Liebesleuchten und Lynchings

Jonathan Safran Foers „Everything Is Illuminated“ und Philip Roths „The Plot against America“ im Kontext der jüdisch-amerikanischen Holocaustliteratur

Von Michael ButterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Butter

In bewährter neuhistoristischer Manier möchte ich mit einer Anekdote beginnen, die sich, wenn ich mich recht erinnere, im Frühjahr 2004 an einer Universität an der amerikanischen Ostküste zugetragen hat. Ich nahm dort an einem Seminar über „Text, Memory, Identity“ (oder so ähnlich) teil, das sowohl fortgeschrittenen undergraduates als auch graduate students wie mir offen stand. Im Lauf des Semesters lasen wir gemeinsam eine ganze Reihe von einschlägigen Texten zum Thema individuelles und kulturelles Gedächtnis und diskutierten die zentrale, Identität stiftende Rolle literarischer Repräsentationen für die Ausformung des letzteren. Natürlich kamen wir irgendwann auch auf den Holocaust zu sprechen. An diesem Tag war das immer lebhafte Gespräch noch lebhafter, und wir diskutierten engagiert mit dem Soziologen Jeffrey Alexander, den unser Dozent, Michael Holquist, für diese Sitzung eingeladen hatte, sowohl über die Schwierigkeit, den Holocaust angemessen darzustellen, als auch über seine zentrale Bedeutung für die jüdisch-amerikanische und euro-amerikanische Identität.1 Irgendwann jedoch platzte Laura, einer zwanzigjährigen undergraduate, die neben mir saß, der Kragen: „Everyone in this room here“, rief sie in den Raum, „only knows the Holocaust through representations. It is constantly being represented. So what is all the fuzz about? And anyway, why should we still talk about it any longer? Are there not more interesting and pressing issues? Don’t we have other problems? I am Jewish myself, but who I am has nothing to do with the Holocaust“.

Abgesehen vom letzten Satz sprach Laura offen aus, worüber auch ich nachdachte, formulierte es aber wesentlich schärfer und prägnanter, als ich das damals (und vielleicht auch heute noch) gekonnt und gewagt hätte, weshalb ich mich auch hier noch auf sie berufe. Jedenfalls gehen die zwei verschiedenen Dimensionen des Zusammenhangs von Katastrophe und Gedächtnis, denen ich hier anhand zweier jüdisch-amerikanischer Romane vom Beginn des 21. Jahrhunderts nachgehen möchte, nämlich genau auf die Fragen und Zweifel zurück, die Laura artikulierte. Die Texte, auf die ich mich konzentrieren werde, sind Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated (2002) und Philip Roths The Plot against America (2004). Everything Is Illuminated werde ich als einen Text lesen, der sich dem Diktum von der Unrepräsentierbarkeit des Holocaust aktiv widersetzt und dem „destruktiven Prinzip“ vieler modernistischer und postmodernistischer Literatur, dem sich einige Beiträge zu diesem Band widmen, eines der Kreation und Konstruktion entgegenstellt, weshalb man den Roman als einen post-postmodernistischen Text bezeichnen kann. Angesichts der Auslöschung von Leben und Lebensgeschichten durch den Holocaust kommt der Literatur, so die implizite Poetik des Romans, die Aufgabe zu, diese Lebensgeschichten zu rekonstruieren – selbst wenn dies bedeutet, „nomadic with truth“ zu sein, wie dies eine der Romanfiguren einmal formuliert,2 da diese Geschichten ganz oder zum Großteil erfunden werden müssen. Aus dieser Akzentverschiebung hin zur Rekonstruktion folgt auch, dass der Roman den Holocaust als alleinige Grundlage jüdisch-amerikanischer Identität ablehnt und stattdessen auf die Wichtigkeit der durch den Holocaust zerstörten Traditionen und Kulturen, dessen, was er zu rekonstruieren versucht, insistiert.

Anhand von Philip Roths The Plot against America, einer alternate history, in welcher der reale Verlauf der Geschichte teilweise umgeschrieben wird, werde ich diskutieren, wie die Erinnerung an eine Katastrophe – den Holocaust –die Erinnerung an eine andere Katastrophe – die Sklaverei und die Diskriminierung der Schwarzen in den USA – verdrängen oder sogar auslöschen kann. Ich werde argumentieren, dass Roths Roman ideologisch ambivalent ist, da er sowohl als ein Text gelesen werden kann, der die Verdrängung der afro-amerikanischen Leidensgeschichte aktiv betreibt, als auch als ein Text, der diese Verdrängung bloßlegt.

Bei aller Besonderheit und Originalität, die beide Romane auszeichnet, sollen die Texte hier jedoch auch synekdochisch allgemeinere Tendenzen der jüdisch-amerikanischen Gegenwartsliteratur repräsentieren. Roths Text steht dabei exemplarisch für eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dessen oft beobachteter Amerikanisierung, die sich in ähnlicher Form auch in mehreren Texten Michael Chabons und in Melvin Jules Bukiets After (1996) findet. In diesen Romanen werden in vielfältiger Weise etablierte Muster der Repräsentation des Holocaust in Frage gestellt, die zentrale Bedeutung der Vernichtung der europäischen Juden für die jüdisch-amerikanische Identität wird jedoch mehr oder weniger explizit bestätigt. An Foers Roman dagegen lassen sich einige generellere Charakteristika der Werke der jüngeren jüdisch-amerikanischer Literatur beobachten. Autorinnen und Autoren wie Foer, Myla Goldberg, Allegra Goodman oder Dara Horn verhandeln in ihren Texten intensiv Fragen der jüdisch-amerikanischen Identität, lehnen aber durchweg eine zu große Anbindung oder gar Beschränkung derselben auf den Holocaust ab.3

Bevor ich jedoch auf Foers Everything Is Illuminated und Roths The Plot against America näher eingehe, scheinen mir einige Vorbemerkungen zur Bedeutung des und der Diskussion um den Holocaust in den USA angebracht. Es liegt schließlich nicht auf der Hand, warum ein von Europäern in Europa begangenes Verbrechen nicht nur die amerikanischen Juden, sondern die amerikanische Kultur in ihrer Gesamtheit heute noch so stark beschäftigen sollte. Im Anschluss an diese allgemeineren Ausführungen (I.) werde ich zunächst Foers Roman analysieren (II.), dann auf Roths Text eingehen (III.) und abschließend einige allgemeine Schlüsse über die jüdisch-amerikanische Gegenwartsliteratur ziehen (IV).

I. Die Amerikanisierung des Holocaust

Wie und warum die Vernichtung der europäischen Juden zu einem so wichtigen Bestandteil der jüdisch-amerikanischen wie  auch der nicht-jüdischen Kultur in den USA geworden ist, kann hier nur skizziert werden, da die so genannte Amerikanisierung des Holocausts ein äußerst komplexes Phänomen ist.4 Die Schwierigkeit besteht darin zu begründen, warum der Genozid an den Juden sowohl in der jüdischen wie auch in der die nicht-jüdischen amerikanischen Kultur in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg praktisch nicht thematisiert wurde, seit den späten sechziger Jahren aber eine so zentrale Rolle spielt. Dieses Umschlagen wurde lange Zeit durch Rekurs auf psychoanalytische Deutungsmuster als die Wiederkehr einer verdrängten traumatischen Erinnerung erklärt: Angesichts der schrecklichen Ereignisse in Europa brauchte die amerikanische Kultur mehr als zwei Jahrzehnte, um mit der kollektiven Verarbeitung der schrecklichen Ereignisse zu beginnen.5 Die neueren Arbeiten des Historikers Peter Novick und des Soziologen Jeffrey Alexander haben diese Erklärung jedoch überzeugend widerlegt, da es bei aller individuellen Traumatisierung eine Vielzahl von Argumenten gibt, die gegen eine Traumatisierung auf der kollektiven und kulturellen Ebene sprechen.6

