Verloren in der Welt

Über Anja Kampmanns sprachlich eindrucksvollen Roman „Wie hoch die Wasser steigen“

Von Christina DittmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Dittmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie hoch die Wasser steigen ist der Debütroman der jungen Schriftstellerin Anja Kampmann. Für ihre Lyrik wird sie bereits seit 2006 mit zahlreichen Preisen und Stipendien überhäuft. Nun also Prosa. Prosa jedoch, die mitunter wie Lyrik anmutet:

Hinter schweren Gewitterwolken war der Mond unsichtbar und der Horizont kaum zu unterscheiden von dem Schwarz, in dem die Wellenberge sich türmten, um wieder und wieder Atem zu holen, während der Wind, was an Gischt und Schaum zu holen war, über die Wellenkämme peitschte. […] das einzige Rufen war der Sturm, war die Gischt, war das vergebliche Flattern einer Möwe, ein paar Mal die hell aufblitzenden Unterseiten ihrer Flügel.

Waclaw ist Arbeiter auf einer Bohrinsel vor der Küste Afrikas. Vor vielen Jahren verließ er seine Heimat im Ruhrgebiet und seine Frau Milena auf der Suche nach einer besseren Zukunft: „Am Anfang hatte er noch versucht, sich die Namen der Schiffe zu merken, als würden sie etwas Großes versprechen.“ Schon in diesen wenigen Worten liegt die ganze Desillusionierung, die dem kühnen Aufbruch ins Ungewisse folgt. Doch Waclaw findet Freundschaft auf dem tosenden Meer – ein Tosen, das ihn jahrelang begleitet. Während die Freundschaft zu seinem Kollegen Mátyás immer enger wird, entfernt er sich zusehends von seiner Frau Milena: „‚Du bist in der ganzen Welt und ich bin in einem Dorf, das geht nicht‘, hatte Milena gesagt.“ Schließlich bricht der Kontakt ganz ab, was sie nicht wahrhaben möchte. Waclaw erfährt später, dass sie sich einmal in einem Trödelladen einen Holzelefanten gekauft hat, um vor ihren Freunden so zu tun, als wäre er ein Geschenk von ihm.

In den Jahren auf der Plattform verliert sich der Protagonist selbst: „Er dachte, dass er etwas in der Ferne gesucht hatte, aber dass dort nichts war.“ Was ihn am Leben hält, ist die tiefe und enge Freundschaft zu Mátyás – oder ist es vielleicht sogar Liebe? Doch nach einer stürmischen Nacht verschwindet Mátyás im Meer – und Waclaw verliert dadurch all seinen Halt. Nach einem Landgang kehrt er nicht mehr auf die Plattform zurück. Trauerbewältigung und die Suche nach Heimat bestimmen von da an den Plot. Doch wo ist die Heimat? Und ist da überhaupt noch Heimat, wenn die Menschen, die sie ausgemacht haben, (vielleicht) gar nicht mehr da sind?

Inzwischen 52 Jahre alt, reist Waclaw in Mátyásʼ Heimatdorf, um dessen Schwester von seinem Tod zu berichten. Dann geht es für ihn weiter nach Italien und schließlich mit einer Brieftaube über die Alpen ins Ruhrgebiet. Dorthin, von wo er damals aufgebrochen war, um sein Glück zu suchen.

Mitgerissen von einem Sprach- und Bilderrausch liegt es am Leser, sich auf den Stil der Autorin einzulassen oder aber in den von der Sprache erzeugten Bildern unterzugehen. Allein die Bohrinsel ist ein starkes Symbol, schließlich steht sie im besonderen Maße für eine jederzeit mögliche Katastrophe und generell für das Industriezeitalter. Nichts wird explizit ausgesprochen, sondern immer nur angedeutet, und gerade das ist es, was die große Kunstfertigkeit der Autorin ausmacht. Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich in den Gedanken Waclaws und zeugen von einer starken Verlorenheit des Mannes in seiner Umwelt und seiner eigenen Identität.

In seltenen Fällen wirken die Bilder, die Kampmann hervorruft, etwas zu gewollt, zum Beispiel wenn das Englisch einer Nebenfigur als „holprig, als würde man eine Tonne Steine entladen“ bezeichnet wird oder wenn eine Stimme die „Energie von einem Stock [hat], mit dem man in einem lauwarmen Tümpel herumrührt.“ Mit wenigen Worten schafft es Kampmann dann jedoch wieder, ganze Lebensgeschichten von Familien im Ruhrgebiet zu zeichnen „zwischen Karneval und Doppelkorn, auf die elenden Kriegsjahre folgte das Schweigen der Eichenkonsolen, die Enge der Zechensiedlung, Biographien, die zu weniger als Asche wurden im kochenden Stahl der Hochöfen.“

Es ist schwer zu bestimmen, in welcher genauen Zeit der Plot angesiedelt ist, denn viele Zeichen der Moderne fehlen. An Erwähnungen von historischen Ereignissen, wie des Golfkrieges, der deutlich in der Vergangenheit liegt, wird aber erkennbar, dass der Roman vermutlich in der aktuellen Gegenwart spielt. Dennoch wirkt Wie hoch die Wasser steigen der Zeit seltsam entrückt. Gerade aber die anachronistisch anmutenden Handlungen und Entscheidungen Waclaws sind es, die die Metaphorik des Romans so eindringlich machen.

Die Handlungen der Figuren sind mitunter metaphorisch zu verstehen, zum Beispiel, wenn der alte Alois dem Protagonisten in Italien eine Brieftaube gibt, die er mitnehmen und im Norden fliegen lassen soll, damit sie in ihre Heimat zurückfindet. Dieses Symbol, wie auch der Titel des Romans Wie hoch die Wasser steigen erinnern einerseits an die Sintflut, andererseits aber auch daran, dass es für Waclaw eben nicht so einfach ist, die Heimat wiederzufinden: „Auch der Magnetsinn sollte im Schnabel sitzen, da wo die Sprache hauste. Das Heimfindevermögen. Genau wusste man es nicht. Irgendwann war alles abgerissen.“

Fliegt die Taube tatsächlich zurück nach Italien? Kommt sie zurück zu Waclaw? Verschwindet sie ganz? Sinken die Wasser schließlich wieder? Anja Kampmanns Roman ist äußerst kunstvoll konstruiert und erzeugt durchweg eine melancholische und rätselhafte Stimmung. Vieles ist indirekt und im ersten Moment nicht leicht zu fassen. Ein anspruchsvoller Text, in dem sich immer wieder Neues entdecken lässt. Die Poesie, die sich bereits auf den ersten Seiten entfaltet, erstreckt sich konsequent bis auf die letzten Seiten.

Der Roman deutet viel an, erklärt aber wenig – oder vielleicht gerade deshalb umso mehr. Er wirft viele Fragen auf, die nicht alle im Laufe der Lektüre beantwortet werden. Die bestehenden Leerstellen muss der Leser selbst füllen, und das gehört zu den Dingen, die große Literatur ausmachen. Kein Wunder also, dass Anja Kampmanns Wie hoch die Wasser steigen es unter die fünf nominierten Romane für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 geschafft hat.

Titelbild

Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2018.
350 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446258150

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