Über das Gespenst der Revolution

Gunnar Hindrichs entwickelt eine „Philosophie der Revolution“

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Gespenst der Revolution scheint in Europa weitgehend gebannt zu sein: Wir blicken ab und zu gen Osten, nach Afrika oder noch weiter nach Asien, wenn uns Nachrichten über revolutionäre Ereignisse erreichen. Ansonsten lehnen wir uns in unserer postmateriellen Gemütlichkeit zurück und haben die Zeiten vergessen, als die Aussicht auf eine revolutionäre Umkrempelung der Gesellschaftsverhältnisse weite Teile der Bevölkerung begeistern und bedrohen konnte. Heute stellen selbst Marxisten fest, wir befänden uns zwar (mit Antonio Gramsci gesprochen) in einem „Interregnum“, doch eine Revolution sei ernsthaft nicht in Sicht. Wenn allerdings der Interregnums-Begriff des linken Theoretikers Gramsci mittlerweile auch von völkischen Denkern zur Kennzeichnung der aktuellen politisch-wirtschaftlichen Situation aufgegriffen wird, dann äußert sich darin doch eine latente Sehnsucht in bestimmten Gesellschaftssegmenten nach etwas grundsätzlich Neuem. Revolutionen zielen ihrem eigenen Anspruch nach darauf ab, eine neue Gesellschaft, eine neue Gesellschaftsordnung herzustellen, einzuführen und zu begründen.

Gunnar Hindrichs, Philosophieprofessor an der Universität Basel, unternimmt in seinem Band nichts Geringeres als die Konzipierung einer „Philosophie der Revolution“. Die vier Kapitel seiner Untersuchung lassen sich cum grano salis den Bereichen „Recht“, „Ethik“, „Ästhetik“ und „Metaphysik“ zuordnen, liegt doch der Fokus des Bandes darauf, wer und mit welchem Recht eine Revolution startet, wie sie das Miteinander der revolutionären Gesellschaft beeinflusst, welche ästhetischen Implikationen die revolutionäre Handlung besitzt und was Gott mit der Revolution zu schaffen hat.

Eine Revolution unterbricht die geltende Herrschaft des Rechts, sie unterbricht das gewöhnliche Befolgen von Regeln. Um zu klären, wem das Recht auf die Schaffung eines Diskontinuums des Rechts zukomme, argumentiert Hindrichs vor allem mit Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Karl Marx. Mit Rousseau ließe sich für das „Volk“ als Rechtssubjekt argumentieren, dessen Gemeinwille sich in einer Revolution rechtsstiftend wirke, indem sie das Volk in sein Recht einsetzt. Kants kategorischer Imperativ weist laut Hindrichs eine „Strukturähnlichkeit“ mit Rousseaus Gemeinwillen auf, denn auch dabei geht es um eine allgemeine Gesetzgebung, deren Fundament der reine Willen und die Maxime des Menschen ist. Während sich aber Kant noch nicht zu einem Recht auf Revolution durchringen konnte, taten dies Johann Gottlieb Fichte und, viel wirkmächtiger, Marx sowie die Marxisten. Als das revolutionäre Subjekt gilt ihnen die Arbeiterklasse, deren Grundrechte durch die entfremdete Arbeit in mehrfacher Hinsicht (Eigentums-, Freiheits- und Gleichheitsrecht) verletzt sind. Die Arbeiterschaft hat jedoch aufgrund ihres marxistischen Klassenbewusstseins Einblick in die Totalität des Weltgeschehens und ist somit ermächtigt, den progressiven Schritt nach vorne zu tun, also die Revolution zu beginnen und voranzutreiben.

Der Begriff der Revolution löst gemeinhin Assoziationen wie Terror, Diktatur und Willkür aus. Diese betreffen das Miteinanderhandeln der revolutionären Gesellschaft, weshalb über die ethische Dimension von Revolutionen nachgedacht werden muss. Hindrichs betont dementsprechend die „eigensinnige Maßlosigkeit revolutionärer Gewalt“. Er beschreibt den revolutionären Staat als eine Diktatur, die die Revolution gegen ihre Gegner auch mit direkter Gewalt durchsetze. Ist dies aber eine Diktatur der revolutionären Bewegung oder die einer Minderheit, einer Avantgarde, die sich im Besitz historischen Rechts wähnt? Hinrichsens Diktum lautet: Revolutionäre Staaten sind „Rechtsaufhebungsstaaten“. Was sich zunächst wie ein Euphemismus liest, ergibt Sinn, denn sie können in dem vorhandenen Diskontinuum der Regeln und Gesetze „keine prinzipielle Rechtsbindung ihrer Gewalt vornehmen“. Der revolutionäre Staat ist schließlich ein Staat im Übergang und im Wandel, der erst dabei ist, die Revolution ihrer Vollendung zuzuführen. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem angestrebten Ziel und den Erfordernissen ihrer Institutionen und der Menschen im Hier und Jetzt. Dieses Spannungsverhältnis muss in einem Miteinanderhandeln im Rahmen einer „Mitwelt“, eines Raumes des Handelns, mit Hilfe des Gemeinsinns ins Lot gebracht werden. Wie aber dieses Miteinanderhandeln nun in einem revolutionären Staat, der einen permanenten Ausnahmezustand der Gewalt darstellt, konkret umgesetzt und gar zur Überwindung dieser Gewalt benutzt werden könnte, erschließt sich dem Leser leider nicht.

