Exil und Eigenbild

In ihrem Debütroman „Desorientale“ verarbeitet die Franco-Iranerin Négar Djavadi ihre Familien- und Fluchtgeschichte zu einem opulenten, wenn auch teilweise einseitigen Epos

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast 40 Jahre ist es her, als die Pahlewi-Diktatur im Iran zusammenbrach und Ayatollah Khomeini eine islamische Republik installierte. Négar Djavadi und ihre Familie gehören zu den Millionen von Iranerinnen und Iranern, die im Zuge der Revolution 1979 und des 1980 ausgebrochenen Iran-Irak-Kriegs aus ihrer Heimat flohen, um ein freies Leben zu führen und im Exil auf den – angeblich baldigen – Zusammenbruch der geistlichen Herrschaft zu warten.

Diese Erfahrungen, ihre Flucht- und Familiengeschichte, hat die Drehbuchautorin und Regisseurin Djavadi, 1969 im Iran geboren und nach der Revolution nach Frankreich übergesiedelt, in ihrem 2016 erschienenen und seitdem mit mehreren französischen Literaturpreisen prämierten Debütroman Désorientale verarbeitet. Da die Originalausgabe bereits ausführlich besprochen wurde, soll der Inhalt nur kurz angerissen, dafür aber ein paar in der ersten Besprechung nicht behandelte Themen näher beleuchtet werden.

In Desorientale erzählt die 1971 in Teheran geborene Kimiâ Sadr, ein Alter Ego der Autorin, zwei Geschichten: Zum einen die ihrer Familien väter- und mütterlicherseits – beginnend in der Zeit der Herrschaft der Kadscharen (1796–1925) über die Pahlewi-Epoche bis zur Revolution und Flucht mit ihrer Mutter und zwei älteren Schwestern über die Türkei nach Paris im Jahr 1981. Zum anderen erzählt Kimiâ vom eigenen Leben zwischen zwei Welten – von der Gegenwart, in der sie in einer Klinik auf eine künstliche Befruchtung wartet, bis zurück zur Ankunft in Paris, als sie beginnt, sich selbst zu finden.

Denn Kimiâ schwankt nicht nur zwischen verschiedenen Kulturen, sondern auch zwischen den Geschlechtern. Da ihre Eltern durch die Flucht aus der Bahn geworfen werden und ins „normale“ Leben nicht zurückfinden, öffnet sich für die Tochter – auch durch das Fehlen strenger sozialer und religiös begründeter Verbote – die Möglichkeit, unterschiedliche Lebensweisen auszuprobieren.

Doch es dauert Jahre, bis sie eine Sprache findet und über sich und über die Erlebnisse der Familie – ihr Vater stand in Opposition zum Schah und später zu den Geistlichen – sprechen kann. Sie wird ein in mehrfacher Hinsicht hybrides Wesen, in dem die Grenzen zwischen den Welten verwischen.

Die Vermischung von Ost und West zeigt sich auch in der Erzähltechnik: Djavadi wendet den „Trick“ von Scheherazade aus der Rahmenhandlung der persischsprachigen Geschichten von Tausend und einer Nacht an, indem sie das Erzählen in dem Moment unterbricht, in dem der Zuhörer beziehungsweise Leser wissen will, wie es weitergeht. Die Autorin wendet zum anderen das Stilmittel der Montage an und lässt den Namen von Lew Kuleschow (1899–1970) und des nach ihm benannten Effektes fallen, der, kurz gesagt, die Fähigkeit erkundet, Bedeutungen der Bildsequenz in der Montage zu erzeugen.

Dadurch wechseln sich die Geschichten, Zeitebenen und Figuren mitsamt ihrer ganz persönlichen Sehnsüchte und Probleme, von denen Kimiâ erzählt, ständig ab. Es entsteht ein vielschichtiges Panorama – das Bild von Familien über drei Generationen hinweg, die die politisch und menschlich tragischen Ereignisse im Iran der vergangenen 100 Jahre selbst intensiv miterleben.

Drei Abschnitte stechen hervor: Das feudale (Harems-)Leben von Kimiâs Vorfahren in der Epoche der Kadscharen; das Leben von Kimiâs Familie im Iran der 1970er Jahre, als sich ihr Vater Darius Sadr politisch und publizistisch gegen den Schah engagiert und er, seine Frau und die drei Töchter die Wucht der Staatsmacht spüren; schließlich das von Stille und Paralyse beherrschte Dasein der Eltern als Emigranten in Paris und die Bemühungen der Töchter, in der Fremde anzukommen.

Djavadi ist es mit ihrem Roman gelungen, den westlichen Lesern einen wahrlich epischen Einblick in ein Land und seine Geschichte zu geben, die beide hierzulande – nicht zuletzt durch Filme wie Nicht ohne meine Tochter (1991) – auf bestimmte negative Bilder reduziert werden: Stumme und ohnmächtige Frauen in Tschadors, fanatische Männer und ältere Geistliche mit Bart.

