Ein Mord und seine Folgen

In Keigo Higashinos Thriller „Unter der Mitternachtssonne“ verfolgt ein emsiger Kommissar über zwanzig Jahre lang die Spuren eines Verbrechens

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Pfandleiher ist ermordet worden. Kommissar Junzo Sasagaki nimmt sich der Sache an. Doch von vornherein spielen im Fall des getöteten Yosuke Kirihara so viele Unbekannte eine Rolle, gibt es so viele Spuren und Vermutungen, dass eine Lösung in immer weitere Ferne rückt. Und so muss Sasagaki schließlich kapitulieren. Doch innerlich lässt ihn die Sache nicht los – mehr als 20 Jahre, von 1973 bis Mitte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Denn von Anfang an treibt ihn eine Vermutung um, so dass er einige der im Umfeld des ermordeten Pfandleihers lebenden Personen nicht mehr aus den Augen verliert.

In dem umfangreichen Thriller Unter der Mitternachtssonne von Keigo Higashino taucht der Kommissar, nachdem er das erste Kapitel des Buches beherrscht hat, erst nach knapp 400 Seiten wieder auf. Da sind bereits etliche Jahre seit dem Mord an dem Pfandleiher aus Osaka vergangen. Und immer noch befinden sich der oder die Täter auf freiem Fuß. Sasagaki aber gibt nicht auf und kommt dem Geheimnis um den Mann, dessen Leiche in einem von innen verschlossenen Raum gefunden wurde, immer näher.

Keigo Higashino, geboren 1958 in Osaka, lebt heute zurückgezogen in Tokio. Er gilt als einer der renommiertesten japanischen Autoren von Kriminalromanen. Mit dem Schreiben begann Higashino schon als Schüler. Der Erfolg ließ allerdings eine Weile auf sich warten. Erst 1985 konnte der studierte Elektrotechniker seinen Ingenieursjob kündigen und sich fortan nur noch dem Schreiben widmen. Richtig erfolgreich mit seinen vielfach preisgekrönten Romanen wurde er allerdings erst ein gutes Jahrzehnt später. Inzwischen werden Higashinos Romane regelmäßig für Kino und Fernsehen verfilmt. Von 2009 bis 2013 leitete der Autor die renommierte Schriftstellervereinigung „Mystery Writers of Japan“.

Mit Unter der Mitternachtssonne, im Original 1999 erschienen, hat der Stuttgarter Klett-Cotta Verlag, bei dessen Ableger Tropen seit geraumer Zeit deutsche Übersetzungen ausgewählter Werke Higashinos verlegt werden – vor allem aus dessen Romanreihen um den Physikprofessor Yukawa (Verdächtige Geliebte, 2012, u.a.) und den Tokioter Kommissar Kyōichiro Kaga (Ich habe ihn getötet, 2016, u.a.) –, diesmal einen schon älteren, aus einer Zeitschriftenserie hervorgegangenen Stand-alone des Autors für hiesige Leser entdeckt. Junzo Sasagaki, der mit dem Fall des ermordeten Pfandleihers beschäftigte Ermittler, verfügt nicht ganz über den überlegenen Intellekt, mit dem Yukawa und Kaga an ihre Fälle herangehen. Durch Beharrlichkeit, Fleiß und Intuition vermag er das allerdings zu kompensieren. Nimmermüde verfolgt er über zwei Dekaden die kriminellen Karrieren zweier Personen, deren Rollen er im Fall des ermordeten Pfandleihers Kirihara offensichtlich einst falsch eingeschätzt hatte, weil sie 1973 noch Kinder waren.

Doch aus den Kindern sind Erwachsene geworden. Und was sich bereits in der Schul- und Studentenzeit von Ryo Kirihara, dem schwer zu durchschauenden Sohn des Pfandleihers, und Yukiho Nishimoto, die samt ihrer später an einer Gasvergiftung sterbenden Mutter ein ganz besonderes Verhältnis zu dem Ermordeten pflegte, andeutete, setzt sich fort – bis zu dem Moment, wo Inspektor Sasagaki erneut die Szene betritt.

Wo immer Ryo und Yukiho auftauchen, geschehen bald merkwürdige Dinge. Menschen verschwinden oder sterben unter seltsamen Umständen. Ob Insiderhandel mit Aktien, Raubkopien von den in den späten 1980er-Jahren aufkommenden und äußerst lukrative Gewinne versprechenden populären Computerspielen, Wirtschaftsspionage oder Manipulation von Geldkarten – ohne dass man ihnen je auf die Spur kommt, scheinen die schöne Yukiho mit den kalten Augen und der ihr symbiotisch verbunden Ryo ihre Hände mit im Spiel zu haben. Und wenn Gefahr droht, organisieren sie entweder geschickt ihr Verschwinden oder vertuschen nicht weniger raffiniert ihr Zutun zu den verbrecherischen Geschäften; als Meister der Manipulation gelingt es ihnen immer wieder, andere den Kopf für sie hinhalten zu lassen.

Keigo Higashinos Roman verlangt seinen Lesern Einiges ab. Angesichts einer Vielzahl an auftretenden Personen ist es nicht immer einfach, die gerade Handelnden und ihre Beziehung zu den Hauptpersonen zu identifizieren oder zu erkennen, welche Vorgeschichten sie mitbringen. Zudem verzweigt sich die Geschichte permanent in kleine und kleinste Nebenhandlungen und bringt Charaktere ins Spiel, die nach ein paar Seiten wieder verschwunden sind. Mit einem dem Buch beigegebenen Verzeichnis der wichtigsten Personen versucht der Verlag dankenswerterweise, Lesefrustrationen entgegenzuwirken, die daraus entstehen könnten. Auch vermischen sich in den Dialogen Wichtiges und Unwichtiges, Bedeutendes und Banales, sich von selbst Erklärendes und Andeutungen, deren Sinn sich erst im weiteren Verlauf der Handlung erschließt – wenn man sie nach ein paar hundert Seiten überhaupt noch im Gedächtnis hat. Ein Autor mit mehr Erfahrungen, als sie Higashino in den 1990er-Jahren besaß, wäre wohl deutlich ökonomischer vorgegangen.

Dass der spätere Bestsellerautor in Unter der Mitternachtssonne noch auf der Suche nach dem Stil war, der ihn einmal auszeichnen sollte, und zudem vor dem Problem stand, eine über gut zwei Jahre in Fortsetzungen erschienene Geschichte zu einem kompakten, in sich geschlossenen Roman zusammenzufassen, ist dem Text deutlich anzumerken. Was den „japanische[n] Stieg Larsson“ betrifft, mit dem das dem Buch beigelegte Lesezeichen, einen Rezensenten zitierend, lockt, so trifft dieser Vergleich deshalb allenfalls marginal zu. Das Zeitporträt, das er jenseits all der Konflikte, mit denen es seine Figuren zu tun bekommen, vermittelt, macht Higashinos Roman dennoch lesenswert. Und auch mit der Auflösung des Kriminalfalls, der die über ein Vierteljahrhundert sich erstreckende Handlung auslöst, weiß der Autor zu überraschen – es braucht lediglich ein wenig Geduld, bis man nach 700 Seiten endlich erfährt, was damals wirklich geschah.

Titelbild

Keigo Higashino: Unter der Mitternachtssonne. Thriller.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Tropen Verlag, Stuttgart 2018.
720 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783608503487

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