Revolutionen stellen immer auch eine ästhetische Erfahrung dar. Dabei geht es nicht alleine um ihre künstlerische Vermittlung, sondern primär um die Wahrnehmung der Zeitgenossen. Zur Erklärung dieser Erfahrung rekurriert Hindrichs auf Termini wie „erhaben“ oder „schön“ und spricht von der „Möglichkeit revolutionärer Schönheit“, die sich etwa in den Emblemen der französischen Revolution (Eid, gemeinsame Handlungen und Erfolge wie die Erstürmung der Bastille, Symbole wie die Sonne oder die Geometrie) als „sinnliche Gestalt“ manifestiert habe. Sie führen zu einem veränderten Miteinanderhandeln der Menschen, welches sich in Festen offenbart – in diesem Zusammenhang leuchtet Hindrichsens Verweis auf die Revolutionsfeste in Deutschland zur Zeit der Französischen Revolution ein. Gefeiert wird dabei der Neuanfang des Handelns, die Versöhnung von Logos und Mythos, eine politische Versöhnung, doch sind dabei stets auch religiöse Bezüge und ein neuer ästhetischer Glanz vorhanden. Letzteren verdeutlicht Hindrichs anhand von Richard Wagners Werk und der russischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Die revolutionäre Kunst lässt sich dabei einerseits mit Platon kritisieren, weil sie, wie laut Platon jede Kunst, die Revolution nur darstelle, sie aber nicht vollziehe. Oder, was Leo Trotzki am Futurismus kritisierte: Dieser stelle lediglich eine Abrechnung mit dem überkommenem Bürgertum dar, sei aber keine genuin revolutionär-progressive Bewegung. Andererseits könne Kunst auch, wenn man ihre Deutung mit der Blochschen Philosophie kurzschließt, als der Vorbote und der Vorschein eines Noch-Nicht, eines Zukünftigem begriffen werden, was wiederum zu metaphysischen Fragestellungen führt.

Der Bezug der Revolution zur Transzendenz lässt sich, wenn man Hindrichs ernst nimmt, unter Heranziehung der altbiblischen Geschichte über den Exodus der Juden aus Ägypten erklären. Der Basler Philosoph deutet die Erzählung, die auch den Bund Gottes mit seinem auserwählten Volk beschreibt, als eine Fortschritts- und Befreiungsgeschichte, in der ein Volk seine Knechtschaft zerbricht, zu einer neuen, eigenen Identität als Volk findet und schließlich sein Reich der Freiheit gründet. Die künstlerischen Darstellungen der Revolution geben einen Vorschein von diesem Reich der Freiheit und seiner Schönheit. Freiheit bedeutet für Hindrichs ganz klassisch Freiheit von (Unterdrückung und Anpassung) und Freiheit für beziehungsweise zu mehr Verantwortung. Diese beiden Formen der Freiheit ließen sich aber nur im Bund mit Gott realisieren, der auf diese Weise zum Gott der Revolution wird. Das Reich der Freiheit werde damit, so die Lesart Hindrichs, zum Reich der Transzendenz, zu Gottes Reich. Dieses kommende Reich wiederum „bildet das Reich des Miteinanderhandelns nach den Regeln, die Gott in die Herzen der Handelnden eingeschrieben hat“.

Spätestens an dieser Stelle fällt dem Rezensenten das Nachvollziehen der Hindrichsschen Gedankengänge schwer, denn bereits die Verbindung der Revolution mit einem wie auch immer gearteten Reich Gottes ist als Teil einer „Philosophie der Revolution“ nicht mehr plausibel. Noch unverständlicher erscheinen aber diese „Regeln, die Gott in das Herz der Handelnden“ hineingeschrieben haben soll. Zwar handelt es sich womöglich um eine jener Parallelen, die in Hindrichs Darstellung stets etwas anderes verdeutlichen sollen. Die Schwierigkeit mit Hindrichs „Philosophie der Revolution“ besteht jedoch darin, dass der Autor das Übertragen von Geschichten auf eine Theorie und Philosophie der Revolution zu häufig dem Leser überlässt. Seine Gleichnisse sind aber nicht nur weit hergeholt, auch ihre Verallgemeinerbarkeit erscheint fraglich.

Frustrierend ist es in diesem Zusammenhang für den Leser, dass die Trennung zwischen Geschichte und Verallgemeinerung mitunter kaum nachvollzogen werden kann. Eine Begriffsklärung von „Revolution“ erfolgt zum Beispiel erst auf Seite 31 im Anschluss und in Verbindung an die Ausführungen zu Rousseau, ohne dass klar würde, ob die Definition bereits der Transfer Rousseauschen Gedankenguts ist oder nicht. Auch ist fraglich, inwiefern eine uralte Erzählung mit unsicherer Überlieferungsgeschichte, die Exodusgeschichte, inhaltlich zu den Revolutionen der Moderne (1789, 1848, 1917, 1989) etwas beitragen und Teil einer Meistererzählung werden kann. Unterzieht man sich aber der Mühe aufmerksamen Lesens, wird man in den ersten drei Kapiteln über das Recht, die Ethik sowie die Ästhetik der Revolution mit zweifellos überraschenden und nachdenklich machenden Einsichten belohnt. Die philosophische Deutung dessen, was Revolutionen ihrem Wesen nach auszeichnet, kann selbstredend keine Gegenwartsanalyse oder gar ein Rezept für künftige Revolutionen bieten, das ist auch nicht ihre Aufgabe. Indem Hindrichs Wesensmerkmale von Revolutionen aufzeigt, gewinnt er ihnen aber Erkenntnisse ab, die unser Verständnis für die philosophische Dimension der Ereignisse der letzten 200 Jahre prägen können.

Titelbild

Gunnar Hindrichs: Philosophie der Revolution.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
396 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587072

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