Wie man vom „Tatort“ ins neunzehnte Jahrhundert springt

„An den Ursprüngen populärer Serialität“ erforscht Claudia Stockinger das Journal „Die Gartenlaube“

Von Sebastian SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Journale, Zeitschriften und Zeitungen unterschiedlichster Art waren in den vergangenen Jahrhunderten oft der erste Publikationsort von Novellen, Gedichten und Romanen. Lange noch bevor die Leser in den teuren Luxusgenuss des gedruckten Buches kamen, das den literarischen Text zwischen zwei Deckeln begrenzt und finalisiert, erschienen Erzählungen in Fortsetzungen und wurden von Blöcken aus Tagesgeschehen, Illustrationen, Theaterkritiken oder Werbeanzeigen flankiert. Seit Rudolf Helmstetter 1997 in seiner Monographie Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes den interpretatorischen Spielraum einer Untersuchung der Erstveröffentlichungspraxis öffnete, schlossen sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr Literaturwissenschaftler an, verschmähten historisch-kritische Editionen und vertieften sich in dem paratextuellen Spiel der periodischen Publikationen. Zu nennen sind hier beispielsweise der Bochumer Tagungsband Zeitschriftenliteratur / Fortsetzungsliteratur. Problemaufriß, herausgegeben von Nicola Kaminski, Nora Ramtke und Carsten Zelle, die DFG Forschergruppe 2288 Journalliteratur: Formatbedingungen, visuelles Design, Rezeptionskulturen oder das SNF geförderte Forschungsprojekt On Serial Repetition von Marcel Schmid. Die Akteure des Diskursfelds fokussieren aus unterschiedlichen Blickwinkeln den „gänzlich differenten medialen Aggregatzustand“ periodischer Publikationsformen und dessen Auswirkungen auf literarische Fabrikate etablierter Autoren seit den aufklärerischen Moralischen Wochenschriften bis in die Gegenwart (beispielsweise an Christoph Martin Wieland, Friedrich Schiller, E.T.A. Hoffmann, Theodor Fontane oder Marie Luise Fleißner).

Durch die Denkbewegung weg vom Buch als Zentrum der Literaturwissenschaft ergibt sich ein theoretischer Mehrwert anhand der Betrachtung ursprünglicher Erscheinungsorte. Die Journalkulturen der vergangenen Jahrhunderte stellen (laut Erdmut Jost) die „vielleicht letzte große terra incognita der literaturwissenschaftlichen Forschung“ dar. Dies liegt zum einen in der schwierigen Überlieferungssituation der Einzelhefte und zum anderen in der schieren Inkommensurabilität des Materials begründet. Das Niemandsland der Fortsetzungswerke ausführlich anhand einer exemplarischen Studie zu kartographieren, ist das Anliegen von Claudia Stockingers Monografie An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt „Die Gartenlaube“. In ihrer Ausrichtung und im Umfang ist diese Arbeit bisher im Forschungsraum einzigartig und entsprechend willkommen. So resümiert Stockinger in ihrer Einleitung zur Erkundung des fraglos wichtigsten Familienblattes des 19. Jahrhunderts, dass die jüngste Forschung zumeist entweder ein primär medienwissenschaftliches oder aber ein hochliterarisches Interesse an den Zeitschriften hatte. Zu diesen Oppositionen platziert sich Stockinger scheinbar ambivalent, wenn sie die Gartenlaube in ihrer Publikationsform als „buchförmig“ erfasst und somit sowohl medial als auch literarisch untersuchen kann.

Das Journal erhielt sich von seiner Gründung 1853 bis in die 1880er Jahre eine vergleichsweise gigantische Auflagenhöhe und erreichte durch einen internationalen Vertrieb einen immensen Leserkreis. Die Gartenlaube ist dabei als „populärkulturelles Artefakt in Serie“ zu begreifen, das von der ersten Ausgabe an programmatisch die speziellen Chancen von Fortsetzungen und Abonnementen ergriff und zur Förderung von Marke und Reichweite ausspielte: „Der Erfolg der Gartenlaube beruht dabei auf der Serialität ihres Programms.“ Die einzelnen Hefte der Wochenzeitschrift verbinden sich durch eine sorgfältig angelegte textura aus ineinander verschränkten Fortsetzungen und Cliffhangern zu einer wirkungsreichen Serie.

