Rumänien abseits der Klischees

„Wohnblockblues mit Hirtenflöte“ – eine literarische Einladung

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Auftritt Rumäniens als Gastland der Leipziger Buchmesse 2018 gehörte auch die Vorstellung der Anthologie Wohnblockblues mit Hirtenflöte, die Erstveröffentlichungen von 20 Schriftstellerinnen und Schriftstellern enthält und, so versprechen es jedenfalls die Herausgeber, „neue Perspektiven auf die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den Landschaften Zentral- und Südosteuropas“ eröffnet. Dass sich in den Gedichten und Erzählungen dieses Bandes – ein Interview ist auch dabei – „eine ungeahnte deutsch-rumänische Beziehungsgeschichte“ entfaltet, „die auf eine jahrhundertealte Tradition von Migration und kulturellem Austausch baut“, ist das Neue und Überraschende an dieser Publikation. Auf diese interkulturelle Tradition, für die Namen wie Jacob und Wilhelm Grimm oder Rainer Maria Rilke, aber auch Paul Celan, Moses Rosenkranz, Rose Ausländer oder Selma Meerbaum-Eisinger stehen mögen, beziehen sich die meisten der im Band versammelten Texte. Ihre Autorinnen und Autoren kommen bis auf eine Ausnahme – Noémi Kiss wurde in Ungarn geboren – aus Rumänien und Deutschland, sind verschiedenen Generationen zuzurechnen und sprechen mehrere Sprachen. Gemeinsam ist ihnen die biografische, kulturelle und literarische Verbundenheit mit Südosteuropa.

Die Texte, in denen die Mehrsprachigkeit ihrer Urheber oft auf spannende Art und Weise produktiv geworden ist, zeichnen das Bild eines nicht auf einen Nenner zu bringenden Landes, das seinen Platz im gegenwärtigen Europa immer noch nicht richtig gefunden zu haben scheint. Für die Gegensätze und Widersprüche des heutigen Rumänien stehen, nicht ohne Ironie, der Wohnblock und die Hirtenflöte im Buchtitel: uralte Städte und verwunschene Landschaften neben Plattenbautristesse und Industrieruinen, armselige Pferdewagen neben nagelneuen Luxus-SUVs, nicht nur seelische Nachwirkungen der Weltkriege des 20. Jahrhunderts und der brutalen Ceauşescu-Diktatur neben abstrusen Wucherungen einer turbokapitalistisch globalisierten Gegenwart – das alles kommt vor in diesen an- und aufregenden Texten, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch unabweislich zusammengehören.

Für Kiss hat das vergangene Jahrhundert ein „seelisches Chaos“ zurückgelassen: „Auf natürliche Weise absurd – Osteuropa. Lauter Flecken, Nebel und Gelähmtheit“, heißt es in ihrer Skizze Temesvár. Eine wunderschöne Stadt – wenn wir sie im Kopf renovieren. „Was will man mit dem Osten? Was will der Osten mit sich selbst?“, fragt Mara-Daria Cojocaru in ihrer mehrsprachigen Erzählung Das Wichtigste zuletzt. Elke Erb blickt auf ihr Lebensthema Rumänien zurück, Uwe Tellkamp berichtet von einer Rumänienreise im Jahr 2011 inklusive Besuchen bei Mircea Cărtărescu und Eginald Schlattner, Jan Koneffke würdigt Bukarest samt seiner großen Dichterin Nora Iuga in lyrischen Hymnen, Roland Erb und Tanja Dückers steuern literarische Reise-Mitbringsel bei. Carmen-Francesca Banciu ist mit der autobiografisch grundierten Erzählung Blütenstaub und Diamanten vertreten, Werner Söllner mit zwei Gedichten. Zu den längeren Texten und zugleich den Höhepunkten der Sammlung gehören Elmar Schenkels Gespräche mit Mircea – „ein echter Rumäne“, diese Katze, die die Massenauswanderung der Rumäniendeutschen so kommentiert:

Die Einzigen, die hier weiter Sächsisch sprechen, das sind wir Katzen. Wir treffen uns heimlich, lauschen den Rattenfängern bei ihrer Arbeit, diskutieren den Haltrich mit seinen schrägen Märchen, dazwischen abends die Tagesschau aus Deutschland, aber die macht uns nichts vor, wir Katzen bleiben hier! Wir haben gläserne Augen, wir sehen kaum noch, wir singen die alten Lieder, mit Katzenzungen singen wir ‚Ein feste Burg ist unser Gott!‘. So sind die Besucher aus dem alten Reich nicht enttäuscht, und die Pfarrer müssen Gott nicht trösten. Selbstverständlich geben wir Autogramme, wir können die Unterschriften fälschen von Maffay und vom Prinzen Charles und seiner Camilla, die uns aber nie beehrt hat, fünf Euro das Stück.

Vieles hat sich schon geändert, noch mehr wird sich ändern, erfährt Mircea am Bahnhof: „Die Zigeuner gibt es nicht mehr, nenn sie schon mal anders. Der Junge mit den Kämmen wird sein Handy kriegen, und seine Kaninchen werden Ruhe geben. Die EU lässt andere Lieder singen, da geht so manche Wagentür zu, und so manche Rauchwolke wird spurlos im Himmel verschwinden… Gewöhne dich an eine mittlere Fremde“.

Nicht nur in den Gesprächen mit Mircea ist die literarische Tradition gegenwärtig, auch in Der Ausländer seine Rose ihr Stein, einem imponierend dichten Text des 1987 in Alba Iulia/Karlsburg geborenen Frankfurter Lyrikers und Übersetzers Alexandru Bulucz. Ob die vom Rattenfänger von Hameln in eine Höhle entführten Kinder in Siebenbürgen wieder herausgekommen sind oder nicht, lässt Jürgen Israel keine Ruhe. Ein beklemmender Romanauszug von Frieder Schuller ruft ein Massaker in der damals rumänischen Bukowina in Erinnerung, das rund 52.000 Juden das Leben kostete: „Die Rumänen gaben sich damals alle Mühe, den Deutschen ebenbürtig zu sein, Bogdanowka 1941“. Die Identitätskonflikte, in die die Politik der Kriegs- und Zwischenkriegsjahre viele Menschen im Südosten Europas verstrickte, spielen in zwei Gedichten von William Totok und einem Prosatext von Eginald Schlattner die entscheidende Rolle. Zwei glitzernde Perlen dieser Sammlung stellen die Erzählungen von Iris Wolff (Drachenhaus) und Dana Grigorcea (Rumänische Frauen) dar, zwei ganz unterschiedliche Höhepunkte rumänisch-deutscher Erzählkunst schlechthin. Mit Joachim Wittstock wird das Sanatorium Doktor Tartler in Braşov/Kronstadt besucht, und in Franz Hodjaks nachdenkenswerter, dialektisch-listiger Prosaskizze Besuche lernt man „Max, den Stadtnarren“ kennen.

Über seine kind- und jugendlichen Verwandtschaftsbesuche gibt der in der DDR aufgewachsene Großautor Ingo Schulze im Gespräch mit Michaela Nowotnick Auskunft: „Rumänien war das andere, und menschlich, liebevoll und warmherzig. Zudem schwang in allem ein merkwürdiges Gefühl von einstiger Größe und von jetziger Armut, aber eine Armut, die mir exotisch und reich vorkam“. Er setzt auch den Schlussakkord dieser lesenswerten Anthologie: „Rumänien geht uns zutiefst an, aber eigentlich kommt es fast nur als Dracula-Land oder im Zusammenhang mit billigen Arbeitskräften vor“. Und genau das, so darf man Schulze verstehen, sollte sich unbedingt ändern. Wohnblockblues mit Hirtenflöte kann dazu beitragen. Die Komposition der Beiträge, das Zusammenspielen und Sich-gegenseitig-Beleuchten seiner heterogenen Texte – mal konventionell-lineare Erzählung, mal avantgardistisches Sprachexperiment – machen das Buch rund. Korrespondierend mit anderen aus Anlass des Leipziger Gastland-Auftritts entstandenen Anthologien und im Zusammenspiel mit den rund 40 neuen literarischen Übersetzungen aus dem Rumänischen ins Deutsche wird sich Wohnblockblues mit Hirtenflöte im literarischen Gedächtnis behaupten.

Titelbild

Michaela Nowotnick / Florian Kühler-Wielach: Wohnblockblues mit Hirtenflöte. Rumänien neu erzählen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018.
239 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783803127945

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