Novick und Alexander argumentieren beide, dass die Ermordung der europäischen Juden in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs selten thematisiert wurde, weil dieses Verbrechen für die sich mitten im Kalten Krieg befindenden USA ebenso wenig eine Rolle spielte wie für das Selbstverständnis der amerikanischen Juden. Der Genozid an den Juden galt als ein Verbrechen von enormen Ausmaßen, das jedoch noch nicht als unvergleichlich oder einzigartig erschien und dem noch keine moralischen Implikationen für die Bewertung folgender Ereignisse beigemessen wurden, das also noch nicht die ethische und kulturelle Signifikanz besaß, die ihm heute in der gesamten westlichen Welt zugeschrieben wird. Im Gegenteil: Für die optimistisch nach vorne blickende, siegreich aus dem Krieg hervorgegangene amerikanische Kultur war die Vernichtung der Juden eine Sache der Vergangenheit und ohne Relevanz für die Probleme, mit denen sich das Land in der Gegenwart konfrontiert sah. Und da die amerikanischen Juden sich nicht von ihren nicht-jüdischen Mitbürgern unterscheiden wollten, hatten auch sie kein Interesse daran, über den Holocaust zu sprechen, was den Überlebenden der Lager immer wieder klar gemacht wurde: “Survivors were constantly told […] that they should turn their faces forward, not backward”.7 „In the beginning“, schreibt daher Jeffrey Alexander, „the Holocaust wasn’t the Holocaust“.8

Erst während der sechziger und siebziger Jahre wurde der Genozid an den europäischen Juden für jüdische wie nicht-jüdische Amerikaner zu einer „usable past“ – und somit schließlich auch zum Holocaust. Für große Teile der amerikanischen Juden, die nun nicht mehr von einem „integrationist ethos“ sondern von einem „particularist ethos“ bestimmt wurden,9 entwickelte er sich vor dem Hintergrund der Konflikte im Nahen Osten Ende und derjenigen innerhalb der USA, in deren Verlauf die Vision einer allgemeinen amerikanischen Identität zu einem beträchtlichen Grad durch diejenige einer Vielzahl ethnischer Identitäten ersetzt wurde, zum wichtigsten Element einer gemeinsamen jüdisch-amerikanischen Identität. Die jüdischen Amerikaner sahen Israel in den Kriegen von 1967 und 1973 von einem neuen Holocaust bedroht, und es schien ihnen, als lasse es die amerikanische Regierung an der nötigen Hilfe für den jüdischen Staat mangeln. Den Widerwillen, Israel zu unterstützen, schrieben sie einem wiedererwachten Antisemitismus zu, und es war diese Wahrnehmung, die entscheidend dazu beitrug, dass die jüdischen Amerikaner begannen, sich stärker als amerikanische Juden zu fühlen und auf die Besonderheit ihrer ethnisch-religiösen Identität zu insistieren: “[T]here was an inward turn, an insistence on the defense of separate Jewish interests, a stress on what made Jews unlike other Americans”.10 Und was die amerikanischen Juden jenseits aller religiösen und politischen Differenzen verband, war, dass sie in Europa Opfer des Holocaust geworden waren oder geworden wären, wenn sie oder ihre Vorfahren nicht vorher in die USA ausgewandert wären. Deshalb wurde der Holocaust zum Charakteristikum und Garanten ihrer spezifischen Identität.

Auch für nicht-jüdische Amerikaner, insbesondere für diejenigen europäischer Herkunft, hat der Holocaust seit den 1960er Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Erschien der Glaube an den amerikanischen Exzeptionalismus – die auf Alexis de Tocqueville zurückgehende Überzeugung, dass die USA anderen Nationen moralisch überlegen seien – während der 1950er Jahre noch ganz selbstverständlich, geriet dieses Weltbild Mitte der sechziger Jahre vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs, der Watergate-Affäre und der hitzigen innenpolitischen Auseinandersetzungen im Zuge der Bürgerrechtsbewegung ins Wanken. In diesem Zusammenhang bot der Rückbezug auf den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit, eine zunehmend angezweifelte, positiv konnotierte nationale Identität zu beglaubigen. Aufgrund damals einsetzender Tendenzen wird der Zweite Weltkrieg in den USA heute als „the best war ever“ erinnert, wie das der Historiker Michael Adams einmal treffend genannt hat, als ein Krieg, der vor allem geführt wurde, um den Holocaust zu stoppen – und somit als eine Auseinandersetzung, in dem die Rollen von Gut und Böse noch eindeutig verteilt waren und die Amerikaner zweifellos auf der richtigen Seite standen.11 Unter dem Namen Holocaust ist der Völkermord an den europäischen Juden somit, wie Peter Novick es prägnant formuliert hat, zu einem „American memory“ geworden.12  Die USA versichern sich über diese Erinnerung einer positiven Identität, indem sie sich als die Nation begreifen, die zwar zu spät eingegriffen, dann aber den totalen Völkermord verhindert hat. Und da der Vernichtung der Juden verstanden als Holocaust überzeitliche Implikationen zugeschrieben werden, folgt für viele US-Amerikaner, dass sie, weil sie den Holocaust gestoppt haben, auch in Konflikten, die nichts mit dem Holocaust zu tun haben, auf der richtigen Seite standen und stehen. Aufgrund dieser zentralen Bedeutung des Holocaust für das nationale Selbstverständnis gibt es an der Mall in Washington, DC, wo sich die USA über eine Vielzahl von Denkmälern, Museen und politischen Institutionen als Nation definieren, ein United States Holocaust Memorial Museum, das nach dem hier skizzierten Narrativ organisiert ist.13

Aus der zentralen Rolle des Holocaust für die amerikanische Kultur und der Art und Weise, wie der Holocaust konzeptionalisiert wird, ergibt sich jedoch die paradoxe Situation, die Lauras eingangs zitierten Wutausbruch motiviert hat. Einerseits wird der Holocaust, wie alle Ereignisse, die in einer bestimmten Kultur allgegenwärtig sind, ständig repräsentiert. Zudem wird in innenpolitischen und außenpolitischen Debatten, egal ob es um den Kosovo, Ruanda, das Schicksal der Ureinwohner oder Abtreibung geht, ständig auf ihn rekurriert, da er aufgrund der ihm zugeschriebenen überzeitlichen Bedeutung und Einmaligkeit zu einem universellen Vergleichsmaßstab für Unrecht und Gewalt geworden ist, „a measuring stick against which all oppression is measured“.14 Andererseits gilt der Holocaust im intellektuellen Diskurs – ähnlich wie in Europa – als incomprehensible, incomparable, unspeakable und ungraspable, weshalb alle Versuche, ihn darzustellen, als unangemessen und profanisierend erscheinen und alle Vergleiche zwischen dem Holocaust und anderen Verbrechen als unangebracht und unmoralisch. Für den Holocaust-Überlebenden und Nobelpreisträger Elie Wiesel ist der Holocaust ein „ontological event […] which transcends history [and] cannot be explained“.15 Versuche, den Holocaust darzustellen, zu erklären oder gar zu anderen historischen Ereignissen in Beziehung zu setzen, erscheinen von dieser Warte aus als ein unmögliches und unmoralisches Unterfangen. Das gilt insbesondere für fiktionale und somit ästhetisch überformte Holocaustliteratur, wie Wiesel ebenfalls sehr deutlich betont hat: „a novel about Auschwitz is not a novel, or else it is not about Auschwitz“.16

