Viel Rauch, wenig Feuer

Über Nell Zinks Roman „Nikotin“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zunächst kurz zu den Fakten: Nikotin ist der dritte Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Nell Zink, die inzwischen in Bad Belzig in der Nähe von Berlin wohnt. Wie der Titel es bereits vermuten lässt, geht es darin auch ums Rauchen. In erster Linie ist es aber eine sehr schräge Familiengeschichte, die im Umfeld ebenso schräger Polit-Aktivisten in New Jersey angesiedelt ist.

Die Hauptfigur, Penny, ist die Tochter von Norman Baker, einem bekannten Schamanen und Heiler, der schwer erkrankt ist und im Sterben liegt. Da sie gerade ihr BWL-Studium abgeschlossen hat und die anderen Familienmitglieder, einschließlich ihrer Mutter Amalia, sehr beschäftigt sind, macht sie es sich zur Aufgabe, ihn dabei zu begleiten. Zunächst im Hospiz, dann zu Hause, versucht sie ihrem Vater die letzte Zeit einfacher zu machen, spürt aber, dass sie der selbstgewählten Aufgabe eigentlich nicht gewachsen ist. Nach seinem Tod und den Abschiedszeremonien mit seinen Fans aus nah und fern, sehen sich Penny, Amalia und Normans Söhne aus erster Ehe, Matt und Patrick, damit konfrontiert, sein Erbe unter sich aufzuteilen, das leider doch viel kleiner ist als erwartet. Penny steht quasi auf der Straße und soll deshalb das Elternhaus von Norm in New Jersey, das vor Jahrzehnten gebrannt haben soll, begutachten, und prüfen, ob sie dort einziehen kann.

Doch dann stellt sich heraus, dass das Haus besetzt worden ist. Nikotin ist jetzt sein Name – und der  ist Programm: Denn in ihm wohnen Politfreaks, denen der Tabak Ausdruck ihrer persönlichen Freiheit ist. Penny schafft es nicht, sie vor die Tür zu setzen, weil die WG schillernd, freundlich und offen ist – vor allem Rob, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Also zieht sie dort mehr oder weniger ein, hängt auf Polittreffen rum, versucht Rob ins Bett zu kriegen, während ihre Familie, allen voran Matt, nicht dulden will, dass eine potenzielle Geldquelle unausgeschöpft bleibt. Je mehr sich die Story hinzieht, umso mehr erfährt der Leser von Pennys obskuren Familienverhältnissen. So ist ihre Mutter Amalia eine Indigene aus Kolumbien, die ihr Vater aus dem Elend rettete und adoptierte – um sie dann später zur Frau zu nehmen, was aber offiziell nie bestätigt wurde. Sie hatte im Übrigen auch mit Pennys Bruder Matt eine Weile Sex und macht ihm immer noch Avancen, auch wenn er gerade den Reizen der unzähmbaren Schönheit Jazz verfällt. Wer also Sexszenen mag, kommt in diesem Roman wirklich nicht zu kurz, wenngleich diese mitunter etwas willkürlich eingestreut wirken.

Immer enger werden so die Verwicklungen zwischen WG und Familie – und das Ganze gipfelt in einer Katastrophe, die dann aber nach zahlreichen Irrungen und Wirrungen durchaus eine reinigende Wirkung hat. So ist der asexuelle Rob nicht mehr asexuell, Amalia findet einen neuen Lover, Matt versucht wegen Jazz seine Aggressionen in den Griff zu bekommen und Penny greift sich nicht nur Rob, sondern auch einen Job in der Bank, wo Amalia arbeitet. Das Ganze klingt ziemlich skurril – und ist es auch.

Doch ist der Roman auch eine ironische Zeitkritik, wie es in einigen Kritiken heißt? Zurzeit kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass Neuerscheinungen von Autoren aus den USA gerne mit dem Attribut „kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und politischen Realität der Ära Trump“ versehen werden. Aber wie bereits bei Irene Disches Schwarz und Weiß ist das auch bei Nell Zinks Nikotin nicht so ganz  nachvollziehbar.