Desorientale erzählt von Menschen, die durch die vorherrschenden Konventionen und durch den meist repressiven Charakter der im Iran regierenden Regime in der jeweiligen Epoche daran gehindert werden, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten und zu führen. Insofern ist Djavadis Roman auch als ein präzises, vielschichtiges Psychogramm des Iran im 20. Jahrhundert anzusehen.

Ein Kritikpunkt aber trübt die Lektüre – zumindest des nicht-persischstämmigen Lesers: Die Ich-Erzählerin kritisiert zwar die Unwissenheit der Franzosen und setzt deren Iran-Klischees mit ihren vielen Geschichten eine Korrektur entgegen, etwa indem sie mit den Sadrs bürgerliche, säkular lebende und demokratisch eingestellte Menschen porträtiert, die sich von denen im Westen nicht besonders unterscheiden. Doch dagegenzuhalten ist, dass der Roman – vielleicht unbewusst – ein Iran-Bild vermittelt, das unvollständig ist beziehungsweise nicht unbedingt der Wirklichkeit des Landes entspricht.

So setzt die Ich-Erzählerin die Begriffe „persisch“ und „iranisch“ gleich und suggeriert damit, dass das Land ethnisch, kulturell und sprachlich einheitlich sei – das heißt rein persisch. Dass der Iran ein Vielvölkerstaat ist, in dem nicht jeder dem mittelalterlichen, persischsprachigen Dichter Hafis eine solche Bedeutung beimisst, wie im Roman suggeriert wird, wird nur an wenigen Stellen deutlich.

So bringen Kurden, die namenlos bleiben, die Ich-Erzählerin, ihre Schwestern Leili und Mina und die Mutter Sara auf Pferden über die iranisch-türkische Grenze. Über einen anderen Helfer, Omid, der alle vier von Teheran bis Istanbul begleitet, schreibt Sara in einem Text, den Kimiâ zitiert, dass er einen „ausgesprochen türkischen Akzent“ hatte. Damit deutet Sara an, dass Omid zur Ethnie der aserbaidschanischen Türken gehört. Die türkstämmigen Iraner machen 40 Prozent der Bevölkerung im Land aus.

Desorientale von Djavadi ist nicht der einzige Roman meist persischstämmiger iranischer Autorinnen und Autoren, die im Westen leben und die die nicht-persischen Ethnien im Iran in ihren Werken entweder gar nicht oder eher negativ darstellen. Andere Beispiele sind der erstmals 2014 erschienene Band Stadt der Lügen der britisch-iranischen Journalistin Ramita Navai, die sich in einer Erzählung über den aserbaidschanisch-türkischen Akzent eines Geistlichen lustig macht. Zu nennen ist auch der 2011 publizierte Roman Der König von Kader Abdolah, in dem der auf Niederländisch schreibende Autor die turkstämmigen Kadscharen als degeneriert, dekadent und rückständig darstellt und damit die von der persischstämmigen Pahlewi-Diktatur propagierten Unwahrheiten und antiturkischen Klischees über ihre Vorgängerdynastie unreflektiert übernimmt.

Dieses „verengte“ Iran-Bild in Djavadis Debütroman erscheint westlichen Lesern vielleicht wie ein Nischenthema. Es sagt im inneriranischen (Literatur-)Diskurs allerdings Wichtiges über das Eigenbild meist persischstämmiger iranischer Autorinnen und Autoren aus – und zwar derjenigen, die im Westen leben: Das Exil führt nicht automatisch dazu, dass diese ihre eigenen (Wunsch-)Bilder vom Iran infragestellen und korrigieren. Im Gegenteil können sich die in der Pahlewi-Epoche durch Regierung, Schule und Familie propagierten Unwahrheiten und Klischees fern der Heimat noch stärker verfestigen.

Will man sich mit der Entwicklung des Iran in den vergangenen 100 Jahren auseinandersetzen und der Wirklichkeit im Land nahekommen, wird man sich in Zukunft der Multiethnizität und Multikulturalität des Landes nicht mehr entziehen können. Die „klassischen“ Themen der neuesten Literatur über den Iran – Revolution, Krieg und Flucht – müssen so um den Aspekt des Vielvölkerstaats erweitert werden. Fariba Vafi beispielsweise ist eine Autorin, die diese Leistung in ihrem erstmals 2006 erschienenen Roman Tarlan erbracht und das Zusammenleben von Iranern unterschiedlicher ethnischer Herkunft behandelt hat. Ihre Lebensumstände spielen dafür gewiss eine wichtige Rolle: Vafi lebt im Iran, stammt aus Täbris und ist aserbaidschanisch-türkischer Herkunft.

Titelbild

Négar Djavadi: Desorientale. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Michaela Meßner.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
432 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406714535

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