Die Gespensterkrankheit der Geschichte

Klaus Modick geht in seinem neuen Roman „Keyserlings Geheimnis“ nach

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einige Episoden, Zitate, Versatzstücke gibt es, die offenbar nicht fehlen dürfen, wenn von Eduard von Keyserling die Rede ist: zum einen den bis zu seinem Tod 1918 in München-Schwabing wohnenden baltendeutschen Autor, inmitten der Wahnmochinger Bohème und zugleich zurückgezogen an ihrem Rande als alternder Junggeselle umsorgt von seinen zwei Schwestern. Zum anderen den von Lovis Corinth wohl im Sommer des Jahres 1901 in Bernried am Starnberger See Porträtierten, der auf dem heute in der Münchner Neuen Pinakothek zu betrachtenden Bild mit einer stets für bemerkenswert befundenen Hässlichkeit festgehalten worden ist. Außerdem den an Syphilis erkrankten und in der Folge erblindeten Schriftsteller, der in seinen den Schwestern diktierten Werken der Erinnerung an seine Heimat und dem Verfall des baltendeutschen Adelsmilieus, dem er entstammt, ein Denkmal setzt: weite Landschaften, staubige Alleen, heiße Sommer, morbide Herrenhäuser. Und schließlich jene unklare „Lappalie“, derentwegen Keyserling 1877 von der Universität Dorpat (heute Tartu) verwiesen und in seiner kurländischen Heimat zu einem Außenseiter wird, weshalb er nach Wien und später nach München ausweicht.

Klaus Modicks neuer Roman Keyserlings Geheimnis greift alle diese Episoden auf, allen voran natürlich, als beständiger Gegenstand des Interesses, ebenjene Dorpater „Lappalie“, die sich hinter dem titelgebenden Geheimnis verbirgt. Wie schon bei Modicks erfolgreichem Konzert ohne Dichter (2015) handelt es sich also um einen Künsterroman, in dessen Zentrum ein Gemälde steht. An die Stelle von Heinrich Vogelers Sommerabend ist nun Lovis Corinths Keyserling-Porträt einschließlich der bereits erwähnten Bernrieder Szenerie getreten: Gemeinsam mit Corinth, dessen Partnerin Charlotte Berend und Max Halbe begibt sich Keyserling zur Sommerfrische an den Starnberger See und lässt sich von den Begleitern überreden, dem Maler Modell zu sitzen. Hinzu kommt dann noch der etwas unleidige Frank Wedekind, der unweit in Feldafing logiert, und schon ist der Rahmen errichtet für Gespräche und Erinnerungen, in denen Modick das Geheimnis seines Eduard Keyserling entfalten kann. Im Übrigen schließt er damit auch an eine kleine literarische Tradition an: Vor einigen Jahren hatte Gerhard Köpf in seiner Erzählung Als Gottes Atem leiser ging (2010) den Münchner Medizinstudenten Loiblfing zum Secretarius Keyserlings gemacht und ihn allerlei aus dessen Leben berichten lassen, die Dorpater Affäre und die Corinthsche Malstunde eingeschlossen.

In Modicks Roman ist Eduard von Keyserling 46 Jahre alt. Er wohnt seit einigen Jahren in München, eine längere Italienreise liegt gerade ein Jahr zurück und er leidet bereits an der Syphilis, deren Folge, die kommende Erblindung, schon absehbar ist. Als Autor ist Keyserling zu diesem Zeitpunkt vor allem durch den Roman Die dritte Stiege (1892) und das Drama Ein Frühlingsopfer (1900) hervorgetreten. Die bis heute aufgelegten Romane, Novellen und Erzählungen aber, die Keyserling in den Rang eines der wenigen bedeutenden Autoren des literarischen Impressionismus im deutschsprachigen Raum erhoben haben, gibt es noch nicht. Wellen (1911) und Fürstinnen (1917), Schwüle Tage (1904) und Nicky (1914) sind noch nicht geschrieben. In Modicks Roman aber sind sie alle, das kann man wohl sagen, bereits im Geiste des Dichters gedacht und zudem auch bis in den Wortlaut hinein präsent.

Obwohl erst Mitte vierzig, ist Keyserling von seiner Krankheit und dem damit einhergehenden Verfall gezeichnet: faltiges, rotfleckiges Gesicht, eine Haut wie zerknittertes Papier, hervortretende, immer schwächer werdende Augen – eine „Inkarnation des zerfallenden Adels in den baufälligen Schlössern und Herrenhäusern seiner baltischen Heimat“, wie es Modicks Erzähler den Gedanken seiner Hauptfigur abliest. Von der Schönheit „welkender Blumen“ ist da die Rede und von „nobler Edelfäule“, wenn Corinth und Berend den Dichter zum Porträt überreden wollen, so wie es auch in Keyserlings noch ungeschriebenen Werken zugehen wird: „Geschichten aus einer Gesellschaft, deren schöne Fassade bröckelt wie trockene Schminke auf dem Gesicht einer Alternden, die das Alter fürchtet, von deren Schlössern der Putz fällt und durch deren undichte Dächer der Wind der Veränderung, wenn nicht gar der Sturm des Umsturzes zieht.“ Modicks Keyserling vollzieht körperlich den in seinen noch zu schreibenden Erzählungen maliziös geschilderten Verfall seines baltischen Heimatmilieus nach. Da hilft es ihm gar nicht, dass er Kurland hinter sich lässt und nach Österreich und Süddeutschland geht und seinen familiären Verpflichtungen zugunsten eines Lebens als Bohème-Dichter ausweicht.

Es ist ein großer Genuss, von Modick mit anspielungsreicher Erzählkunst in die Welt dieses Grafen Keyserling entführt zu werden. Mit zarter Melancholie geht es von München und vom Starnberger See aus in weiten Erinnerungsbögen zurück in Keyserlings Vergangenheit, seine Zeit in Wien, seine daran anschließenden Jahre daheim auf Schloss Tels-Paddern, schließlich seine Studienzeit in Dorpat. So sehr Modick selbst für feine Beschreibungskunst bekannt ist, so sehr darf man in diesem Fall wohl auch annehmen, dass er sie sich Keyserling selbst abgeschaut hat. Passagenweise blitzt dessen Prosa sogar sehr deutlich hervor. Wenn sich beispielsweise Keyserling bei Modick an das Aussehen seines Vaters erinnert („Zwischen den Augenbrauen drei Falten, wie mit dem Federmesser eingeritzt“) und daran, wie dieser ihm das Studium der Jurisprudenz ans Herz gelegt hat („Ein ruhiger, kühler Ausgangspunkt, der sowohl zu anderen Wissenschaften wie zum praktischen Leben die Wege offenlässt“). Es sind dieselben Worte, mit denen in der Keyserlings Erzählung Schwüle Tage der jugendliche Protagonist Bill von seinem Vater spricht. Mit all diesem Anspielungsreichtum mangelt es dem von Modick so leichthin Erzählten aber nicht an Bedeutungsschwere und auch nicht an der Neigung dazu, dies deutlich auszusprechen. Wenn sich alles in allem spiegelt, das Sujet der Literatur im Leib des Autors, Keyserlings Schreiben in dem Modicks, die Deutung von Keyserlings Schreiben in den Worten von Modicks Keyserling-Figur und so weiter, dann findet sich immer jemand, der es noch in Worte fasst.

Die Literatur ist nicht nur Grabmal für eine untergegangene Welt, sondern sie lässt sie auch fortleben in der Fantasie der Leser, in einem durch die Kunst gesteigerten und veredelten Aggregatszustand. So hat Martin Mosebach in seinem Nachwort zu einer Neuausgabe von Erzählungen Eduard von Keyserlings dessen Literatur beschrieben, insbesondere im Blick von heute. Er hat aber auch die Frage aufgeworfen, wie viel an Morbidität und Verfall, die man Keyserling im Nachhinein abliest, sich eigentlich retrospektiver Stilisierung verdanken. Zu Keyserlings Lebzeiten jedenfalls – vor der ersten Unabhängigkeit der baltischen Republiken und den „Heim-ins-Reich“-Kampagnen der Nazis – war das endgültige Ende der Kultur der Baltendeutschen und ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung im Baltikum wie im Russischen Zarenreich insgesamt noch keineswegs besiegelt.

Bei Modick stellt sich dies alles sehr viel bestimmter dar, wie er auch für Keyserlings Geheimnis eine eindeutige Festlegung vorschlägt. Sein Keyserling welkt dahin und mit ihm auch die baltische Lebenswelt seiner Herkunft. Unerbittlichkeit und Selbstbeherrschung erfordere das adelige Leben mit Blick auf jahrhundertealte Verpflichtungen und die Härten der Gegenwart, Modicks Keyserling will sie verständlicherweise nicht leisten und lieber als Dichter das welke Laub zusammenkehren. Mosebach spricht in seinem Essay von einer „Gespensterkrankheit der Geschichte“, in der alles Äußerliche wie unverändert daliege – die Herrenhäuser, die Parks, die Alleen, die Weite des Landes – und doch im Innern der Gutsherren „eine heimliche Krankheit die Instinkte gelähmt, alles […] verwandelt und ausgeblutet“ habe. Ebendiese Krankheit ist es, an der auch Modicks Keyserling leidet.

Titelbild

Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
238 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051568

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