„Ein Leben lang den Atem angehalten“

Angelika Klüssendorfs Roman „Jahre später“

Von Liane SchüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liane Schüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Jahre später spinnt die Autorin Angelika Klüssendorf eine Geschichte weiter, die sie mit dem 2011 erschienenen Coming-of-Age-Roman Das Mädchen begonnen hat. Hier erzählte sie vom Erwachsenwerden ihrer namenlosen Protagonistin, die in der DDR in prekären sozialen und emotionalen Verhältnissen aufwächst, zunächst mit einer zu heftigen Gewaltausbrüchen und sadistischen Grausamkeiten neigenden Mutter, einem alkoholabhängigen, unberechenbaren Vater sowie zwei Brüdern und anschließend in Heimen. Nächtelang im Keller eingesperrt und verwahrlost, reproduziert das Mädchen schließlich Verhaltensweisen der Mutter. Der Roman wirft also nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von Macht in zwischenmenschlichen Beziehungen auf, sondern vor allem, wie ein Heranwachsen unter schwierigen Vorzeichen gelingen kann und ob und wie man den (familiären) Kreis von Gewalt und Elend durchbrechen kann, vor allem im Adoleszenz-Kontext der Hauptfigur, die „nicht mehr Kind, aber auch nichts anderes [ist], ein Nichtkind, Nichtmädchen, ein spindeldürres Ding dazwischen“.

Im Jahr 2014 folgte Klüssendorfs Roman April, der das Leben der mittlerweile erwachsenen Protagonistin schildert, die nicht nur durch den selbstgewählten Namen versucht, sich neu zu (er)finden, sondern auch in der Rebellion gegen eingefahrene Gesellschaftsstrukturen. Mit dem Choreographie-Studenten Hans und ihrem gemeinsamen Sohn Julius zieht sie, als ihr Ausreiseantrag bewilligt wird, von Leipzig nach Westberlin. Massive Anpassungsschwierigkeiten und das Zerbrechen der Beziehung dominieren Aprils neues Leben im Westen. Noch immer kämpft sie gegen die Traumata der Vergangenheit, die Mutter bleibt als dunkle Macht präsent, ihr Schatten holt April immer wieder ein: „Ich werde dir die Haut in Fetzen vom Leib prügeln. Du verdienst nichts anderes“. So brechen die Wunden der Kindheit immer wieder auf. Am Ende des Romans erhält April, die bereits in ihrer Kindheit das Potential von Literatur als Anker- und Fluchtpunkt entdeckt und selbst zu schreiben begonnen hatte, ein Literaturstipendium; hier greift das Narrativ von Literatur als Rettung. Der Roman zeigt den intellektuellen und emotionalen Emanzipationsprozess der jungen Frau und ihren Kampf gegen die tiefen Prägungen der Kindheits- und Jugendjahre, ihren Leitspruch von Rilke im Gepäck: „Wer spricht von Siegen, Überstehen ist alles“.

