Die Käfer, ihr Jäger und Archivar

Ernst Jüngers „Subtile Jagden“ ist in einer Prachtausgabe erschienen

Von Niels PenkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Niels Penke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Subtile Jagden 1967 zum ersten Mal erschien, rechnete Ernst Jünger nicht damit, dass ausgerechnet dieses Buch, das eines sehr heitersten und friedfertigsten sein sollte, Anlass zu großer Erregung bieten würde. Auslöser dafür war die gutgemeinte Verleihung des Titels „Buch des Monats“ im Dezember durch eine Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie eine Rezension im Spiegel von Georg Wolff. Diese Aufmerksamkeit schien Horst Bingel und einer ganzen Reihe jüngerer Autoren kein gutes Zeichen, sie erwarteten, dass mit Jünger härter ins Gericht gegangen werden und das „große Vorbeimogeln der Nachkriegsautoren an der Auseinandersetzung mit Jünger“ endlich aufhören müsse. Ihre gesammelten Reaktionen erschienen im folgenden Jahr als Streit-Zeit-Schrift und boten durchweg kritische Auseinandersetzungen mit Jünger, den die polemischen, zum Teil verleumderischen Beiträge irritierten. Als Flaschengeist und „Deutsches Erzeugnis“ erscheint er seinen Kritikern als idealer Vertreter der Väter- und gleichbedeutend auch Täter-Generation, an dessen Beispiel das Unbehagen an der deutschen Geschichtspolitik, aber auch am Literaturbetrieb artikuliert werden kann. Die Käferjagd, das sehen Wolff und auch einige der 68er so, bedeutet Flucht aus der Gesellschaft und vor der von ihr gestellten Verantwortung.

Jüngers Subtile Jagden ist scheinbar problemlos als ein solches Buch der Abkehr zu lesen. Entomologen, zu denen Jünger seit seiner Kindheit gehört, seien mehr als lediglich Naturwissenschaftler, sie bilden eine eigene Kaste, einen „großen Orden“, der Außenstehenden unverständlich bis suspekt bleiben muss. Unter dieser Prämisse erzählt Jünger seine ‚subtile‘ Lebensgeschichte, die nach unten, auf das Kleine und Bunte, gerichtet ist, als Kontrapunkt zu den großen historischen Ereignissen, die Jünger schreibend durchlebte. Auch in den Weltkriegen waren die Käfer dabei. An diese Funde erinnert er sich vor Publikum wie an seine ersten Beutezüge als Jugendlicher in der Heide und spätere ausgedehnten Reisen in nahe und ferne Weltgegenden, die er als Käferscout stets im selben Modus bereist hat. Jünger legt damit Zeugnis ab, dass eine ‚subtile‘ Jagd jederzeit und überall möglich war, auch wenn manche Situation einen anderen Fokus von ihm forderte. Jünger interpretiert diese Entscheidung zur Käferjagd – seiner Theorie vom Waldgang verwandt – als Zeichen von Souveränität, durch die der subtile Jäger zugleich in eine andere Zeitordnung eintritt, den „Zeitverlust“ als Gewinn an „Dauer“ kompensiert.

Zeit ist nach dem Sanduhrbuch (1954) und An der Zeitmauer (1959) auch in den Subtilen Jagden eines der zentralen Phänomene, das von Jünger biografisch, historisch und mythologisch verhandelt wird. Diese Zeitkonzeptionen verschränken sich in der Nostalgie, die von der ersten Seite an bestimmend ist, wenn Jünger eingangs die Differenz feststellt, die zeitgenössische Wissenschaft von der „eigentlichen Naturkunde“ trennt. Nicht Messung und Zergliederung, sondern „das liebevolle Betrachten, Vergleichen, Ordnen und Beschreiben von Objekten“ liegen ihm nahe. Eine scientia amabilis, von der Jünger genau weiß, dass sie keine Wissenschaft mehr ist und zu den historischen Auslaufmodellen gehört. Aber aus genau diesem Selbstbewusstsein bezieht seine Erzählung ihre Potenz; in Subtile Jagden erzählt der Autor wie in nur wenigen anderen seiner Prosaveröffentlichungen. Die Ereignisdichte ist im Vergleich zu seinen Romanen hoch, da ihm die Erinnerung immer wieder digressiv die Feder führt. Vom ersten Satz „Die Jagd konnte beginnen“ bis zum endlichen Auftakt derselben beschreibt Jünger ausführlich seine Erinnerungen an Eltern und Großeltern, Schachpartien und skurrile Gäste der Familie. Dieses Verfahren ist ebenso dem Tristram Shandy verwandt – denn es geht Jünger auch um sein eigenes Gewordensein als Jäger und Sammler, durch die und mit den Käfern – wie es der Versuch einer Wiederholung eines romantischen Universalpoetikums im Sinne Friedrich Schlegels ist, das verschiedene Gattungen vereint, getrennte Disziplinen und ihre Schreibweisen zusammenführt, kurz: Differenzierung aufhebt. Dazu gehört auch die Einebnung einer weiteren Differenz, die in Jüngers ‚subtiler‘ Jagd impliziert ist, die von Lesen und Schreiben. Indem er die Erscheinungsformen der Käfer geduldig betrachtet und beschreibt, entbirgt er (sich) die Chiffrensprache der Natur. Sie bestätigt die „Harmonie der Welt“, die in der Vielheit Einheit bezeugt und in steter Wiederkehr immer da ist. In dieser mythisierenden Selbstinterpretation als schreibender Seher, als poeta vates, hat das Sammeln eine bemerkenswerte Leerstelle, das Töten. Auch hier beschreibt Jünger eine Differenz zwischen ‚subtiler‘ Jagd und Großwildjagd, die ihm zuwider ist, weil sie Tiere in bloße „Fleischmassen“ verwandelt. Hingegen sind die trickreichen Vorgänge, wie er die kleinen, schnellen Käfer, die ihm wie „Geschosse“ vorbeisausen, aus diesem bewegten, in den der heimischen Kästen und Schränke bestimmten unbewegten Zustand überführt, ausgespart. Es hat den Anschein, als wäre damit gar keine Zustandsveränderung der Beute verbunden. Doch die Dauer, wie Jünger sie sieht und anstrebt, ist ohne den Tod nicht zu haben. Er ist der Preis, der nicht genannt werden darf.

