Weltrevolution als ideologische Gewissheit und alltagspraktische Erwartung

Gleb J. Albert über den revolutionären Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht lange nach der Oktoberrevolution von 1917 wurde ein junger Mann, der 1897 geborene Pole Wacław Solski, ein Mitglied des lokalen Sowjets in Minsk, aufs Land geschickt, um eine Telegrafenstation der alten zarischen Armee zu übernehmen. Als erstes ließ sich das Kommando dort, wie der 1925 emigrierte Solski in seinen Erinnerungen berichtet, die eingelaufenen Telegramme aus dem Ausland zeigen, um sich über den Stand der revolutionären Bewegung im Westen zu informieren. Zum Leidwesen der Beteiligten enthielten die Nachrichten darüber nichts. Statt sich mit dieser – vermutlich enttäuschenden – Gegebenheit auseinanderzusetzen, flüchteten sich die Beteiligten in Verschwörungstheorien. Der konterrevolutionärer Gesinnung verdächtigte Telegrafist habe, waren sie überzeugt, die Meldung über den stündlich herbei gesehnten Beginn der Weltrevolution absichtlich unterschlagen. Ähnliche Erwartungen und Mentalitäten offenbart ein Brief, den im Mai 1918 die Führung der lokalen bolschewistischen Partei im sibirischen Omsk an das Zentralkomitee in Moskau richtete. „Wir warten auf Mitteilungen aus dem Westen“, hieß es da. Es könne doch nicht sein, wurde moniert, dass die dortigen Genossen mit ihrer viel reicheren revolutionären Erfahrung das „russische Proletariat für lange Zeit“ allein „gegen die internationale Bourgeoisie kämpfen ließen.“

Die Weltrevolution, das zeigen die beiden Streiflichter, war ubiquitär: nicht in der Realität, wohl aber in den Köpfen. Darin steckte nicht allein Wunschdenken, sondern ideologisch grundierte Gewissheit. Schon Karl Marx und mit ihm die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts waren darin einig, dass die Umwälzung des Kapitalismus nur dann von Dauer sein könne, wenn sie sich im weltweiten Maßstab vollzöge: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“, postulierte das Kommunistische Manifest von 1848. Dass dieser Prozess 1917 seinen Anfang im rückständigen, vorwiegend agrarischen Russland und nicht in einer der fortgeschrittenen Industrienationen seinen Anfang nahm, war in der marxistischen  Theorie eigentlich nicht vorgesehen. Umso mehr setzten Wladimir Iljitsch Lenin und seine Mitstreiter auf Revolutionierung der westlichen Welt, indem sie den globalen Charakter und die Vorreiterrolle der Oktoberrevolution herausstrichen. Die Ereignisse, die dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen und der deutschen Monarchie folgten, schienen diese Auffassung zunächst zu bestätigen. Lenin glaubte in diesen Ereignissen eine Beglaubigung dafür zu sehen, dass das russische Volk „nicht umsonst gelitten“ habe.

Aber weder die Novemberrevolution von 1918 in Deutschland, die bestenfalls eine halbe war und nur eine Minderheit erfasste, noch die kurzzeitige, blutig niedergeschlagene Münchener Räterepublik, noch – ungleich ausgreifender – ihr Pendant in Budapest unter Béla Kun erfüllten die von den Bolschewiki gehegten Erwartungen, die noch einmal 1923 im deutschen Oktober neue Nahrung erhielten. Nachdem dieser dilettantisch organisierte, auf Fehleinschätzungen und Autosuggestion beruhende Versuch einer kommunistischen Machtergreifung abgebrochen werden musste, ehe er überhaupt Wirkung entfalten konnte, war die Epoche eines revolutionären Internationalismus faktisch vorbei. 1926 flackerte er aus Anlass des Generalstreiks in Großbritannien noch einmal auf, aber auch dieser war auf Sand gebaut, speiste sich aus Trugbildern, nicht aus nüchterner Analyse der herrschenden Verhältnisse. Kein Zufall war, dass danach die von Joseph Stalin im innerparteilichen Machtkampf nach Lenins Tod mit der Losung vom „Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Land“ gegen seinen Widersacher Leo Trotzki endgültig in die Vorhand kam.

Dies ist gleichsam die Rahmenerzählung, in die Gleb J. Albert seine Studie über weltrevolutionäres Denken und Tun in der frühsowjetischen Gesellschaft einbettet. Dabei werden die von oben inszenierten, von der Zentrale den nachgeordneten Instanzen der Partei ans Herz gelegten, mit den “richtigen“ Parolen ausgestatteten Resolutionen, Betriebsversammlungen, Kampagnen und Solidaritätsadressen ausführlich einbezogen und zitiert, aber der eigentliche Drehpunkt der Analysen zielt auf deren Stellenwert an der Basis, zielt auf die Ebene der Gouvernements, Rayons und der Städte jenseits der Metropole, auf das Erscheinungsbild, die sozialen und kulturellen Praktiken, auf den Zusammenhalt und die Erwartungshorizonte der Partei mitsamt den Strategien, mit deren Hilfe sich diese in der Provinz zu verankern trachtete. Die historische Forschung hat das bislang zumeist nur am Rande wahrgenommen. Insofern liegt gerade hier ein wesentliches, empirisch und konzeptionell neue Wege beschreitendes Verdienst von Alberts Explorationen vor, die mit Hilfe zahlreicher archivalischer, bisher nicht oder nur unzureichend beachteter Zeugnisse so etwas wie einen historiografischen Blickwechsel von oben nach unten vollziehen und auf durchgehend hohem Reflexionsniveau ins Werk setzen.

Wesentlich vier zentrale Begriffe bestimmen die Struktur der Argumentation. Da wären zunächst die Protagonisten: die „Aktivisten“, Personen mit oder ohne Bindung an die Partei, die sich „bewusst“ und aus „persönlich-politischer Motivation“, nicht jedoch aus  Karrierestreben dem Kommunismus verschreiben. Für den Autor sind sie Enthusiasten, die kategorial freilich kaum zu fassen sind. Nicht von ungefähr entbehren sie der individuellen Note und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – der biografischen Anschauung. In der Darstellung bleiben sie, was den konsultierten Quellen geschuldet sein dürfte, ein gesichtsloses Kollektiv. Zusammengehalten wird dieses – damit kommt der zweite Leitbegriff ins Spiel – durch die mobilisierende Ideologie des „Internationalismus“. Womöglich liegt hier, wie Albert vermutet, „eines der entscheidenden Bindemittel für die sozial heterogenen Aktivisten unterhalb der Parteiführungsebene.“ Bolschewistischer Internationalismus ist notabene das Gegenteil von „bürgerlichem Patriotismus“. Im Idealfall wissen sich seine Adepten frei von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und ethnischem Überlegenheitsgestus, sie denken in internationalen Zusammenhängen und streben nach revolutionärer Überwindung des Nationalismus. Die Akteure, die sich in diesen Bahnen bewegen, sind geprägt und werden bestärkt von der Kraft der Idee, aus der sie Glaubens- und Handlungs-, Gegenwarts- und Zukunftsgewissheit beziehen.

Hier entfaltet sich, wie der Titel des Buches nahelegt, schließlich drittens das „Charisma“der Weltrevolution, das sich nicht allein in den zwischenstaatlichen Beziehungen auswirkt, sondern mindestens ebenso sehr in innergesellschaftlichen Praktiken, die sich zu einem spezifischen Konzept einer von oben angeleiteten und kontrollierten Vergemeinschaftung verdichten. Albert subsumiert dies viertens unter „obščestvennosť“, ein traditioneller, von den Bolschewiki neu aufgeladener und nur schwer ins Deutsche transformierbarer Begriff. Dabei schwingen Worte wie Öffentlichkeit, Verein und Assoziation mit. Konstituiert werden soll damit eine spezifische und identitätsstiftende Form „sowjetischer Gesellschaftlichkeit“: nicht im Sinn eines “zivilgesellschaftlichen“ Raumes offener und pluralistischer Diskurse, sondern als normiertes, eingehegtes Gebilde, das im Prinzip allen zugänglich ist, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sie sich die Ansprüche und Perspektiven der Partei anverwandeln und sich ihnen unterwerfen.

Diese einstweilen abstrakten Erwägungen werden nach der umfänglichen Einleitung in sieben, empirisch gehaltvollen Kapiteln mit Leben gefüllt, bei denen allenfalls ein gewisser Hang zu redundanter Begriffsgymnastik stört. Eine der Plattformen, die im Feld des Internationalismus eine maßgebliche Rolle spielte, war die im Dezember von der Komintern gegründete „Internationale Rote Hilfe“, deren sowjetische Sektion als „Internationale Organisation zur Hilfe an die Kämpfer der Revolution“ (abgekürzt MOPR) firmierte. Sie stand, wie der Autor im Blick auf deren innenpolitische Bedeutung notiert, „für die Veralltäglichung und Institutionalisierung von internationalistischem Charisma“. Trotz mancher Reibungsverluste agierte sie an der kurzen Leine der Partei, wie diese huldigte auch sie dem Prinzip des „demokratischen Zentralismus“, also einer von oben nach unten manipulierten Willensbildung. Ihre Aufgabe bestand unter anderem darin, die widerspenstigen, den sowjetkommunistischen Idealen wenig geneigten, von schweren Repressionen gezeichneten Bauern für die Sache der Partei zu gewinnen. Wenn sie sich erst einmal der MOPR angeschlossen hätten, würde ihre „Verbindung mit dem Proletariat bewusster, breiter und tiefer“, schwärmte 1925 ein hoher Funktionär: „Auch der allerbeschränkteste Bauer, der durch die Schule der MOPR geht, wird sehr vieles von dem verstehen, was in der weiten Welt vor sich geht“, und damit wird er, wäre hinzuzufügen, die Maximen der bolschewistischen Partei besser erfassen und verinnerlichen. Die Realität hielt mit solchen Visionen allerdings nicht Schritt. Selbst da, resümiert Albert, wo es gelang, in den Dörfern Zellen zu installieren, vermochte man diese nicht „dauerhaft aktiv zu halten.“

Schon das zeigt, dass die Bevölkerung jenseits der Partei, also die viel berufenen und mythisierten „Massen“ vom „Charisma der Weltrevolution“ nicht wirklich ergriffen wurden. Das gilt eingeschränkt für die Phase des Bürgerkriegs, der zugleich Staatsgründungskrieg war, uneingeschränkt für die darauf folgende, noch von Lenin proklamierte „Neue ökonomische Politik“ mit ihrer partiellen und zeitlich limitierten Rückkehr zu Elementen “kapitalistischer“ Wirtschaftsweisen. Die fortwährend von der Partei inszenierten Apelle an die Solidarität mit den Genossen im westlichen Ausland  durchdrangen zwar weithin das Alltagsleben, aber was davon auf Grund individuellen Entschlusses erbrachte und nicht von oben angeordnete Leistung war, lässt sich kaum noch zweifelsfrei klären. Gewiss gab es Mitleid mit den in der Welt des Kapitalismus verfolgten und gefangenen Kommunisten, auch spielten ältere Traditionen der Wohltätigkeit eine Rolle, aber die üblichen Formen des Spendens und Sammelns, der Kundgebungen und Grußadressen, der zumeist kollektiven Patenschaften und Briefkontakte erschöpften sich mit den Jahren und sanken spätestens mit dem Beginn der Stalin-Ära herab zu weithin leeren Ritualen.

Des Öfteren verfügte Zwangsabzüge vom Arbeitslohn wurden nicht selten als Zumutung empfunden. Als 1923 allenthalben für die Unterstützung des “deutschen Oktobers“ geworben und mobilisiert wurde, gab eine Fabrikarbeiterin auf einer Sitzung der betrieblichen Parteizelle ihre Entrüstung zu Protokoll, indem sie auf die eigene armselige Lage verwies. „Wie lange soll das denn noch gehen“, rief sie aus: „Wir laufen hier barfuß herum, der Lohn reicht nicht für die Schuhe.“ Auch das war ein Indiz für den Befund des Autors, dass die „charismatische Beziehung“ zur Idee eines sozialistischen Internationalismus über die „kleinere Schicht der revolutionären Aktivisten“ kaum hinausreichte. Nur bei ihnen dürfte die Rückbindung der proklamierten Ideale an alltägliche, von den verschiedenen Instanzen der Partei geförderte Praktiken die gewünschten Wirkungen entfaltet haben, und nur für sie dürfte sich die Idee einer „weltumspannenden solidarischen Kampfgemeinschaft“ zur „Herzenssache“ ausgewachsen haben. Das hieß zugleich, dass das darin aufgehobene Konzept einer bolschewistisch durchtränkten ‚Gesellschaftlichkeit’, dass die „obščestvennosť“ an Grenzen stieß.

Zum Schluss wirft Albert die Frage auf, was bleibt. Die Antwort gibt eine ebenso selbstkritisch wie dialektisch argumentierende Passage aus Lev Kopelevs Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Erinnerungen. „Heute verstehe ich“, schrieb er,

dass die jünglinghaften Esperanto-Träume von internationaler Brüderlichkeit auch verdummende, illusorische Vorstellungen über die Welt hervorriefen, die uns zu Anhängern des [von Stalin verkörperten] Bösen machten. Aber eben diese Träume halfen mir und anderen, die Reste ihres Gewissens zu behalten, in der Seele Körner guter Hoffnung zu bewahren.

Titelbild

Gleb J. Albert: Das Charisma der Weltrevolution. Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917–1927.
Böhlau Verlag, Köln 2017.
631 Seiten, 85,00 EUR.
ISBN-13: 9783412507541

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