Mit Jahre später komplettiert Angelika Klüssendorf nun den Romanzyklus und lotet für ihre Protagonistin Möglichkeiten aus, das Leben als Mutter und Ehefrau zu bewältigen. Sporadisch wird eingeflochten, wie April, die sich nach wie vor als eine von den Dämonen ihrer Vergangenheit heimgesuchte Außenseiterin erlebt, die letzten Jahre verbracht hat. Mittlerweile ist ihr Sohn Julius elf Jahre alt und sie ist Autorin geworden. Auf der Lesung ihres Buches begegnet April dem umtriebigen, extrovertierten und sprunghaften Chirurgen Ludwig. Beide spüren eine seltsame Anziehungskraft und werden schnell ein Paar. Mit Ludwig fühlt April sich „auf eine Weise eingebunden ins Leben wie selten zuvor“. Die beiden spielen vergnügt Streiche, agieren wie alberne Kinder und stiften Unruhe, wenn sie fremde Leute mit verstellten Stimmen anrufen. Im Spiel sind sie sich nah, probieren sich aus, imitieren infantile Verhaltensweisen und flüchten aus dem Hamsterrad der Realität, in der beide sich als „Unvertraute“ erleben. In der Spiegelung im Anderen erhoffen sich die komplex-komplizierten Charaktere eine Verschmelzung, um dem Verloren-Sein und ihrem Gefühl von Unbehaustheit beizukommen. Gemeinsam mit Aprils Sohn Julius ziehen sie nach Hamburg. Dieser verhehlt kaum, wie vernachlässigt er sich fühlt. Hier setzt sich fort, was im Vorgängerroman seinen Anfang nahm, als April und Hans schon den Zweijährigen nachts allein ließen, wenn sie ausgingen, „egal ob der kleine Junge wach ist oder schläft, sogar wenn er weint, schreit, bettelt“. Das sei auch in ihrem Freundeskreis so üblich, beruhigt April zu dieser Zeit ihr Gewissen, und „täuscht […] sich selbst, wenn sie Julius im Dunkeln zurücklässt“. Sie kann den Strukturen der erlittenen Erziehung nicht entkommen, die nun auch ihren Umgang mit dem Sohn bestimmen: „Die Verletzungen, die sie ihm so beiläufig, fast unbeabsichtigt zufügt, werden wie eigenständige Organe in ihm wachsen. Niemand weiß das besser als April, sie kennt das Gefühl der Demütigung, des Verrats nur allzu gut“. So wird Aprils traurige Kindheit und ihre aufgestaute Wut, die ohne adäquates Ventil bleibt, auf Julius übertragen: „Wenn Julius vor ihr steht und versucht, ein kleiner tapferer Krieger zu sein, sieht sie nur seine Wut und die Traurigkeit darüber, dass sie es nicht schafft, so für ihn da zu sein, wie er es sich wünscht“. April nimmt das sehr wohl wahr und ist froh, wenn Julius bei seinem Vater Hans die Ferien verbringt. Das Projekt „Gute-Mutter-Sein“ gelingt ihr nicht. Dennoch wird April erneut schwanger und ist, heftig geplagt von Hormonschüben, noch unfähiger, für den pubertierenden Sohn Verständnis aufzubringen. Zudem fühlt sich April in Hamburg entwurzelt, wo ihr alles aufgesetzt, künstlich und oberflächlich vorkommt. Ihr fehlt Berlin und die dortige bodenständige Normalität. Die Geburt des kleinen Samuel kann den Alltag kurzzeitig mit einem „Zauber“ überdecken, nach und nach taucht die Familie aber wieder in gewohnte Strukturen ein und die Beziehung zwischen April und Ludwig scheitert.

Der erste Teil des Romans erinnert an eine Familienaufstellung, eine Versuchsanordnung für ein funktionierendes Leben. „Ich werde der Mann sein, den du dir wünschst“, verspricht Ludwig, aber was will April überhaupt? Hier weiß niemand so recht, wie das Glück zu packen ist, alle leben, gezeichnet von den Spuren ihrer Vergangenheit, aneinander vorbei. Der Text bildet das Hineingeworfen-Sein in ein Leben ab, für das der Beipackzettel fehlt. Was sind die Ingredienzien für ein erfülltes Leben? Der Beruf? Die Familie? Der gesellschaftliche Aufstieg? Im Job scheint zumindest Ludwig teilweise (s)eine Erfüllung zu finden. Der Chirurg arbeitet in Innerem, öffnet Körper, richtet und repariert. Ein Teil dieser Kompetenz findet Einzug in den familiären Alltag, wenn er etwa die vom Tierarzt längst aufgegebene Ratte von Julius operiert und heilt. Ansonsten zieht Ludwig sich aus dem Familienkosmos zurück und vertreibt sich die Zeit mit Computerspielen, während April in Haushaltsverpflichtungen versinkt und auf schizophrene Art mit ihren geisterhaften Fantasiefiguren kommuniziert, was zutiefst ironisch daherkommt. Inneres und Äußeres sind hier nie wirklich kongruent, was sich gleichermaßen im privat-familiären und gesellschaftlich-öffentlichen Leben der beiden zeigt.

Familie wird von Angelika Klüssendorf auf unsentimentale Weise als Sehnsuchtsort inszeniert. Wunschprojektionen sind zwar deutlich sichtbar, können sich aber nicht erfüllen. Analog zu Platons Höhlengleichnis, möchte hier eigentlich niemand ans Licht geführt werden: Erkenntnis tut weh und verletzt. Einmal gekostet, gibt es aber kein Zurück. So „fransen“ Aprils Nachmittage, die „wie aus Zement“ sind, an den Rändern aus und die Abgründe und Strukturen, die das Konzept Familie grundieren, werden nach und nach freigelegt. Niemand kommt hier unbeschadet heraus, vor allem nicht der wortkarge Julius, der schließlich wieder ganz zurück zu seinem Vater zieht. Er repräsentiert in diesem Spiel des Lebens die nächste Generation, die das Erbe der bedrohlich im Hintergrund schwelenden (Familien-)Vergangenheit verwalten muss.