Auf den Tod der Käfer kommt auch Uwe Tellkamp zu sprechen, der zur vorliegenden Prachtausgabe anlässlich des 50. Jubiläums der Erstveröffentlichung einen 30-seitigen Essay beigesteuert hat. Tellkamp mahnt in Der rote Cucujus den „Zeitgeist“, der den schaulustigen Entomologen mit Essigester und Nadel als „böse“ ansieht, während in der Landwirtschaft großflächig mit „ertragssteigernden Vergiftungsmaßnahmen“ gegen Käfer und Insekten zu Werke gegangen wird. Tellkamp geht es mit Jünger um eine Alternative, ein Gegenmodell. Das zeigt sich in seiner Annäherung an Jünger, als sich der junge Student im Nach-Wende-Leipzig nach dem vorher verbotenen Autor umschaut, den genau diese Aura erst richtig interessant macht. Von „Herrn W.“ bekommt Tellkamp die Subtilen Jagden als Jüngers vielleicht bestes Buch empfohlen, und es hat ihn bis heute begleitet, wie er umfänglich ausführt. Gerade der „Flucht-Jünger“, der aus diesem Buch spreche, habe es ihm angetan, der nahe und doch so ferne. Ein zeitenthobener Stil, der von einer „Trockenheit der Pharaonengräber“ bestimmt sei, „die für Jahrhunderte konserviert“, beeindruckt Tellkamp ebenso wie der „Meister“ selbst, dessen „Lebens-Logbuch“ ihm spürbar größten Respekt abnötigt. Das Genre – „gute naturbetrachtende Prosa“ – sei vergleichsweise selten; nach Johann Wolfgang von Goethe und Georg Büchner hätten es nur wenige (Gerhard Roth, Peter Wohlleben und einige mehr) verstanden, präzise und liebevoll zugleich an ihre Gegenstände heranzutreten. Eine erlesene Tradition, vielleicht auch ein „Orden“, in den sich Tellkamp jedoch unversehens selbst mit hineinschreibt, wenn er vor allem Jüngers Verfahren wiederholt. Seine Bekanntschaft mit dem Autor, mit dessen Büchern und den Käfern, Lektüreerlebnisse und Begegnungen mit Gleichinteressierten, kleine Anekdoten vor großer historischer Kulisse – das sind auch die Bauteile von Jüngers Subtilen Jagden.

Abgerundet wird die Ausgabe durch kolorierte Illustrationen von Walter Linsenmaier (1917–2000), die auch den Schutzumschlag und die Vorsatzblätter zieren. Linsenmaier, selbst Entomologe und Träger des Ernst Jünger-Preises für Entomologie (1992), fügt sich passend ein in den Reigen der Nostalgiker. Seine Handzeichnungen weisen zurück in andere Zeiten, in Jüngers Kindheit, die präfotografische Ära der illustrierten Lexika Alfred Brehms und anderer. Auch wenn Tellkamp Jünger in seinem Essay zum Zeitgenossen macht, zeigt diese Ausgabe eine Tradition der Entomologie als einer dichterischen Naturkunde, die verloren gegangen scheint und als deren Don Quijote Jünger einer ihrer letzten war. Es bleibt „bunter Staub“, der im nostalgischen Kaleidoskop von Bild und Kommentar noch einmal vorübergehend sichtbar wird.

Titelbild

Ernst Jünger: Subtile Jagden.
Mit einem Essay von Uwe Tellkamp und Illustrationen von Walter Linsenmaier.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017.
307 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783608961270

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