Die amerikanische Populärkultur hat diese Einwände weitgehend ignoriert und mit den Mitteln des mimetischen Realismus ein Archiv von wirkmächtigen Darstellungen des Holocaust – erwähnt seien nur die TV-Serie Holocaust (1978) und Steven Spielbergs Schindler’s List (1993) – geschaffen, die von Intellektuellen jedoch regelmäßig und fast schon habituell für ihr naives Vertrauen in die Darstellbarkeit des Undarstellbaren scharf kritisiert wurden. Dagegen haben künstlerisch anspruchsvollere, einer selbstreflexiven postmodernistischen Ästhetik verpflichtete Darstellungen des Holocaust die Einwände gegen ihr Unterfangen regelmäßig selbst thematisiert und über die Grenzen der Darstellbarkeit des Holocausts reflektiert, darüber, dass, wie Geoffrey Hartman es formuliert hat, „there is something that cannot be represented“.17 Ein prägnantes Beispiel hierfür ist Art Spielmans Maus (1986-91), eine graphic novel, die zu großen Teilen in Auschwitz spielt. Maus’ minimalistische Darstellung, in der die Juden als Mäuse, die Nazis als Katzen und die Polen als Schweine erscheinen, unterläuft von vornherein jedwede Tendenz, den Text realistisch zu lesen. Zudem wird in Maus beständig der Schreib- und Zeichenprozess selbst thematisiert – unter anderem zu Beginn des Kapitels „Auschwitz“, wo der Künstler, Art Spiegelman, mit seinem Psychiater über die Probleme spricht, die er damit hat, sich Auschwitz vorzustellen und die Gefühle und Erlebnisse seine Vaters, eines Überlebenden des Lagers, nachzuvollziehen und vermitteln zu können. Schließlich schlägt der Psychiater vor, dass es vielleicht besser sei, ganz auf die Darstellung zu verzichten, was bei allen Bedenken für den Künstler natürlich inakzeptabel ist, da dies die Aufgabe seines Projektes bedeuten würde. Er zitiert deshalb Samuel Becketts Diktum, dass jedes Wort ein „unnecessary stain on silence and nothingness“ sei, fügt nach einem Moment des Schweigens hinzu, „On the other hand, he SAID it“ – und situiert sein eigenes Vorhaben so in einer analog paradoxalen Position: Er fühlt, dass seine Darstellung immer inadäquat sein wird, aber er fühlt sich gleichzeitig verpflichtet, die Erlebnisse seines Vaters dennoch festzuhalten.18 Diese Darstellung im Modus des „dennoch“, der sich Maus so verpflichtet, ist typisch für postmodernistische Darstellungen des Holocaust, von denen sich Foers Everything Is Illuminated bewusst absetzt.

II. Die Erfindung von Geschichte in Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated (2002)

Erscheint das Nichts bei Spiegelman somit zumindest momentan verlockend, weil es eine mögliche Alternative zum Erzählen darstellt, die einer unangemessenen Darstellung vorzuziehen sein könnte, bildet eine andere Art von Nichts den Ausgangspunkt des Erzählens in Jonathan Safran Foers Roman Everything Is Illuminated. „There was nothing“ heißt es nach etwa Zweidritteln des Romans, als der Erzähler, der ukrainische Fremdenführer und Übersetzer Alex, sein Großvater, dessen Hund Sammy Davis Junior Junior und ein junger Amerikaner, namens Jonathan Safran Foer, endlich den Ort gefunden haben, an dem einmal das Shtelt Trachimbrod stand, aus dem Jonathans Großvater stammt und das 1942 von den Nazis zerstört wurde. Nichts hier erinnert mehr an die Menschen, die hier einst gelebt haben, wie Alex in seinem wunderbar ukrainisch-inflektiertem Englisch deutlich macht:

There was nothing. When I utter ‘nothing’ I do not mean that there was nothing except for two houses, and some wood on the ground, and pieces of glass, and children’s toys, and photographs. When I utter that there was nothing, what I intend is that there was not any of these things, or any other things.19

 Das Projekt, „to sightsee the shtetl“, wie Alex Jonathans Suche nach dem Herkunftsort seiner Vorfahren nennt, ist damit gescheitert.20 Dort, wo einmal Trachimbrod stand, gibt es keinerlei Hinweise mehr auf das Schicksal seiner Bewohner und insbesondere auf den Verbleib einer Frau namens Augustine, die Jonathan unbedingt finden will, da sie seinen Großvater damals gerettet hat. Der Roman inszeniert und parodiert somit, wie Katrin Amian gezeigt hat, was Gary Weisman in Fantasies of Witnessing. Postwar Efforts to Experience the Holocaust als das typische Ende vieler solcher Spurensuchen beschrieben hat. Am Ort des Geschehens wird der Holocaust für die Generationen der Söhne und Enkel nicht „more real“, sondern bleibt überlagert von der Vielzahl an kulturellen Texten über den Völkermord, die die Suchenden vorher rezipiert haben und denen gegenüber das reale Erlebnis beträchtlich abfällt. 21An Ort und Stelle gewesen zu sein, trägt nicht zur Authentifizierung bei; es liefert weder Antworten noch neue Fragen.

Die Szene, in der die Romanfiguren mit dem Nichts konfrontiert werden, das an die Stelle des Shtetls und seiner Bewohner getreten ist, ist eng verknüpft mit einer früheren Szene, in der die Gruppe das Haus der Holocaustüberlebenden Lista besucht, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht die Augustine ist, nach der Jonathan sucht. In Listas Haus findet sich auf den ersten Blick das Gegenteil des Nichts:

One room had a bed, and a small desk, a bureau, and many things from the floor to the ceiling, including piles of more clothes and hundreds of shoes of different sizes and fashions. I could not see the wall through the photographs. They appeared as if they came from many different families, although I did recognize that a few of the people were in more than one or two. All of the clothing and shoes and pictures made me to reason that there must have been at least one hundred people living in that room. The other room was also very populous. There were many boxes, which were overflowing with items. These had writing on their sides. A white cloth was overwhelming from the box marked Weddings and Other Celebrations. The box marked Privates: Journals/Diaries/Sketchbooks/Underwear was so overfilled that it appeared prepared to rupture. There was another box, marked Silver/Perfume/Pinwheels, and one marked Watches/Winter, and one marked Figurines/Spectacles.22

 Alex’ metaphorische Beschreibung – „one hundred people living in that room“ – erweckt die Toten zwar für einen Moment wieder zum Leben, doch ihre Abwesenheit wird dadurch nur umso deutlicher. Sie wird zusätzlich noch dadurch verstärkt, dass all die Dinge, die Lista in dem Raum versammelt hat, keinerlei Rekonstruktion ihrer Identitäten, geschweige denn ihrer Lebensgeschichten zulassen, da den versammelten Gegenständen, anders als denen, die in Museen ausgestellt werden, um Geschichten zu erzählen, jede Ordnung fehlt. Unterwäsche und Tagebücher mögen noch zusammengehören, weil sie beide von der Intimsphäre zeugen, doch „watches“ und „winter“ werden nur noch durch den gemeinsamen Anfangsbuchstaben miteinander verbunden und zeugen somit von einer vollkommen arbiträren Ordnung. Der Überschuss an Dingen hat somit letztendlich denselben Effekt wie die Abwesenheit aller Dinge auf der Wiese, auf der einmal Trachimbrod stand: Beide verweisen auf das Nichts, auf die Abwesenheit der Toten und ihrer Geschichten, auf Leben, die gewaltsam ausgelöscht wurden und keine lesbare Spur hinterlassen haben.

Die Konsequenz, die Everything Is Illuminated aus dieser Situation zieht, ist „to (re-)imagine that vibrant shtetl culture that the Holocaust has irreversibly destroyed“.23 Dem Nichts, so die implizite Poetik des Romans, muss etwas entgegengestellt werden; die ausgelöschte Geschichte des Shtetls und seiner Bewohner muss erzählt werden, selbst wenn sie dafür im Akt des Erzählens geschaffen, also erfunden werden muss. Alex’ Bericht über der Suche nach dem Shtetl ist daher nur einer von drei, sich abwechselnden Erzählsträngen des Romans. Selbst hier jedoch wird die Vergangenheit schon umgeschrieben und somit erfunden, da Alex, ein ambitionierter junger Schriftsteller, gern eine Geschichte erzählen will, die spannender ist als das, was tatsächlich geschehen ist. Die Leser wissen dies, weil der zweite Erzählstrang des Romans aus Alex’ Briefen an Jonathan besteht, die er zusammen mit den Kapiteln seines entstehenden Berichts in die USA schickt. Der Duktus dieser Briefe, aus denen sich teilweise Jonathans Antworten rekonstruieren lassen, ist lange Zeit von großer Komik – so verspricht Alex Jonathan zum Beispiel nach dessen Intervention, ihn den Lesern im ersten Kapitel nicht wie zunächst geplant als „very spoilt Jew“, sondern nur als „spoilt Jew“ vorzustellen24 – wird aber immer ernsthafter, je mehr die Erzählung sich der Rekonstruktion des Naziüberfalls auf das Dorf nähert und somit auch dem Moment, in dem Alex’ Großvater überraschenderweise seine eigenen Schuld bei der Ermordung ukrainischer Juden in einem anderen Dorf gesteht.25

Alex und Jonathan diskutieren in ihren Briefen aber nicht nur Alex’ Bericht, sondern auch Jonathans Rekonstruktion der Geschichte des Shtetls Trachimbrod vom späten 18. Jahrhundert bis zum Angriff der Nazis 1942. Wie bereits angedeutet, ist Rekonstruktion allerdings ein irreführender Ausdruck für das, was Jonathan leistet. Denn obwohl in seinem Text einige Gegenstände auftauchen, die er und die anderen in Listas Haus finden, ist seine Geschichte des Shtetls eine reine Erfindung, ein Akt der Imagination – und Everything Is Illuminated lässt seine Leser dies auch zu keiner Zeit vergessen. Die Destabilisierung des Wahrheitsanspruchs der Geschichte beginnt bei Alex’ metafiktionalen Kommentaren, die immer wieder auf die offensichtlichen Widersprüche und Anachronismen in Jonathans Text hinweisen, und endet bei den vielen Elementen des magischen Realismus, die Jonathan in die Geschichte des Shtetls einschreibt und die hier primär als Mittel der Illusionsdurchbrechung fungieren, weil sie jedem Anspruch auf Authentizität, Akkuratheit oder Realismus eine Absage erteilen und den Akt des Erfindens und Imaginierens bloßlegen.

Der erste dieser magischen Momente des Romans ist die Geburt eines noch mit Schleim und Blut bedeckten Mädchens aus den Fluten des Flusses Brod, aus dem es, „still mucus-glazed, still pink as the inside of a plum“,26 ohne Nabelschnur auftaucht, nachdem wenige Minuten vorher ein Wagen in den Fluss gestürzt ist. Dem so zu Beginn dieses Erzählstrangs wundersam geborenen Baby korrespondiert dabei ein Baby, das am Ende von Jonathans Erzählung während des Luftangriffs der Wehrmacht auf das Dorf im Fluss geboren wird und gleich darauf stirbt, weil es seiner tödlich getroffenen Mutter nicht gelingt, die Nabelschnur zu durchtrennen und die deshalb ihr „perfectly healthy nameless baby“ mit sich in die Tiefe reißt.27 Die Geburt des Babys vom Beginn seines Textes, bei dem es sich übrigens um Jonathans Urahnin handelt, wird so retrospektiv zu einer Metapher für Jonathans gesamtes Projekt: Da die wirklichen Bewohner des Shtetls unwiederbringlich verschwunden sind, müssen sie durch imaginierte ersetzt werden.

Everything Is Illuminated erschöpft sich deshalb nicht in der metafiktionalen Infragestellung historischer Narrative, wie sie in den postmodernistischen Spielarten des historischen Romans seit den 1960er Jahren immer wieder inszeniert worden ist.28 Der Roman will nicht zeigen, dass Geschichtsschreibung im Großen wie im Kleinen immer eine Erfindung ist, und er will nicht betonen, dass sämtliche Formen der Repräsentation ihren Gegenstand immer konstruieren und niemals abbilden, sondern er setzt diese Einsichten voraus. Was der Roman stattdessen auslotet, ist, wie man sich intersubjektiv auf eine Version der Geschichte verständigen kann, von der man weiß, dass es eine erfundene ist. Genau dies ist es, was Jonathan und Alex in ihren Texten und Briefen aushandeln. Ihre Kommentare und Diskussionen befruchten die Erzählungen, an denen beide gerade schreiben; zusammen schaffen sie die verlorene Geschichte des Shtetls neu und produzieren einen Bericht ihrer Suche nach diesem Shtelt, der vielleicht nicht ganz korrekt ist, aber dennoch einen Wahrheitsanspruch erhebt. In diesen Akt der kollektiven Kreation werden auch die Leserinnen und Leser einbezogen, denen die endgültige Version beider Erzählstränge nicht vorliegt, sondern die diese aus den Kommentaren in den Briefen konstruieren müssen.29

Im Zentrum von Everything Is Illuminated steht somit nicht die Destruktion einer historischen Erzählung, die es zu desavouieren gilt, weil sie dem Ausmaß des Schreckens und der Leiden nicht gerecht wird, sondern die Konstruktion einer unwiederbringlich verlorenen Geschichte, die als solche immer erkennbar bleibt. Der Roman fällt nicht hinter die Einsichten von Modernismus und Postmodernismus in die Unzugänglichkeit des historischen Referenten zurück, sondern geht einen Schritt weiter, indem er Möglichkeiten aufzeigt, wie trotz der Einsicht in die Konstrukthaftigkeit von Geschichte die Verständigung über intersubjektiv gültige Versionen dessen, was geschehen ist, möglich sein könnte. Da der Roman auch auf anderen Ebenen, beispielsweise in Hinblick auf die Subjektkonzeption, versucht, über Erkenntnisse des Postmodernismus hinauszugehen, ohne diese über Bord zu werfen, bietet es sich tatsächlich an, so unschön das Wort auch sein mag, den Text, wie Katrin Amian dies getan hat, als „post-postmodernistisch“ zu charakterisieren.30

Diese Periodisierung wird auch durch den Vergleich mit anderer Holocaustliteratur gestützt. Im Vergleich zu Texten vorheriger Jahrzehnte ist nämlich eine mehrfache Akzentverschiebung zu erkennen. Der Roman interessiert sich mehr für die osteuropäischen als für die deutschen Täter und mehr für die Kultur, die durch den Holocaust zerstört wurde, als für den Akt der Zerstörung selbst. Zudem insistiert er in klarer Abkehr vom Diktum der Unrepräsentierbarkeit auf die Notwendigkeit, den Holocaust und das, was er zerstört hat, darzustellen. Der Fokus auf die Zeit vor der Katastrophe, die im Roman weit mehr Raum einnimmt als diese selbst, bedeutet dabei gleichzeitig die Abkehr vom dominanten literarischen und intellektuellen Diskurs der letzten Jahrzehnte, für den der Holocaust das zentrale Element jüdisch-amerikanischer Identität darstellt. Dies wird besonders deutlich in einem frühen Kapitel aus Jonathans (fiktiver) Geschichte des Shtetls Terachimbrod, in dem er die lebensbejahende Sexualität der Bewohner am Trachimday, dem Jahrestag der Rettung seiner Urahnin aus dem Fluss, feiert:

From space astronauts can see people making love as a tiny speck of light. Not light, exactly, but a glow that could be mistaken for light – a coital radiance that takes generations to pour like honey through the darkness to the astronaut’s eyes. […]

The glow is born from the sum of thousands of loves: newlyweds and teenagers who spark like lighters out of butane, pairs of men who burn fast and bright, pairs of women who illuminate for hours with soft multiple glows, orgies like rock and flint toys sold at festivals, couples trying unsuccessfully to have children who burn their frustrated image on the continent like the bloom a bright light leaves on the eye after you turn away from it.

Some nights, some places are a little brighter. It’s difficult to stare at New York City on Valentine’s Day, or Dublin on St. Patrick’s. The old walled City of Jerusalem lights up like a candle on each of Chanukah’s eight nights. Trachimday is the only time all year when the tiny village of Trachimbrod can be seen from space, when enough copulative voltage is generated to sex the Polish-Ukrainian skies electric. We’re here, the glow of 1804 will say in one and a half centuries. We’re here, and we’re alive.31

 Die Astronauten, die Jonathan imaginiert, sehen das Liebeslebensleuchten der Shtetlbewohner vom Anfang des 19. Jahrhunderts eineinhalb Jahrhunderte später, in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts und somit an genau demjenigen historischen Moment, wo die beginnende Amerikanisierung des Holocaust alle Aufmerksamkeit auf die Katastrophe der jüngsten Vergangenheit lenkte und die Erinnerung an die Zeit davor fast unmöglich machte. Getrieben vom Wunsch, dass ihre Vernichtung nicht alles sein darf, was von seinen Vorfahren erinnert wird, verhilft Jonathan diesen früheren und besseren Zeiten zu ihrem Recht. Er tut dies, indem er sich einer Sprache bedient, in der normalerweise der Holocaust beschrieben wird: Frischverheiratete und Teenager „spark like lighters“, Männer brennen „fast and bright“, Frauen „illuminate for hours“ und Jerusalem „lights up like a candle“. Seine Sprache evoziert somit die Katastrophe – die Leiden derjenigen, deren Leichen in den Öfen von Auschwitz verbrannt wurden – und wendet diese ins Positive. Bei ihm geht es nicht mehr um ein wirkliches Verbrennen, sondern um ein metaphorisches, um einen „glow“, der von Liebe und multiplen Orgasmen zeugt, nicht vom Tod, sondern vom Leben – und somit von der jüdischen Vergangenheit, die durch die alleinige Konzentration auf den Holocaust vergessen worden ist und die der Roman Everything Is Illuminated in Erinnerung ruft.

