Eine anspuchsvolle Version

Der Stroemfeld Verlag legt Charles Baudelaires „Tableaux Parisiens“ in der Übersetzung von Walter Benjamin aus dem Jahr 1926 im Faksimilenachdruck vor

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine gängige Vorstellung besagt, dass die Lyrik in besonderem Maße Ausdruck hoher schriftstellerischer Kunst ist. Umso ungerechter mutet es aber an, wenn weder die UrheberInnen der Lyrik noch ihre VerlegerInnen mit Gedichten ein ausreichendes Auskommen zu erlangen vermögen – trotz aller immer wieder auch mal guten Zeiten für Lyrik. Auch der freie Schriftsteller Walter Walter Benjamin wusste um diese Umstände, als er sich daran machte, die Gedichte Charles Baudelaires aus den Fleurs du Mal zu übersetzen. In seinem Nachwort zur vorliegenden Faksimileausgabe der Tableaux Parisiens, die 1923 im Heidelberger Verlag von Richard Weissbach erschien, skizziert Roland Reuß die Entstehungsgeschichte des Bandes. Beiden, Benjamin wie auch Weissbach, ging es darum, dem Band eine sorgfältig-kunstvolle Ausstattung zu verschaffen, die Liebhaber zum entsprechend kostspieligen Erwerb auffordern könnte – für den Eigenbedarf ebenso wie als Gelegenheit für ein würdiges Geschenk. Das gute Buch ist ein Kulturgut!

Der Band lag Benjamin aber auch aus anderen Gründen am Herzen. Schon lange hatte er sich als Übersetzer mit französischen Autoren des 19. Jahrhunderts und hier besonders mit den Gedichten Baudelaires beschäftigt. Es faszinierte ihn nicht nur die poetische Qualität dieser Gedichte aus den Fleurs du Mal, sondern sie dienten ihm darüber hinaus als Material für seine kultur- und geschichtsphilosophischen Studien, in denen das Paris des 19. Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung hatte. Paris repräsentierte den in diesem Jahrhundert durch Modernisierung, Ökonomisierung und Industrialisierung ausgelösten Wandel wie keine andere Stadt. Und in den Fleurs du Mal hatte Baudelaire für die Widersprüche dieses Wandels, in dem der helle Fortschritt neben dem düsteren Elend gleichermaßen bedeutsam ist, einen revolutionär neuen Ton gefunden. Aus der Sammlung dieser Gedichte wählte Benjamin 17 Gedichte, die als Tableaux Parisiens im Gesamtwerk der Fleurs du Mal einen eigenen Abschnitt bilden.

Welche Bedeutung die Übersetzung Baudelaires für Benjamin hatte, unterstreicht auch der für die Ausgabe eigens als „Vorwort“ verfasste Text Die Aufgabe des Übersetzers. Benjamin hielt sich nicht für irgendeinen weiteren Übersetzer, der sich an den Gedichten Baudelaires versuchte. Den auf hohem theoretischen Niveau das Handwerk der Übersetzung thematisierenden Beitrag verstand Benjamin selbstbewusst als Grundlagentext, an dem jede Übersetzung sich zu messen hatte. Entsprechend enttäuscht war er nach Erscheinen des Bandes über Besprechungen, die das nicht zu würdigen wussten. In einem Brief an den Freund Gershom Scholem schreibt er nach Erscheinen einer Besprechung Stefan Zweigs in der Frankfurter Zeitung von einem „bittren Verdruss“. Das Vorwort werde „nicht etwa ignoriert sondern in einer mesquinen Klammer (‚deren Schwierigkeiten er sich wie das Vorwort beweist, bewußt war‘) [in diesem Stil!] erwähnt. Ich habe vor Kummer das Blatt, als ich es bekam, sogleich verkramt und kann es garnicht mehr finden.“

Benjamins Übersetzung, so scheint es einem heutigen Leser, schlägt einen sehr hohen Ton an. Der mit ihm verbundene Anspruch des Übersetzers erschließt sich nicht sofort. Wie Benjamin die Gedichte aufhebt in seinen Verstehenszusammenhang von Totalität, sei an zwei Beispielen angedeutet: In dem Gedicht Das Skelett bei der Arbeit (Le Squelette Laboreur) enthebt Benjamin die Szenerie einer konkret erscheinenden Sphäre, wie sie etwa Carlo Schmid, um einen anderen populären Übersetzer Baudelaires zu nennen, anklingen lässt: „Der Knöcherne Ackersmann“ bleibt im Bild, wenn die bis zum Skelett Ausgebeuteten eine scheintʼs normale Ernte (moisson étrange) „scharren“, um dem „Bauern“ (fermier) „seine Schrannen voll zu karren“. Bei Benjamin „bergen“ dieselben Elenden eine „Ernte sondrer Art“, um sie einem „Vogte“ im „Schober“ zu bewahren. In der ersten Zeile des Gedichts Die Abenddämmerung vermeidet Benjamin das populäre Bild der Dämmerung, die der Freund des Kriminellen oder Verbrechers ist („ami du criminel“). Er benutzt stattdessen das altdeutsche Wort „Schächer“. Das Wort transportiert zusätzlich religiös-politische Kontexte, die das schlichte aber anschaulich-schaurige Bild vom in der Großstadt im Schutz der Dunkelheit tätigen Kriminellen erweitern und ihm neue zusätzliche Bedeutung geben.

In der Ausgabe überzeugt auch heute noch das Schriftbild der Gedichte. Sie haben viel Platz auf den großformatigen Seiten, wo jeweils das Original neben seiner Übersetzung platziert ist. Im Sinne Benjamins geht es dabei nicht nur um einen schnöden Vergleich der Fassungen. Vielmehr konkretisiert sich ein dialektisches Streben: das Eine geht nicht ohne das Andere. Benjamins Baudelaire-Übersetzungen sind wie viele andere vor und nach ihm Versuche. Es gibt nicht die eine endgültige Version. Aber dieser Band lässt nachempfinden, warum dieser Versuch in seiner Ganzheit ein maßstabsetzender Entwurf gewesen ist.

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Charles Baudelaire: Tableaux Parisiens.
Übersetzt aus dem Französischen und mit einem Vorwort versehen von Walter Benjamin.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
52 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783866002562

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