Streitereien und Sticheleien

Daniel Kaisers sorgfältig recherchierte Biografie belegt, frei nach Bertolt Brecht, die Mühen der Ebenen, denen sich Václav Havel während seiner Präsidentschaft gestellt hatte

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den bleiernen 1970er und 1980er Jahren der sogenannten „Normalisierung“ war der international anerkannte Dramatiker Václav Havel (1936-2011) in seiner tschechoslowakischen Heimat eine der führenden Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegung CHARTA 77. Über Jahrzehnte hinweg durfte Havel in der ČSSR nichts mehr veröffentlichen und sein zivilgesellschaftliches Engagement hatte ihm mehrjährige Haftstrafen eingebracht. Als Václav Havel am 29. Dezember 1989 im Zuge der „Samtenen Revolution“ zum  Staatpräsidenten der Tschechoslowakei gewählt wurde, schien dieser Vorgang in seinen unglaublich wirkenden Verwicklungen an eines seiner absurden Theaterstücke zu erinnern. Aus einer über Jahre hinweg verfemten Unperson war über Nacht der erste Mann des Staates geworden!

Diese biografischen wie auch geschichtlichen Hintergründe sind zum Verständnis der vorliegenden Havel-Biografie unverzichtbar, zumal der Prager Journalist Daniel Kaiser sein Augenmerk im vorliegenden Porträt auf die 13 Jahre richtet, die Václav Havel als Präsident der ČSSR, der ČSFR und schließlich der Tschechischen Republik wirkte. Durch diesen vornehmlich politisch ausgerichteten Focus auf einen konkreten Zeitabschnitt, gekennzeichnet von der Funktion als Staatspräsident mit allen damit verbundenen Anwürfen und Herausforderungen, liegt eine fundierte Ergänzung bislang vorliegender Havel-Biografien vor.

Eda Kriseová berichtet in ihrem Havel-Porträt nicht zuletzt als unmittelbare Augenzeugin vornehmlich über Havels Lebensabschnitt als Dissident, während Martin C. Putna Havels geistige Prägung in ihrer Eingebundenheit in die tschechische Kulturgeschichte analysiert. Einen lesenswerten Zugang auf Havels gesamte Lebensgeschichte ermöglichte sein Freund und zeitweiliger Pressesprecher Michael Žantovský in seiner Biografie.

Die vorliegende Darstellung gerät über weite Strecken zur geradezu bedrückenden Lektüre. Dargestellt wird der politische Weg eines weltbekannten Dramatikers, der unter Hintanstellung seiner eigenen Lebensgestaltung und nicht zuletzt seiner Gesundheit in die Mühlen machtpolitischer Optionen und übler Ränkespiele der nachkommunistischen Tschechoslowakei gerät.

Das Hickhack parteitaktischer Finessen, nicht immer frei von persönlichen Eitelkeiten und vorsätzlich angebrachten Fußangeln, scheint die euphorischen Monate der „Samtenen Revolution“ abgelöst zu haben. Havel selbst hält bereits im Oktober 1990 verzweifelt seine Einschätzung auf einem Diktiergerät fest: „Jeder sehnt sich nach irgendwelchen Funktionen. Überall haben wir lauter Streitereien und Sticheleien. Die Staatsorgane sind gelähmt. Das Parlament ist ein irrationaler Körper, wir befinden uns in einer Wirtschaftskrise, die Reform hat noch nicht begonnen […]. Verlust von Zielen, Idealen, Verwässerung des politischen Lebens“.

Bei allen historischen Verdiensten war Václav Havel, wie sollte es anders sein, als Mensch nicht frei von Fehlern. Sein Einsatz für sein Land als Präsident hatte früher oder später dazu führen müssen, in der einen oder anderen Angelegenheit Fehlentscheidungen mit entsprechenden Folgen zu treffen. So blieb es unvermeidlich, dass auch eine Persönlichkeit wie Havel nicht unbeschädigt durch den Dschungel kleinlicher Tagespolitik kam. Am bittersten fällt Havels Rolle in einer unwürdigen Trickserei gegenüber Václav Benda aus, einem einstigen tapferen Dissidenten aus gemeinsamen Jahren im Einsatz für die CHARTA 77 und dem VONS (Komitee für zu Unrecht Verfolgte).

Daniel Kaisers akribische Auswertung einschlägiger Dokumente greift zuweilen ergänzend auf Gespräche mit Beteiligten zurück. Auf diese Weise gewährt er interessante Einblicke in Themenkomplexe, denen sich der tschechische Staatspräsident widmete. Zu Wort kommen unter anderem die Vorgänge hinsichtlich des Verhältnisses zum slowakischen Nachbarstaat, zur Frage der vertriebenen Sudetendeutschen sowie zum nicht immer konsequenten Umgang mit den Seilschaften früherer Mitarbeiter der Staatssicherheit.

Neben der gewaltigen Herausforderung der ökonomischen Transformation des Landes gerät zugleich die Außenpolitik in Havels Blickfeld. Sein Einsatz um die NATO-Mitgliedschaft gehört zu seinen großen Erfolgen. Auch seine Generation hatte leidvoll erleben müssen, dass die kleinen Länder Mitteleuropas oft genug zu einer Manövriermasse starker Nachbarn degradiert wurden. Die gerade in Deutschland oft kolportierte Vorstellung, man habe die deutsche Wiedervereinigung gleichsam um den Preis genehmigt bekommen, dass Länder wie Tschechien nicht Mitglied der NATO werden dürfen, spricht Bände.

Kaiser gelingt es in hervorragender Weise, einen gewaltigen Wust an Informationen und Auswertungen mit dem Denken und Handeln einer eigenwilligen Persönlichkeit in Zusammenhang zu bringen. Zugleich, und das zeichnet Kaisers Biografie in besonderer Weise aus, möchte er sich weder als provokativer Besserwisser hervortun, noch einer verselbständigten Heldenverehrung das Wort reden. Beides hat Kaisers von kritischer Sympathie geprägte Distanz nicht nötig.

Der Umbau von Staaten des ehemaligen „real existierenden Sozialismus“ in funktionierende Demokratien konnte nicht über Nacht erfolgen. Die Staatsideologie des „Marxismus-Leninismus“ hinterließ eine über Jahrzehnte hinweg ausgeprägte korrupte und moralisch vergiftete Mentalität. Von einer entwickelten politischen Kultur konnte keine Rede sein.

Im Zuge der „samtenen Revolution“ wurden zuweilen politische Figuren ins Geschehen gerückt, die sich bis dahin nicht in den politischen oder gar oppositionellen Diskurs eingebracht hatten. Auch insofern ist man unwillkürlich an das wiedervereinigte Deutschland erinnert, in dem ebenfalls ausgerechnet frühere Stasizuträger und zynische Mitläufer der SED-Diktatur selbstbewusst über das Wesen der Demokratie schwadronier(t)en.

Titelbild

Daniel Kaiser: Václav Havel. Der Präsident (1990-2003).
Übersetzt aus dem Tschechischen von Silke Klein.
Böhlau Verlag, Köln 2017.
379 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783205202462

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