III. Die Revision von Geschichte in Philip Roths The Plot against America (2004)

Diesem Paradigmenwechsel auf der Ebene der Kunst entspricht in gewissem Maße eine Akzentverschiebung in der Literatur- und Kulturkritik, wo die Amerikanisierung des Holocaust seit etwa zehn Jahren kritisch hinterfragt wird. Die neusten Arbeiten der Holocaust Studies stehen der Rhetorik von Einzigartigkeit, Unvergleichbarkeit und Undarstellbarkeit äußerst kritisch gegenüber.32 Statt diese Rhetorik zu perpetuieren, analysieren sie, welche politischen und sozialen Funktionen das Insistieren auf die uniqueness und unspeakability des Holocaust für die amerikanische Kultur erfüllt. Eine der pointiertesten Aussagen, auf die sich andere Forschende immer wieder berufen, stammt dabei von Peter Novick, der in The Holocaust in American Life schreibt:

the […] talk of uniqueness and incomparability surrounding the Holocaust in the United States […] promotes evasion of moral and historical responsibility. The repeated assertion that whatever the United States has done to blacks, Native Americans, Vietnamese, or others pales in comparison to the Holocaust is true—and evasive. And whereas a serious and sustained encounter with the history of hundreds of years of enslavement and oppression of blacks might imply costly demands on Americans to redress the wrongs of the past, contemplating the Holocaust is virtually cost-free: a few cheap tears.33

Während Novick bei aller Vehemenz nur davon spricht, dass von Amerikanern verübte Grausamkeiten durch den Vergleich mit dem Holocaust weniger schlimm erscheinen, haben andere Untersuchungen hervorgehoben, wie durch die Konzentration auf den Holocaust die Erinnerung an hausgemachte Katastrophen, insbesondere an die Sklaverei und die bis heute andauernde Diskriminierung der Schwarzen, fast völlig ausgelöscht wird.34 Dies ist der Hintergrund, vor dem Philip Roths The Plot against America gelesen werden muss.

Roths Roman gehört zum Genre der alternate history, imaginiert also einen alternativen, nicht eingetretenen Geschichtsverlauf.35 Charles Lindbergh, der berühmte Pilot, gewinnt 1940 die Präsidentschaftswahlen gegen Franklin Delano Roosevelt. Als Präsident hält Lindbergh, der offen mit Hitler sympathisiert, die USA aus dem Krieg heraus und initiiert Maßnahmen zur ‚Integration’ der jüdischen Amerikaner, die stark an die Maßnahmen der Nazis erinnern. Die Familie des Erzählers, eines kleinen Jungen namens Philip Roth, droht an dieser Situation zu zerbrechen. Die Lage spitzt sich schließlich dramatisch zu, als Lindbergh plötzlich spurlos verschwindet und es im ganzen Land zu antisemitischen Pogromen kommt. Doch letztendlich setzen sich die demokratischen Mechanismen durch, Roosevelt kehrt zurück, übernimmt nochmals das Präsidentenamt und führt die USA in den Krieg. Dieser endet wie in der Realität 1945; die Alternativgeschichte mündet so wieder in die Realgeschichte.

Roths Roman ist in den USA als eine kritische Auseinandersetzung mit den Entwicklungen nach dem 11. September 2001 gelesen worden. In der Tat ist es schwierig, beim ersten Satz des Texts – „Fear presides over these memories“36 – nicht an das Klima der Angst nach den Anschlägen von 9/11 zu denken. Zudem evoziert die Beschneidung der Bürgerrechte die Gesetze der Patriot Act und andere umstrittene Maßnahmen. Auch erinnert Lindberghs Auftritt in Fliegermontur auf dem Nominierungsparteitag der Republikaner stark an Bushs Landung – ebenfalls in Fliegermontur – auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln im Mai 2003, wo die Invasion des Irak als Erfolg, als „mission accomplished“, verkauft wurde. Während die Bush-Regierung versuchte, über den Begriff „Achse des Bösen“ den Irak in die Nähe der Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs und somit des Faschismus zu rücken, rückt Roths Roman somit über die Figur Lindberghs die Bush-Regierung selbst zumindest in die Nähe des Faschismus.37

Ist Roths Roman somit in Hinblick auf die Bewertung der Bush-Regierung äußerst kritisch, so affirmiert der Text gleichzeitig jedoch ein traditionelles Vertrauen in die moralische Überlegenheit der USA. Denn in The Plot against America setzen sich die demokratischen Verfahrensweisen in dem Moment, wo sie wirklich bedroht werden, schließlich doch durch. Zudem externalisiert der Text die Bedrohung amerikanischer Werte. Selbst wenn Hitler nicht der Schuldige ist, der Lindbergh seit Jahrzehnten erpresst und zur anti-semitischen Politik gezwungen hat, wie ein am Ende des Romans kolportiertes Gerücht besagt, stellt The Plot against America die Bedrohung der demokratischen Strukturen der USA als eine Bedrohung von außen dar, als eine unamerikanische Attacke auf genuin amerikanische Werte. Das ist bereits im Titel angelegt, der von einer Verschwörung gegen Amerika kündet. Völlig egal, ob Lindbergh oder doch Hitler hinter dieser Verschwörung stecken, beide werden durch diese rhetorische Operation als das vermeintlich natürlichen amerikanischen Werten wie Demokratie, Toleranz oder Freiheit entgegenstehende Andere definiert. Roths Roman ist also gleichzeitig kritisch und affirmativ und somit ideologisch äußerst ambivalent.38

Eine ähnliche Ambivalenz kennzeichnet die Art und Weise, wie der Roman das Verhältnis von jüdischem und afro-amerikanischem Leiden verhandelt. Man kann den Roman, wie Walter Benn Michaels gezeigt hat, als einen Text lesen, der die Amerikanisierung des Holocaust aktiv betreibt und die Erinnerung an die hausgemachte Katastrophe der Sklaverei und der Rassendiskriminierung durch die an eine in Europa geschehene ersetzt.39 Denn schließlich wird der Holocaust in den USA heute erinnert, als wäre die Geschichte wirklich so verlaufen, wie sie das in der Welt des Romans tut, wo viele real existierende Elemente der Diskriminierung von Schwarzen als anti-semitische Maßnahmen wiederkehren. Das beginnt mit der Behandlung der Familie Roth in einem Washingtoner Hotel, wo sie bereits kurz nach der Wahl Lindberghs als Bürger zweiter Klasse vor die Tür gesetzt werden, setzt sich fort mit dem Plan der Mutter, nach Kanada zu fliehen, also in das Land, das traditionell das Ziel aller aus den Südstaaten geflohener Sklaven war, und endet mit der letzten Episode des Romans, die schildert wie Philips Vater und sein älterer Bruder Sandy während der Pogrome nach Lindberghs Verschwinden mit dem Auto von New Jersey nach Kentucky und wieder zurück fahren, um den Sohn ihrer ehemaligen Nachbarin abzuholen, die während der Ausschreitungen ermordet worden ist.

Die Fahrt der kleinen Gruppe durch die in diesen Tagen beinahe völlig gesetzlosen Südstaaten zurück nach Norden erinnert ebenfalls an die Flucht der Sklaven des 19. Jahrhunderts sowie an die Situation der Schwarzen bis weit ins zwanzigste Jahrhundert. Sie wissen nie, ob diejenigen, denen sie begegnen, sie angreifen werden, und meiden daher andere Menschen, soweit es nur irgendwie möglich ist. Die Angst des Vaters während all dieser Tage kulminiert auf der vorvorletzten Seite des Romans, als er aus einem kleinen Krankenhaus kommt, wohin er sich widerwillig begeben hat, um eine eiternde Wunde säubern und verbinden zu lassen, und seinen Sohn Sandy dabei erwischt, wie dieser einige Patienten zeichnet, darunter ein dreizehnjähriges Mädchen:

When my father—with a new bandage covering his cheek—came out of the doctor’s office and saw what Sandy was up to, he took him by the belt of his trousers and dragged him, sketchpad and all, clear off the side of the porch and out to the road and into the car. “Are you crazy,” my father whispered, peering furiously down at him over his neck brace, “are you nuts, drawing her?” “It’s only her face,” Sandy tried to explain, holding the sketchpad to his chest—and lying. “I don’t care what it is! You never heard of Leo Frank? You never heard of the Jew they lynched in Georgia because of that little factory girl? Stop drawing her, damn it! Stop drawing any of them! These people don’t like being drawn—cant’ you see that? We came out to Kentucky to get this boy because they have burned his mother to death in her car! For Christ’s sake, put those drawing things away, and don’t draw any more girls!”40

 Hier, so kann man argumentieren, wird die Umschreibung der Geschichte auf die Spitze getrieben. Leo Frank, den der Vater seinem Sohn hier als warnendes Beispiel vor Augen führt, wurde 1915 als Mörder zum Tode verurteilt, weil ein dreizehnjähriges Mädchen, eine Angestellte in seiner Fabrik, Tod aufgefunden wurde, nachdem sie kurz zuvor mit ihm gesehen worden war. Als die Zweifel an seiner Schuld immer größer wurden, wandelte der Gouverneur von Georgia das Todesurteil in lebenslängliche Haft um. Frank wurde daraufhin von einem wütenden Mob aus dem Gefängnis entführt und gelyncht. Er ist jedoch – und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend – aller Wahrscheinlichkeit nach der einzige Jude, der jemals in den USA gelyncht wurde. Der Roman aber erzählt von Franks Schicksal, als sei es kein Einzelfall, sondern als wäre es die Regel, dass Juden in den Südstaaten gelyncht werden. In Verbindung mit der Flucht der Roths suggeriert der Roman so, dass sich der Hass der weißen Südstaatler primär gegen Juden gerichtet hätte und vergisst, dass es historisch die Schwarzen waren, die als Bedrohung weißen Blutes und weißer Weiblichkeit betrachtet wurden – und von denen zwischen 1860 und 1950 mehrere Tausend gelyncht wurden.41 Die Amerikanisierung des Holocaust, die der Roman wörtlich nimmt, führt hier zur völligen Auslöschung der afro-amerikanischen Leidensgeschichte.

Man kann den Roman im Allgemeinen und diese letzte Episode im Speziellen aber auch ganz anders interpretieren. Der Text lässt nämlich über weite Strecken offen, wie groß die Gefahr wirklich ist, der die Roths und die übrigen amerikanischen Juden ausgesetzt sind, beziehungsweise ob überhaupt Gefahr besteht. Gerade der Vater der Familie neigt dazu, überall Antisemitismus zu wittern. Auch auf der Fahrt durch den Süden werden er und sein Sohn niemals wirklich bedroht; die Gefahr existiert vor allem in ihren Köpfen. Zudem treibt die letzte Episode, in der Lynchen vom Vater als anti-semitische Praxis präsentiert wird, die bis dahin recht subtile Umschreibung der afro-amerikanischen in eine jüdische Leidensgeschichte auf die Spitze und gewinnt dadurch ein gewisses kritisches Potenzial. Denn während sowohl Sohn Sandy als auch die Leserschaft eine Erklärung benötigen, wer Leo Frank war – eine Erklärung, die der Wutausbruch des Vaters gleich mitliefert –, braucht vermutlich kaum ein Leser oder eine Leserin daran erinnert zu werden, dass in den Südstaaten vor allem Schwarze gelyncht wurden – und eben nicht die Juden. Man könnte daher argumentieren, dass der Text somit über die offensichtliche Fehlinterpretation einer Vergangenheit, die dem kontrafaktischen Entwurf vorausgeht, die Mechanismen bloßlegt, über die in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten die Geschichte der Sklaverei und ihrer Folgen verdrängt und durch eine Leidensgeschichte ersetzt wird, an der im Roman wie in der Realität letztendlich nicht die Amerikaner, sondern „unamerikanische Gesellen“ wie Lindbergh und Hitler Schuld sind. Der ideologischen Ambivalenz in der Beurteilung der Folgen des 11. September 2001 entspricht somit eine strukturell analoge Ambivalenz hinsichtlich der Amerikanisierung des Holocaust, die der Text, je nachdem, welche Lesart man bevorzugt, entweder betreibt oder entlarvt.

IV. Konklusion

Unabhängig davon aber, für welche Lesart von The Plot against America man sich letztendlich entscheidet, insistiert der Roman weiterhin auf die zentrale Bedeutung des Holocaust für die jüdisch-amerikanische Identität. Dies verbindet ihn mit Romanen von Melvin Jules Bukiet und Michael Chabon und unterscheidet ihn von Texten von Jonathan Safran Foer, Myla Goldberg und Allegra Goodman. Bukiets After und Chabons The Amazing Adventures of Kavalier & Clay (2002) und The Yiddish Policemen’s Union (2007) setzen sich, wie Susanne Rohr für den ersten dieser Romane gezeigt hat, mehr mit bereits existierenden Repräsentationen des Holocaust auseinander und versuchen nicht, diesen in irgendeiner Weise „authentisch“ zu repräsentieren.42 Indem sie den Holocaust jedoch zum alleinigen Bezugspunkt für die Identität ihrer jüdischen Protagonisten machen, perpetuieren sie bewusst oder unbewusst dessen Signifikanz für die jüdisch-amerikanische Kultur, selbst wenn sie dies in einem Text wie The Yiddish Policemen’s Union tun, der ähnlich ambivalent ist wie The Plot against America und den man deshalb ebenfalls als eine kritische Auseinandersetzung mit der Amerikanisierung des Holocaust lesen kann.43 In den Texten von Foer, Goldberg und Goodman dagegen findet eine klare Verschiebung weg vom Holocaust und hin zu anderen Momenten der jüdischen Geschichte statt. Allegra Goodman weist „alle Ausformungen des Opfer- und survivor-Diskurses und damit auch indirekt den Holocaust als Quelle und Zentrum jüdischer Identität“ zurück,44 und Myla Goldberg fühlt sich, wie Julia Männel überzeugend argumentiert, einem ähnlichen Standpunkt verpflichtet, geht aber noch einen Schritt weiter, indem sie den Holocaust in Bee Season (2001) bis auf eine Randbemerkung völlig ignoriert.45

Vernachlässigt man, dass Chabon näher bei Foer, Goldberg und Goodman als bei Bukiet und Roth steht, wenn man das Alter der Autorinnen und Autoren zum Maßstab macht, kann man die unterschiedliche Bedeutung, die dem Holocaust von beiden Gruppen zugeschrieben wird, auf die Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen zurückführen.46 Somit kann man die beginnende Problematisierung des Holocaustdiskurses, die in den Texten der älteren Autoren erkennbar ist, als Vorstufe der ungleich radikaleren Zurückweisung des Holocaust als (alleinigen) Bezugspunkt jüdisch-amerikanischer Identität in den Texten der jüngeren Autorinnen und Autoren verstehen. Diese sind alle nur geringfügig älter sind als die Studentin Laura, mit deren Unmut darüber, wie über den Holocaust gesprochen wird, ich begonnen habe, und den Foer, Goodman und Goldberg offensichtlich teilen. Diese generationale Lesart wird auch dadurch bekräftigt, dass den unterschiedlichen Einstellungen zum Holocaust verschiedene ästhetische Verfahrensweisen entsprechen. Während Bukiet ein postmodernistischer Autor ist und Roth niemals vom traditionellen Realismus der 1950er Jahre abgerückt ist, kann man Goodman und Goldberg als neorealistische Autorinnen und Foer als post-postmodernistischen Autoren bezeichnen.47 Bei allen Unterschieden, was den Grad der Selbstreflexivität und der metafiktionalen Verspieltheit betrifft, ist den beiden letzten Strömungen gemein, dass sie den Zweifeln an der Möglichkeit von Repräsentation, die realistische Autoren noch nicht haben und die bei modernistischen und postmodernistischen Autoren zur beständigen Dekonstruktion der eigenen Darstellungen führen, mit dem Beharren auf der Notwendigkeit von Repräsentation begegnen. Denn es hilft ja alles nichts: Will man das Andenken an den Holocaust und all das, was durch ihn zerstört wurde, bewahren, muss man diese Ereignisse darstellen. Insbesondere Foer fällt somit nicht hinter die Einsichten von Modernismus und Postmodernismus zurück, sondern geht einen Schritt weiter.

Anmerkung der Redaktion: Die Beitrag ist zuerst erschienen in: Katastrophe und Gedächtnis. Hg. v. Thomas Klinkert und Günter Oesterle. Berlin: de Gruyter 2014. S.350-371. Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung in literaturkritik.de.

Verweise

 1. Als Euro-Amerikaner werden weiße, von europäischen Einwanderern abstammende US-Amerikaner bezeichnet.

 2. Foer, Jonathan Safran, Everything Is Illuminated, New York 2002, S. 179.

 3. Für die jüdisch-amerikanische Autorinnen und Autoren, die seit den späten 1980er Jahren publizieren, hat sich in der Forschung mittlerweile der Begriff der „third generation“ etabliert (vgl. Meyer, Adam, „Putting the ‘Jewish’ Back in ‘Jewish American Fiction’: A Look at Jewish American Fiction from 1977 to 2002 and an Allegorical Reading of Nathan Englander’s ‘The Gilgul of Park Avenue’“, in: Shofar: An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies. 22/2004, 3, S. 101-120). Ich verwende diese Designation im Kontext meiner Überlegungen bewusst nicht, da sie der geraden vorgenommenen Unterscheidung in Schriftsteller, die den Holocaust weiterhin als zentralen Marker jüdischer Identität sehen, und solche, die diesen Bezug zurückweisen, entgegenläuft. Operiert man mit dieser generationalen Kategorisierung erscheint Michael Chabon als Vertreter der dritten Generation, während Philip Roth und Melvin Jules Bukiet, mit denen er, was die Bewertung des Holocaust für die jüdisch-amerikanische Identität betrifft, mehr gemein hat als mit Jonathan Safran Foer oder Myla Goldberg, Repräsentanten der zweiten Generation wären. Zudem speist sich die Idee einer dritten Generation nicht nur aus dem Rekurs auf die erste Generation jüdischer Schriftsteller, die Ende des 19. Jahrhunderts in die USA einwanderten und dort zu schreiben begannen, sondern auch aus dem Gedanken, dass es sich um die dritte Generation nach dem Holocaust, die Enkel der Ermordeten oder Entkommenen, handelt. Somit transportiert die Rede von der dritten Generation jüdischer Autoren in den USA, so hilfreich sie in anderer Hinsicht auch sein mag, weiterhin die Idee, dass der Holocaust die Quelle aller jüdisch-amerikanischen Identität sei. Diesen Bezug lehnen Foer, Goldberg, Goodman und Horn aber ganz explizit ab. Den Hinweis auf diese Problematik des Begriffs „third generation“ verdanke ich ebenso wie weitere Ideen, die diesen Artikel maßgeblich beeinflusst haben, der exzellenten, aber leider unveröffentlichten Magisterarbeit von Julia Männel, „‘Third Generation Jewish American Fiction’: Myla Goldberg, Allegra Goodman, Dara Horn, Jonathan Safran Foer“, Bonn 2007.

 4. Für eine ausführlichere Darstellung des Folgenden siehe Butter, Michael, The Epitome of Evil. Hitler in American Fiction, 1939–2002, New York 2009, insb. S. 28-38.

 5. Von dieser Warte aus argumentiert beispielsweise Gerson, Stéphane, „Silent Tales: Survivors as Storytellers“, in: Response: A Contemporary Jewish Review 68/1997, S. 102-116.

 6. Vgl. Novick, Peter, The Holocaust in American Life, Boston 1999, sowie Alexander, Jeffrey, „On the Social Construction of Moral Universals: The ‘Holocaust’ from War Crime to Trauma Drama“, in: European Journal of Social Theory 5/2002, 1, S. 5-85. Obwohl Alexander sich explizit von Novick abgrenzt, vgl. ebd. S. 73, sind beide Erklärungsversuche durchaus komplementär, weshalb ich im Folgenden eine Synthese beider Ansätze präsentieren werde. Zu den Unterschieden und Parallelen zwischen Novick und Alexander vgl. Butter, The Epitome of Evil, S. 30 und S. 36-37.

 7. Novick, The Holocaust, S. 83.

 8. Alexander, „The ‘Holocaust’“, S. 6.

 9. Vgl. Novick, The Holocaust, S. 6-7.

 10. Ebd., S. 171.

 11. Vgl. Adams, Michael, The Best War Ever. America and World War II, Baltimore 1994. Siehe auch Terkel, Studs, “The Good War”. An Oral History of World War II, New York 1984.

 12. Novick, The Holocaust, S. 207.

 13. Siehe hierzu Sielke, Sabine, „Reading Cultural Practices, Re-Reading Race. History, Identity, and the Aesthetics of the United States Holocaust Memorial Museum“, in: Sonja Bahn/Mario Klarer (Hrsg.). Cultural Encounters, Sonderheft der ZAA Studies 11/2000, S. 81-102.

 14. Flanzbaum, Hilene, „Introduction“, in: dies. (Hrsg.), The Americanization of the Holocaust, Baltimore 1999, S. 1-17, hier: S.13.

 15. Zit. in Alexander, „The ‘Holocaust’“, S. 33.

 16. Wiesel, Elie, A Jew Today, übersetzt von Marion Wiesel, New York 1978, S. 197-198.

 17. Hartmann, Geoffrey, „The Book of the Destruction“, in: Saul Friedlander (Hrsg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the Final Solution, Cambridge 1992, S. 318-334, hier: S. 321.

 18. Spiegelman, Art, Maus. A Survivor’s Tale. Bd. II: And Here My Troubles Began, New York 1991, S. 45. Siehe zu Maus auch Hungerford, Amy, „Surviving Rego Park. Holocaust Theory from Art Spiegelman to Berel Lang”, in: Hilene Flanzbaum (Hrsg.), The Americanization of the Holocaust, Baltimore 1999, S. 102-124.

 19. Foer, Everything Is Illuminated, S. 184.

 20. Ebd., S. 60.

 21. Weissman, Gary, Fantasies of Witnessing. Postwar Efforts to Experience the Holocaust, Ithaca 2004, S. 5. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Amian, Katrin, Rethinking Postmodernism(s). Charles S. Peirce and the Pragmatist Negotiations of Thomas Pynchon, Toni Morrison, and Jonathan Safran Foer, Amsterdam, New York 2008, S. 162-163. Amians exzellente Studie hat mein Verständnis des Romans nachhaltig beeinflusst. Weitere überzeugende Analysen des Romans finden sich in Ribbat, Christoph, „Nomadic with the Truth: Holocaust Representations in Michael Chabon, James McBride, and Jonathan Safran Foer“, in: ders. (Hrsg.), Twenty-First Century Fiction. Readings, Essays, Conversations (anglistik & englischunterricht, 68/2005), Heidelberg 2005, S. 199-218 und Rohr, Susanne, „Transgressing Taboos: Projecting the Holocaust in Melvin Jules Bukiet’s After and Jonathan Safran Foer’s Everything Is Illuminated“, in: Thomas Claviez et al. (Hrsg.), Aesthetic Transgressions. Modernity, Liberalism, and the Function of Literature. Festschrift für Winfried Fluck zum 60. Geburtstag, Heidelberg 2006, S. 239-260.

