in Lemberg auftrat, weist auf den 17. September als ein „sprechendes Datum“ hin. Im Jahre 1939 wurde an diesem Tag die „ukrainische Einheit“ hergestellt, die allerdings „kommunistisch und vor allem erzwungen“ war und das Ende der zweiten Polnischen Republik bedeutete. Die Hauptstadt des neuen Staatsgebildes hieß Kiew, die „Haupthauptstadt“, wie Andruchowytsch sie nennt, aber war Moskau. Mit dem Zerfall der Sowjetunion im Laufe der 1990er Jahre bot sich dann die Chance auf eine sich wandelnde, demokratische, europäisch orientierte Ukraine – und, damit einhergehend, auf neue gesellschaftliche Perspektiven. Doch die unterschiedliche Orientierung der beiden Landesteile – der Westen hin zu Europa, der Osten hin zu Russland – blieb bestehen und sorgt bis heute für Konflikte.

Oleksandr Irwanezʼ Groteske spiegelt in gewisser Weise diese Situation – auch wenn die „Realität“ des Romans weder geografisch noch historisch-politisch mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmt. Das Buch entstand in einer Periode aufkommender und in die Orange Revolution mündender Hoffnung, warnt aber als eine Art Anti-Utopie vor dem Rückfall in eine niemandem nützende Spaltung des Landes. Die „böse, komische, absurde, primitive, totalitäre, soz-realistische parodiehafte Vergangenheit“ (Andruchowytsch), wie sie in der „karikierten SRU und ihrer abscheulichen Stadt Rowno – einer fast schon zeitlosen Verdichtung alles Sowjetischen, Anachronistischen und Abgestorbenen“ sichtbar wird, stellt in dieser Konstellation das Überwundene, das Gestern, die Historie dar. Die Gefahr, dass sich die „bösen Träume“ von einst in Zukunft wiederholen könnten, ist aber nicht nur Oleksandr Irwanez bewusst und hat bei Pralinen vom roten Stern als Schreibantrieb mitgewirkt, sondern sie macht auch die ungebrochene Aktualität seines bereits vor 15 Jahren erschienenen Romans aus.

Titelbild

Oleksandr Irwanez: Pralinen vom roten Stern. Roman.
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil.
Haymon Verlag, Innsbruck 2017.
223 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783709972472

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