Im zweiten Teil des Romans versuchen April und Ludwig nach einer Trennung einen Neuanfang, landen aber unmittelbar in alten Mustern und entzweien sich schließlich ganz: „Als hätten sie sich nie getrennt, spielen sie schon Tage später die Rollen in ihrer Beziehung, wie sie es jahrelang getan haben“. April fehlt nach wie vor das Unbeschwerte, die Leichtigkeit, „Du siehst aus wie auf Besuch in deinem eigenen Leben“, wird ihr von einem Bekannten zugeflüstert, sie fühlt sich fremd in der Sphäre der (gehobenen) Gesellschaft. Und erbarmungslos ragen die Kindheitstraumata in die Gegenwart hinein. Das wird besonders deutlich, als April ihren Bruder Alex besucht und beide sich in Erinnerungen an den „Zustand der Bedrohungserwartung“ und die grausamen Rituale der Mutter verlieren, die diese seinerzeit zu ihrer Zerstreuung exerzierte.

Ludwig entpuppt sich im Romanverlauf immer mehr als unermüdlicher „Spieler, der blufft, obwohl alles verloren ist“, als ein Mann, der die Fähigkeit der „zweckgebundene(n) Empathie“ beherrscht. April ist ihm in mancher Hinsicht ähnlich, sie kappt die Seile, auf denen sie sich bewegt, „sie muss alles zerstören, so dass es kein Zurück mehr gibt und sie sich im vertrauten Elend einrichten kann“.

Inzwischen ist ihr zweiter Sohn, der hochsensible Samuel, in der Pubertät und scheint Julius abgelöst zu haben, von dem kaum mehr die Rede ist. April versucht sich abermals an der Mutterrolle, sie schwankt in ihren Erziehungsversuchen zwischen Disziplin und Coolness. Hier finden sich amüsante Passagen, wenn sie etwa im Zimmer ihres Sohnes eine beachtliche Cannabis-Zucht entdeckt. Samuel fungiert als Seismograph von Aprils schwankenden Gefühlslagen, die, mit und ohne Tabletten- und Alkoholeinfluss, in Ausnahmezuständen münden. Die Metaphorik des wechselhaften Frühlings vermischt sich offenkundig mit der Reminiszenz an den Deep-Purple-Song – „April is a cruel time, even though the sun may shine (…) Maybe once in a while I‘ll forget and I‘ll smile, But then the feeling comes again of an April without end (…) The springtime’s the season of the night”.

Mit dem letzten Satz greift der Roman den Beginn des Romanzyklus auf: „Scheiße fliegt durch die Luft.“ Der Kreis schließt sich. Und immerhin ist etwas in Bewegung.

Angelika Klüssendorf erzählt in einer schnörkellosen Sprache, die durch intensiv-bewegende Bilder beeindruckt und manchmal an den lakonischen, sentenzenhaften Sprachgestus erinnert, den Marieluise Fleißer in den 1930er Jahren entwickelte. So widersteht der „beschädigte“ Mensch April, von Gefühlseruptionen heimgesucht und permanent zwischen Aktivität und Passivität schwankend, dem Drang, jemandem „den Satz zurück in den Mund zu stopfen“, „ihr Herz ist ein Loch, durch das der Wind pfeift“, sie hat die „Bereitschaft, Risse in ihr Leben zu schlagen“ und „spürt zu viel Haut, aus der sie herausspringen will“. Die Gewalt vergangener Jahre lodert gleichsam als Backup, wird aber nicht voyeuristisch dargestellt und selten explizit.

Dass die Trilogie um April autobiographisch gefärbt ist, hat Angelika Klüssendorf nicht verhehlt. Aus einer realen Person eine poetische Figur zu erschaffen, sei das Schwierige am „authentischen Schreiben“, skizziert die Autorin ihre poetologische Herangehensweise in einem Interview. Aber auch ohne Kenntnisse von Klüssendorfs Biographie funktioniert Jahre später wunderbar als Zeitroman, als Familien- und Eheporträt sowie als Gedankenspiel über das Verhältnis von Realität und Fiktion. Allein letztere vermag für die Ewigkeit zu leuchten, „im Leben funkelt niemand auf Dauer“, heißt es im Roman. Und das vorangestellte Motto von Friedrich Nietzsche grundiert pointiert den ambivalenten Lebensweg von April, deren hartnäckiger Versuch, auf ihr Leben Einfluss zu nehmen, durchgehend mit einer Gemengelage von Schmerz und Freude quittiert wird: „Wenn man sein Gewissen dressiert, so küsst es uns zugleich, indem es beißt“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Angelika Klüssendorf: Jahre später. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
159 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783462047769

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch