Ekel als Selbstzweck

Der Roman „So enden wir“ von Daniel Galera ist eine gezielte, abschreckende Provokation

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Freunde, Antero, Emiliano und Aurora, treffen sich im Jahr 2014 auf der Beerdigung des Schriftstellers Duke. Einst arbeiteten sie mit ihm zusammen am Internet-Projekt „Orangotango“, publizierten und pöbelten – als „Speerspitze einer neuen Generation, die sich das Internet und die wirtschaftliche Stabilität zunutze machen würde, um mehr zu sein als Punker-Papasöhnchen, suburbane Grunge-Kids“. Jetzt ist Duke tot, ausgeraubt und erschossen während einer Joggingrunde in Porto Alegre.

Daniel Galeras neuer Roman So enden wir erzählt von den Tagen nach der Beerdigung aus der Sicht der „drei Übriggebliebenen des ehemaligen Quartetts“. Im Mittelpunkt des Romans stehen Emilianos Recherchen, denn er nimmt die Aufgabe an, eine Biografie über seinen verstorbenen Freund Duke – Andrei Dukelsky – zu verfassen. Erinnerungen an eine „Underground-Szene von Porto Allegre“ in den Neunzigern, an spontanen Geschlechtsverkehr, Drogen und „poetischen Terrorismus“ vermischen sich. Daniel Galera lässt Emiliano bei Duke ein „unvorstellbares Maß an Besessenheit und Paranoia“ erkennen – Emiliano ergänzt: „Oder, wer weiß, vielleicht einfach zu viel Fantasie.“ Virale Videos und pornografische Geschichten werden aus der Sicht von Emiliano, Antero und Aurora aufbereitet. Die immer breitere Entfaltung von „Anal-Oral-Reigen“ steigert sich dabei ins Unerträgliche. Alles dreht sich hernach um das „Rumgehure“ von Männern mit Männern oder Frauen oder beidem. Eine wichtige Rolle spielen dabei all jene Produkte der Natur, welche der menschliche Organismus ausscheidet und der Verwesung übergibt: Schweiß, Schleim, Blut, Kot. Ein Beispiel: „Meine Unterhose war vollgeschwitzt, und ich hätte schwören können, dass aus meinem Schoß ein unangenehmer Geruch aufstieg.“ Die Fäkalsprache bewegt sich zwischen Misshandlungen, „scheißen“, „vögeln“ und einer Straßenschlacht mit Antero. Vulgäre, brutale Bilder steigern sich bis zum Vortrag von Szenen aus Die 120 Tage von Sodom des Marquis de Sade. Mit der gleichen Detailbesessenheit, mit der de Sade die perversen sexuellen Passionen seiner Libertins beschrieb, beschreibt Galera die homosexuellen Erfahrungen Emilianos an der Grenze zum Wahnsinn.

Die neuen Technologien führen letztlich zum „Streben nach der Ausschöpfung aller Möglichkeiten“ – auch aller sexuellen Möglichkeiten. Der Kapitalismus werde immer schneller. Die Protagonisten in So enden wir befürchten, dass wissenschaftliche und technische Fortschritte „das Gaspedal nur noch weiter durchdrücken würden, um noch mehr Konsum zu erzeugen, noch mehr Menschen, mehr Leben.“ Mehr Leben zöge unausweichlich die Auslöschung des Menschen nach sich. Die Menschheit steht also am Rande ihrer endgültigen Vernichtung.

Zweifellos wird es Kritiker geben, die in diesem Roman einen eschatologischen Entscheidungskampf sehen. Man kann die Zerlegung der Gesellschaft und die radikale Ablehnung von Moral als revolutionär werten, wenn die Ekel und Grauen auslösenden, detailverliebten Schilderungen Galeras Ausdruck von Zeittendenzen sind. Aus der Gemeinschaft ausgeschiedene Menschen revoltieren gegen diese, indem sie Grenzen aufbrechen und ungezügelt leben. Damit erreichen sie eine neue Freiheit in einer sie unter Druck setzenden Welt, in der soziale Netze und ständige Erreichbarkeit Menschen in Ketten legen. Dem Leser ist es jedoch gänzlich verwehrt, diese Freiheit als positiv und erstrebenswert wahrzunehmen. Daniel Galera beleuchtet die Kehrseite des Vertrauten und erzeugt damit gezielt aversive Gefühle wie Furcht und Ekel. Die Generalisierbarkeit der Furcht vor dem Abrutschen, dem aus dem Leben gleiten, Alkoholismus und sexueller Lust ohne Fähigkeit zur Liebe, ist ein wichtiger Aspekt des Buches. Und stets gärt das Gefühl, hier werde nur um des Effekts willen geschockt. Obschon noch im Roman erklärt wird: „Die Zeiten, in denen ein Mensch andere schockieren kann, sind vorbei.“ Galera verstrickt sich mitunter in Wertungen und beweist nur: Der Ekel ist Selbstzweck. Hier wird provoziert, um zu provozieren. Zeitgenössische Koprolalie!

Eine scheinbar uferlose Unendlichkeit aus zu viel Alkohol, zu vielen Zigaretten, zu vielen durchwachten Nächten und zu viel Gewalt findet ihren Abschluss im Eingeständnis, „was für ein Wrack“ Emiliano mit zweiundvierzig Jahren ist. Aurora berichtet von ihren Forschungsergebnissen und ihrer Unterdrückung an der Universität – wodurch die Wissenschaft zu einem Teilausdruck der gesamten geistigen Situation, in der die drei Protagonisten leben, wird. Sie berichtet von der Abtreibung eines mit Antero versehentlich gezeugten Kindes und davon, dass sie die Stadt „mit ihrer Maßlosigkeit überwältigte“. Antero berichtet von seinen Steinwürfen auf Polizisten und zerschlagenen Fensterscheiben während einer Demonstration und bezeichnet sein Handeln als „Schwarzer-Block-Cosplay“. Sie leiden egoistisch, bedauern sich selbst und kritisieren die „unmenschliche Atmosphäre herzlicher Rivalität“ in der Stadt. Sie hinterfragen ihre Handlungen nicht. Nach der Abtreibung keimt nur kurz das schlechte Gewissen Auroras auf, wenn sie merkt, wie das Baby „nach und nach […] im Dunkel meiner Gedanken“ verschwindet und sie ein wahnhaftes Wochenende mit Schmerzmitteln verbringt. Und Duke hatte den Plan, einen Roman zu schreiben, „der die Geschichte des Universums erzählte“. Doch am Ende bleibt nur eine sinnlose Stoffanhäufung. Alle vier sind gescheitert.

So dürfen wir nicht enden, muss der Leser auf das dem Buch den Titel gebende Resümee So enden wir erwidern. Soll man den Tiefen der menschlichen Seele nachgeben, aber damit untergehen? Oder sollte man das gesellschaftliche Ideal leben und dann am vorbeigezogenen Leben zerbrechen? Auch wenn Emiliano mit Francine, der Partnerin von Duke, schläft und behauptet, dass dies die Energie sei, wegen der die Welt weiterbestehen wird. Es ist nicht vernünftig, verrückt zu werden.

Titelbild

Daniel Galera: So enden wir. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
232 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428016

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