 22. Foer, Everything Is Illuminated, S. 147.

 23. Amian, Rethinking Postmodernism(s), S. 166.

 24. Foer, Everything Is Illuminated, S. 7 und S. 24.

 25. Das Kapitel „Illumination“ (Foer, Everything Is Illuminated, S. 243-252), in dem Alex schildert, wie sein Großvater ihm und Jonathan schließlich seine lange verdrängte Schuld eingesteht, macht als einzige Passage des Romans klare Anleihen bei der Holocaustliteratur vergangener Jahrzehnte, da es die Grenzen der sprachlichen und retrospektiven Repräsentation des Geschehen deutlich macht. Über mehrere Zeilen wird die Erzählung des Großvaters von keinem Satzzeichen unterbrochen, wodurch die Atemlosigkeit des Geständnisses ausgedrückt wird, das endlich aus ihm herausbricht. An der entscheidenden Stelle seines Berichts, als er erzählt, wie er seinen besten Freund, einen Juden, an die Deutschen verriet, um seine eigene Familie zu retten, schlägt sich die Intensität des Erinnerten dann darin nieder, dass die Worte ineinander fließen: „I felt Herschel’s hand again and I knew that his hand was saying pleaseplease Eli please I do not want to die please do not point at me I am afraid of dying I am so afraid of dying I am soafraidofdying Iamsoafraidofdying who is a Jew the General asked me again and I felt on my other hand the hand of Grandmother and I knew that she was holding your father and that he was holding you and that you were holding your children I am so afraid of dying I am soafraidofdying Iamsoafraidofdying Iamsoafraidofdying and I said he is a Jew“ (ebd., S. 250).

 26. Foer, Everything is Illuminated, S. 13.

 27. Ebd., S. 273.

 28. Vgl. hierzu die Kapitel zum metahistorischen Roman und zur historiographischen Metafiktion in Nünning, Ansgar, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. 2 Bde, Trier 1995.

 29. Siehe hierzu auch Amian, Rethinking Postmodernism(s), S. 177-180.

 30. Ebd., S. 183-189.

 31. Foer, Everything Is Illuminated, S. 95f. Hervorhebungen im Original.

 32. Siehe beispielsweise Mandel, Naomi, Against the Unspeakable. Complicity, the Holocaust, and Slavery in America. Charlottesville 2006; dies., „Rethinking ‘After Auschwitz’. Against a Rhetoric of the Unspeakable in Holocaust Writing“, in: boundary 2 28/2001, 2, S. 203-228; McGlothlin, Erin, „Narrative Transgression in Edgar Hilsenrath’s Der Nazi und der Friseur and the Rhetoric of the Sacred in Holocaust Discourse“, in: The German Quarterly 80/2007, 2, S. 220-239; and Trezise, Thomas, „Unspeakable“, in: The Yale Journal of Criticism 14/2001, 1, S. 39-66.

 33. Novick, The Holocaust, S. 15.

 34. Zur Verdrängung der eigenen Geschichte durch die Erinnerung an den Holocaust vgl. Mandel, Against the Unspeakable.

 35. Bislang existiert nur eine recht überschaubare Anzahl von Studien zu dieser Gattung. Zudem benennen die vorliegenden Arbeiten den Untersuchungsgegenstand unterschiedlich. So spricht Jörg Helbig (Der parahistorische Roman. Ein literarhistorischer und gattungstypologischer Beitrag zur Allotopieforschung, Frankfurt 1988) vom „parahistorischen Roman“, Christoph Rodiek (Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur. Frankfurt 1997) von „Uchronie“ und Andreas Martin Widmann (Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr, Heidelberg 2009) vermeidet eine Gattungsbezeichnung und spricht wie Rodiek in seinem Untertitel von „kontrafaktischen Geschichtsdarstellungen“. Im englischsprachigen Raum hat sich nicht die eigentlich korrekte Bezeichnung „alternative history“ durchgesetzt, sondern der an sich irreführende Ausdruck „alternate history“. Da dieser sowohl von den Autoren und Lesern der Texte bevorzugt als auch in den neueren Publikationen von Karen Hellekson (Refiguring Historical Time. The Alternate History. Kent, OH 2001) und Gavriel D. Rosenfeld (The World Hitler Never Made. Alternate History and the Memory of Nazism. Cambridge 2005) verwendet wird, benutze auch ich ihn. Zu den kulturellen Funktionen des Genres siehe Butter, The Epitome of Evil, S. 47-57 sowie Butter, Michael, „Zwischen Affirmation und Revision populärer Geschichtsbilder: Das Genre der alternate history“ in: Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hrsg.), History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009, S. 65-82.

 36. Roth, Philip, The Plot against America. New York 2004, S. 1.

 37. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass, egal welche Faschismusdefinition man anlegt, die USA im Roman nie wirklich faschistisch werden. Lindbergh führt eine rechtskonservative, isolationistische Regierung an, die mit den Faschisten sympathisiert, die aber bis auf die kurze Phase nach seinem Verschwinden demokratische Verfahrensweisen nicht außer Kraft setzt. Selbst wenn man in Lindbergh George W. Buch erkennen möchte, so erscheint dieser in der impliziten Charakterisierung des Romans deshalb nicht wie Hitler, aber eben sehr wie Lindbergh – als ein rechtskonservativer Populist, der mit einfachen Parolen das Volk verführt hat.

 38. Für eine ausführlichere Analyse der Ambivalenz des Romans in dieser Hinsicht siehe Butter, „Zwischen Affirmation und Revision“, S. 13-16.

39. Siehe Michaels, Walter Benn, „Plots against America. Neoliberalism and Antiracism“, in: American Literary History 18/2006, 2, S. 288-302, und ders., The Trouble with Diversity. How We Learned to Love Identity and Ignore Inequality, New York 2007, S. 57-68.

 40. Roth, The Plot against America, S. 359. Hervorhebungen im Original.

 41. Zu Leo Frank siehe Dinnerstein, Leonard, The Leo Frank Case, Athens, GA 1987; zur Geschichte des Lynchings in den USA siehe Brundage, W. Fitzhugh, Lynching in the New South. Georgia and Virginia, 1880-1930, Urbana/Chicago 1993 und Tolnay, Stewart E./Beck, E.M., A Festival of Violence. An Analysis of Southern Lynchings, 1882-1930, Urbana/Chicago 1995.

 42. Vgl. Rohr, Susanne, „‘Playing Nazis,’ ‘mirroring evil’. Die Amerikanisierung des Holocausts und neuere Formen seiner Repräsentation“, in: Amerikastudien/American Studies 47/2002, 4, S. 539-553.

 43. Chabons The Yiddish Policemen’s Union gehört wie Roths The Plot against America zum Genre der alternate history. In der Welt des Romans wurde den europäischen Juden 1941 gestattet, sich in Alaska anzusiedeln, weshalb „nur“ zwei Millionen von ihnen im Holocaust ihr Leben verlieren. Der Roman spielt jedoch in der Gegenwart, wo der Pachtvertrag für das gemietete Territorium grade ausläuft, und verhandelt über die Frage, was nun mit den Juden geschehen soll, in komplexer Manier den Zusammenhang von Holocaust, Antisemitismus und Zionismus.

 44. Rohr, „Playing Nazis“, S. 546.

 45. Goldberg, Myla, Bee Season,New York 2001. Zur Marginalisierung des Holocaust in diesem Roman siehe Männel, „Third Generation“, S. 25-26.

 46. Wodurch jedoch keineswegs die Rede von einer zweiten und dritten Generation jüdisch-amerikanischer Autoren wieder eingeführt werden soll, die ich eingangs verworfen habe (vgl. Anm. 3).

 47. Zu Bukiets Postmodernismus vgl. Ribbat, „Nomadic with the Truth“, S. 204f. Zum amerikanischen Neorealismus im Allgemeinen siehe Fluck, Winfried, „Surface Knowledge and ‘Deep’ Knowledge: The New Realism in American Fiction“, in: Kristiaan Versluys (Hrsg.), Neo-Realism in Contemporary American Fiction, Amsterdam/Antwerpen 1992, S. 64-85 und Rebein, Robert, Hicks, Tribes, and Dirty Realists. American Fiction after Postmodernism, Lexington 2001. Zu den Interferenzen von Postmodernismus und zeitgenössischem Realismus siehe Amian, Rethinking Postmodernism(s), S. 208-210.

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Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz