Freiheit und Solidarität

Daniel de Roulet begleitet „Zehn unbekümmerte Anarchistinnen“ auf ihrer Auswanderung nach Südamerika

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Tal um das Städtchen Saint-Imier im Schweizer Jura steht für eine Geschichte in Gegensätzen. Vor rund 150 Jahren entstanden hier innovative Uhrenfabriken mit den Namen Longines, Heuer oder Breitling, die heute für einen Luxus stehen, den die Wohlhabenden der Welt gerne am Handgelenk tragen. Diese Fabriken mobilisierten im 19. Jahrhundert die ganze Talbevölkerung. Es gab viel Arbeit, sodass auch Frauen ganz selbstverständlich in der Uhrenbranche eine Anstellung fanden. Allerdings blieb das Geschäft volatil, auf Hochs folgten konjunkturelle Flauten, wodurch vor allem die Frauen ihre Arbeit auch schnell wieder verloren.

Diese Pendelbewegungen schärften das Bewusstsein der Arbeiterschaft. Als erster erkannte das der Anarchist Michail Bakunin, der 1869 in die Jura-Region reiste und Vorträge hielt. Die Uhrmacher und Uhrmacherinnen zeigten sich empfänglich für seine Ideen. Auch deshalb fand 1872 in Saint-Imier ein anarchistischer Kongress statt, auf dem die „Antiautoritäre Internationale“ ins Leben gerufen wurde. Mit zugegen war auch der junge Anarchist Errico Malatesta. Er sollte in den nachfolgenden Jahren mit leidenschaftlicher Unruhe in Europa und Südamerika Streiks und Aufstände anzetteln.

Diese historische Konstellation lässt der Schweizer Autor Daniel de Roulet in seinem Roman Zehn unbekümmerte Anarchistinnen wieder aufleben. In Zeiten wirtschaftlicher Flaute wählten viele Menschen den Ausweg der Auswanderung – so wie es damals große Teile der Bevölkerung taten, die versuchten, der Not in den Schweizer Tälern nach Amerika zu entkommen. Sie alle waren im heutigen Wortgebrauch Wirtschaftsflüchtlinge, die sich anderswo ein Auskommen und eine Zukunft erhofften. Unter ihnen befanden sich auch zehn junge Frauen aus der Gegend von Saint-Imier. Im Sommer 1873 kehrten acht von ihnen ihrer Heimat den Rücken, um – mit Kindern, aber ohne Männer – in Patagonien, am Südzipfel Südamerikas, ihr Glück zu versuchen. Sie träumten von einem freien und selbstbestimmten Leben. Zum Zeichen ihrer Verbundenheit führte jede von ihnen eine identische „Zwiebeluhr“ von Longines mit sich.

Zehn unbekümmerte Frauen machten sich auf den Weg, doch wie beim Abzählvers waren es bald nur noch acht. Colette und Juliette, zwei verliebte Uhrmacherinnen, waren schon 1872 vorausgegangen und hatten dafür mit dem Leben bezahlt. Dennoch schifften sich die anderen Acht gleichfalls ein. Eine von ihnen war Valentine Grimm, die Erzählerin in de Roulets Roman. Sie hatte die ganzen Jahre über ein „grünes Tagebuch“ geführt, deshalb übernimmt sie als letzte der Frauen die Pflicht der Chronistin und berichtet aus ihrer Erinnerung, wie die Gruppe zuerst der Unwirtlichkeit im südchilenischen Punta Arenas trotzt, sich danach auf dem sprichwörtlichen Robinson-Eiland Isla Santa Maria einer anarchistischen Gemeinschaft anschließt und zuletzt in den sozialen Moloch von Buenos Aires eintaucht.

Sie wären nicht so weit gekommen, hätten sie einander nicht bedingungslos beigestanden. Selbst Männer, vor denen sie sich gewiss nicht scheuten, konnten keine Zwietracht unter ihnen säen. Ihre anarchistische Überzeugung war nicht ideologisch begründet, sie entstand vielmehr aus dem persönlichen Bedürfnis nach Freiheit und Solidarität. Die jüngste der Frauen, Mathilde Basswitz, unterhielt ständig Kontakt mit einem Aktivisten namens Benjamin, hinter dem sich Bakunins Jünger Errico Malatesta verbarg, den sie 1872 zu Hause in Saint-Imier kennenlernte. Er schlug ihr und Valentine vor, sie sollten ihm doch nach Buenos Aires folgen, um sich hier an Streikaktionen zu beteiligen.

Die Gruppe der unbekümmerten Frauen war zu jener Zeit längst nicht mehr vollständig, sie hatte sich laufend verkleinert. Die eine war in Punta Arenas hängen geblieben, mit Mann und Kind, eine andere verstarb an Cholera. Als Vorletzte erwischte es dann auch Mathilde, als sie während einer Demonstration in der vordersten Reihe von einem Scharfschützen der Polizei erschossen wurde.

Nur die zehn Zwiebeluhren blieben beisammen, zuletzt lagerten sie in einem Tresor in Buenos Aires, zum Zeichen der unverbrüchlichen Treue der unbekümmerten Frauen. Ihr Zusammenhalt spiegelt sich auch in Valentines Erzählung. Sie wählt dafür die spezielle und anfänglich etwas ungewohnte Form der Wir-Rede: „Wir, Valentine, die letzte der zehn Emigrantinnen, müssen uns allein an die Arbeit machen“, um stellvertretend zu erzählen, „was es kostet, die Welt neu zu erfinden“.

Im Folgenden berichtet sie geradlinig und ungerührt, was sie „eine Art politisches Testament“ nennt. Gegen Schluss erwähnt sie in knappen Worten, wie sie selbst mit dem Mut der Tollkühnen dafür sorgt, dass der Vorgesetzte des Mörders von Mathilde, der gefürchtete Oberst Falcón, seine gerechte Strafe erhält. Durch die anschauliche und klare Sprache gewinnt Valentines Geschichte Kraft und Glaubhaftigkeit.

Nicht alles hat genau so stattgefunden, wie der Roman es schildert. Daniel de Roulet hat, wie er in einem Text zur Entstehung des Buches schreibt, aus Dokumenten und Archivmaterialien „mehrere von mir rekonstruierte Lebensläufe erzählend miteinander verwoben“ und zu einem Roman ausgebaut. Insbesondere die Ermordung des Polizeiobersten ist nicht der Erzählerin anzulasten, tatsächlich war ein argentinisch-ukrainischer Anarchist der Täter. Der Autor diktiert seiner Heldin aber nichts künstlich in die Feder. Valentine schreibt, wie sie es vermag und nur das, was sie weiß. Auf diese vortrefflich schlichte Weise erinnert ihr Bericht eindrücklich an eine historische Epoche, in der die reiche Schweiz in vielen Regionen noch ein armes Auswandererland war.

Titelbild

Daniel de Roulet: Zehn unbekümmerte Anarchistinnen. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle.
Limmat Verlag, Zürich 2017.
184 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783857918391

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