Claudia Stockinger helfen bei der methodischen Annäherung an diesen besonderen Text- und Publikationstypus vor allem Studien zur Fernsehserialität, deren Logik sie mit Rückgriff auf Kultur- und Medienwissenschaftler wie Hans-Otto Hügel oder Knut Hickethier bereits in vorhergehenden Forschungen am Tatort eruieren konnte. Anhand der Analyse der Gartenlaube soll nun nichts weniger als der Spagat zwischen den medienhistorischen und literaturwissenschaftlichen Annäherungen an Journale ermöglicht werden. Dabei ist sich Stockinger offensichtlich bewusst, dass es der Literatur- und Kulturwissenschaft noch dem hermeneutischen Handwerkszeug mangelt, die „eigene Formatlogik“ des Texttypus systematisch entschlüsselbar zu machen. In Rückgriff auf die Methoden der Germanistik kann sie sich dadurch absichern, die Gartenlaube und ihren Drang zur Buchwerdung (die Hefte des Jahres wurden, von der Redaktion unterstützt, gesammelt, gebunden und fanden oftmals so als Buch Aufnahme in die Hausbibliotheken) nah an das abgeschlossene und hermetische Buch anzusiedeln. An dieser medienlogisch interessanten Herangehensweise wird erkenntlich, dass im Fokus der Monografie das System Journal mit seinen publizistischen Besonderheiten steht. Es handelt sich also um nichts weniger als Grundlagenforschung; weswegen die Autorin auch vermehrt auf Desiderate, die sich aus der Lektüre ihres Buchs nunmehr ergeben, hinweist.

Dadurch, dass die Auseinandersetzung mit dem Medium nicht mehr über das hochliterarische Anschauungsobjekt Roman, sondern direkt am Text-Bild-Gewebe geschieht, versucht Stockinger, sich systematisch den strukturellen Effekten der textuellen Verfahrensweisen anzunähern. Hierdurch wird automatisch die Möglichkeit einer ästhetischen Rangfolge einzelner Textzeugen ausgeschaltet, was wiederum einen unverfänglicheren Umgang mit dem Textkorpus Journal ermöglicht. Wenn man allerdings Texte in ihrem paratextuellen Raum unter Bezugnahme eines „konzeptionell gedachten Lesers“ betrachtet, droht durch den kulturwissenschaftlichen Fokus schnell (gewünscht oder ungewollt) die Differenz zwischen faktualem und fiktionalem Text zu schwinden. Es liegt dann am literaturtheoretischen Zugang des individuellen Forschers, ob er das Paradigma „Hochliteratur“ zugunsten einer medialen Analyse entsorgen möchte.

Was den methodologischen Zugang betrifft, lassen die plakative Covergestaltung, die beigefügte Autorinnenbiografie sowie der reißerische Titel befürchten, dass Stockingers Arbeit eine self-fulfilling prophecy vorausgehen könnte: Ausgehend von heute etablierten Serienformaten wie dem Tatort werden die Strukturprinzipien der Gartenlaube analysiert. Durch die aktuell seriell-organisierte Populärkultur, die nicht selten den klassischen Film als „zu eng“ ins Reich der überholten Größen verbannt, sind Fragen nach Serialität omnipräsent und en vogue. HBO und Netflix sind dabei, mit ihren Formaten das große Hollywood-Kino zu verdrängen. Folglich liegen die medienwissenschaftlichen Überlegungen, von denen aus die Besonderheiten des Organs namens Gartenlaube dingfest gemacht werden sollen, in diesem medienwissenschaftlichen Objekt begründet. So kommt es stellenweise zu unreflektierten oder verkürzten Nutzungen von Begriffen wie „Text“, „Buch“ oder „Serie“, denen ein konkreter theoretischer Unterbau im historischen Kontext fehlt.

Dennoch ist Claudia Stockingers Analyse reich an neuen und systematischen Gedanken zur Journalgestaltung des 19. Jahrhunderts und den textuellen Verfahren serieller Publikationen. Neben den methodologischen Annäherungen an ein relativ neues Forschungsfeld, ermöglicht die ausführliche Studie des Publikationszeitraums es, die Gartenlaube von ihrem schlechten Ruf zu befreien. Das Familienblatt wurde nicht erst seit seiner umfassenden Abdankung zur Jahrhundertwende 1900 immer ein wenig „von oben herab“ als triviales Publikationsorgan betrachtet. Dass in ihrer Zeit etablierte Dichterexistenzen wie Theodor Fontane miterleben mussten, dass ihre im Journal erstpublizierten Texte (Unterm Birnbaum) nur verhalten rezipiert wurden, zeigt das „populäre“ (im negativen Sinne des Wortes) der Zeitschrift in einer Medienepoche, in der die Fortsetzung das primäre Narrativsystem der Medien darstellte. Gerade mit dem Heranbrechen der literarischen Moderne wurde die Gartenlaube „zum Aushängeschild einer untergegangenen Epoche“ des Konservatismus und des Biedermeier. Nachdem das Journal den Nationenbildungsprozess Deutschlands mitbestimmte, trat mit der Gründerzeit ihr Verfall ein, da ihre Tendenz „zum Nationalen und zur (imaginären) Gemeinschaftsbildung […] für nicht mehr aktuell gehalten“ wurde. Stockingers Herangehensweise an das Familienblatt ermöglicht es nun, sich von diesen bis heute tradierten denunziatorischen Ansichten zu lösen und die Zeitschrift sowie einzelne ihrer Beiträge/Beiträger als Textzeugen einer Ära kultur- und literaturwissenschaftlich zu fassen. Anbetracht der epochalen Bedeutung der Gartenlaube war dies längst überfällig und führt hoffentlich zu zahlreichen Folgestudien zur Journalkultur und -literatur.

Titelbild

Claudia Stockinger: An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt „Die Gartenlaube“.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
384 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835332232

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