Dabei tritt Nell Zink durchaus mit dem Anspruch an, sich kritisch mit der heutigen linken Protestbewegung in den USA, vor allem mit der allgegenwärtigen Identitätspolitik auseinanderzusetzen und man traut der Autorin auch einiges an Authentizität in der Beschreibung von Hausbesetzerszenen und linken Plenen zu. Immerhin hat sie nach eigenem Bekunden in den USA in besetzten Häusern gelebt (wohl weil die Miete billiger war, wie sie in einem Interview mitteilt) und auch im Berlin der 1980er und 90er in der dortigen Hausbesetzerszene mitgemischt.

Doch gerade angesichts ihrer persönlichen Erfahrungen erscheint hier einiges nicht nur ein wenig überzogen. Denn das Szenario des Romans steht in seinen desaströsen Ausmaßen denen von T.C. Boyle nicht nach. Und ein Zimmer voller Gefäße mit menschlichen Exkrementen, die alles zu überschwemmen drohen, ist als Gag im Roman durchaus eine innovative Idee.

Wenn man dabei aber bedenkt, dass sie dazu tatsächlich in einem Spiegel-Interview mit dem Vergleich zitiert wird, dass amerikanische Hausbesetzer wenigstens in Tüten oder Flaschen ihre Notdurft verrichteten, während die in Berlin aus Protest direkt auf der Straße ihren Haufen machten, wird das dann doch eher seltsam. Als gleichaltrige Person mit politischem Interesse und einigen Jahrzehnten Erfahrung in der Linken muss man sich fragen, in welchen WGs sie wohl gehaust hat, wo das als politische Aktion galt. Selbst die schlimmsten Hardcore-Punks haben in der Regel ein Klo aufgesucht und allenfalls im Zustand höchster Bedröhntheit mal wie ihre ranzigen Hunde auf der Straße ihr Geschäft verrichtet. Aber sei’s drum. – Im Grunde ist es ja auch nicht wichtig, wer seinen Stuhlgang in den 1980ern wie erledigt hat. Andererseits stört es dann allerdings schon, dass das Buch als authentische Innensicht in die Polit-Szene verkauft wird.

Alle „Aktivsten“ des Buches sind totale Spinner auf dem Ego-Trip, die ihr politisches Bewusstsein als Identitätspolitik in seltsamen Nischen ausleben. Egal, ob Feministinnen (übrigens ein schöner WG-Name: „Stay free“), Umweltschützer oder Occupy-Aktivisten, es handelt sich um gelangweilte Collegekids, die sich so die Zeit vertreiben, um Leute, die nur eine preiswerte Unterkunft suchen, oder eben gescheiterte Existenzen, denen Arbeit ein Gräuel ist. Bedauerlicherweise firmieren all diese Politclowns in dem Roman unter dem Label „Anarchismus“.

Das ist sehr schade, denn damit wird der durchaus kreativen, positiven und gesellschaftsbezogenen politischen Theorie des Anarchismus einmal mehr der Stempel des egozentrischen Individualismus aufgedrückt, der der Theorie und der politischen Bewegung als solcher keineswegs gerecht wird.

Schade auch, dass ausgerechnet Rob, dessen „politisches Statement“ im Rauchen, auf Demos gehen und Fahrräder verhökern besteht, die IWW, also die Industrial Workers of the World, zitiert, dass die arbeitenden Klasse und die ausbeutenden Klasse nichts gemeinsam haben … Während es sich bei der IWW um eine Gewerkschaft handelte respektive handelt, die für bessere Arbeitsbedingungen und eine andere Gesellschaft kämpft, erschöpft sich sein Engagement ja bereits darin, ein Haus zu besetzen, um weiter rauchen zu können und sich dabei cool zu fühlen.

Mag sein, dass ein Teil der amerikanischen Szene tatsächlich so bekloppt ist. Mag sein, dass genau dieser Mangel an Vernunft, Ernsthaftigkeit und Strategie hier kritisiert werden soll. Doch leider kommt das nicht rüber, sodass auch bereits in einigen Kritiken die Echtheit der Charaktere und die unmittelbare Einsicht in die amerikanische Linke gelobt werden, die man bequem vom Sofa aus belächeln kann. Dass gerade angesichts von Trumps Präsidentschaft, allgegenwärtigem Rassismus und der schreienden Kluft zwischen Arm und Reich in den USA dort durchaus einige Menschen ernsthaft versuchen, ein politisches und gesellschaftliches Gegengewicht zu schaffen, geht hier leider im Klamauk unter.

Titelbild

Nell Zink: Nikotin. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Kellner.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
398 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498076702

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