Mit Popcorn auf die Couch?

Andreas Hamburger hat eine interessante, aber zu ungenaue Idee, was Filmpsychoanalyse sein könnte

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum geht man ins Kino? Weil man Cineast ist, weil man Theater nicht mag, weil man verliebt ist und in der letzten Reihe sitzen will, weil es nach zwanzig Jahren Ehe besser ist, im Dunklen stumm zu sein, als sich beim teuren Italiener anzuschweigen (vielleicht finden sich die Hände ja doch bei einem Liebesfilm) … Da hat nun Andreas Hamburger, Psychoanalytiker und Professor an der International Psychoanalytic University Berlin, eine interessante Idee, was Psychoanalyse über Filme sagen könnte. Es geht um uns Zuschauer und das gesellschaftlich Unbewusste. Das steht in Kontrast zu anderen psychoanalytischen Zugängen. Manche verstanden Filme als Ausdruck des Unbewussten des Filmemachers. Oder Filmfiguren wurden psychoanalytisch auseinandergebastelt. Das Konzept der spectatorship warf statisch psychoanalytische Raster über die Zuschauerreaktion. Das wendet Hamburger empirisch, ihn interessiert konkretes Rezeptionsverhalten. In vielen Städten gibt es filmpsychoanalytische Initiativen. Wie dort Deutungen entstehen, beschreibt Hamburger am Beispiel der Münchner Gruppe: Nach Wahl eines übergeordneten Themas schlagen Gruppenmitglieder passende Filme vor, Moderatoren stellen diese vor, man sieht sie gemeinsam an. Gemäß Freuds Dreischritt Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten wird wiederholt, die Zuschauer tauschen Erfahrungen aus, die „entstehende Dynamik“ wird „als Spiegelung des vom Film thematisierten psychodynamischen Musters interpretiert“. Dann wird durchgearbeitet: Die erarbeitete Interpretation muss am Film und an der Sekundärliteratur zum Film geprüft werden.

Das klingt bestechend und ist in Analogie zu einer Langzeitanalyse oder einer Gruppenpsychoanalyse gebaut. Doch wozu dieser Aufwand? Hamburger meint: Ins Kino gehen bedeute, sich beim Film auf die Couch zu legen. Und was meint das? Analytiker und Analysand entwickeln in einer Analyse eine gemeinsame Deutung. Psychoanalyse ist Interaktion, Entwurf eines szenischen Verstehens, Konstruktion eines Zwei-Personen-Stücks. Im Kino seien die Rollen nun anders verteilt. Wir, die Zuschauer sind es, um deren Analyse es geht: Der Film ist es, „der wie ein deutender Analytiker prototypische Szenen ausmalt und uns mit Imaginationen konfrontiert, die etwas aufgreifen, von dem er annimmt, dass es uns innerlich beschäftigt.“ Aha.

Im szenischen Verstehen fühlt sich der Analytiker in die Szene des Klienten ein. Genauso, meint Hamburger, „tauchen wir in die vom Kunstwerk evozierte Szene ein und benützen die Wahrnehmung unserer eigenen Befindlichkeit als Zuschauer dazu“, deren unbewussten Inhalt zu verstehen.  Das ist zu unscharf. Totes Celluloid kann sich nicht einfühlen. Die Filmdeutung kann nur im Zuschauer und im späteren Gruppenprozess erfolgen, die Zuschauer wären dann Analytiker und Analysand in Personalunion und in Auseinandersetzung mit sich und in der Gruppe. So sagt es Hamburger aber nicht. Damit verunklart er das Pingpong der Interaktionen und damit den womöglich tatsächlich ablaufenden unbewussten und später aufgedeckten Prozess.

Auch sein zentraler Gedanke bleibt unpräzis. Das Kino ist Illusionsmaschine par excellence, man ist „drin“, affektiv mitgerissen. Dieser Sog komme durch die „kunstvolle Abstimmung“ der Zeitabfolge des Films mit früh erlernten Zeitstrukturen unseres Affektlebens zustande, Filme steuern unsere Affekte durch „Zeitdramaturgie“, vor allem durch Schnitt und Montage. Suspense zum Beispiel funktioniert nur, weil der Wechsel von Spannung und Entspannung unsere früheste Lebenserfahrung darstellt. Spannung und Entspannung sind durch die frühe Mutter-Kind-Dyade in uns verankert. Die Mutter geht auf den Affekt des Kindes ein, sie spiegelt ihn zurück und markiert ihn als je spezifischen. Zwar spiegelt oder markiert das Kino keine Affekte, so Hamburger, doch erleben wir „im Kino Affekte, als ob sie gespiegelt wären“. Filme verwenden „die zeitlichen Engramme“ unserer „Primärerfahrung“.

Sicher, Schnitt und Montage wollen durch Zeitarchitektur emotional beeinflussen. Aber genügt dazu eine formale Struktur? Zwischen Mutter und Kind geht es um Inhalte, nicht nur um ein zeitliches Hin und Her von Babyaffekt und Mamaspiegel. Mama muss auch den Inhalt des Gefühls verstehen. Dieses Hin und Her ist eine face-to-face-Interaktion, bei der es immer wieder zu Einregulierungen zweier füreinander Anwesender geht. Kann eine Schnittfolge Mama sein? Hier bleiben die Bezüge zwischen Zeitstruktur des Films und Zeit-/Inhaltsstruktur der frühen Interaktion doch zu diffus im Analogischen.

Ebenso wenig befriedigen Hamburgers Überlegungen zum Kino als Gruppenerfahrung. Der „Kinoraum“ sei ein „mächtiger Mitspieler in der Kinoerfahrung“. Wie die Masse sei die Gruppe-im-Kino ein eigener kollektiver Akteur, Stichwort unbewusste Gruppendynamik. Hamburger weiß: Die Kinozuschauer geraten „in eine Konstellation, die der Position des Säuglings gegenüber der Brust ähnelt“. Wie bitte? Niemand hängt an einer kollektiven ‚Zitze‘, wenn es hinter einem raschelt, neben einem scharrt und räuspert, vor einem die nächste Szene vor-erzählt wird. Es gibt nicht die Gruppenerfahrung im Kino, sondern ein Wechselspiel zwischen Anonymität und, manchmal, Einklang mit anderen Kinozuschauern. Das muss sich auch im Unbewussten spiegeln.

Auch Ausflüge ins Gesellschaftlich-Große-Ganze überzeugen nicht. Als Beispiel seien Überlegungen zu James Bond angeführt. Es mag sein, dass Bond mit Daniel Craig in die Postmoderne geführt wurde, die vermeintlich angestaubte Bond-Maskulinität brauchte Generalüberholung. Auch das ist zu pauschal. Es gibt nicht die Männlichkeit, nur Männlichkeiten, Hegemonie hin oder her.

Ratlos lässt einen dann Hamburgers Interpretation dieses erneuerten Bond zurück. In Bond-Filmen geistern stets „übermächtige Frauenfiguren“ im Hintergrund herum, man sieht eine Triangulierung von Bond, Bösewicht und Frau: „Dieses Dreieck, in dem zwei Männer um eine Frau kämpfen – einer, der sie beschädigen, und einer, der sie beschützen will“, stelle „den ödipalen Erzählstrang dar.“ War das im Ödipus-Komplex nicht anders? Konkurriert da Sohn nicht mit übermächtigem Papa um Mama-Frau? Jeder will sie für sich – aber doch nicht sie beschädigen. Überdies ist bei Bond der Bösewicht meist schlicht ein durchgeknallter Bösewicht, Väterlichkeit gibt es bei ihm nicht.

Wie auch immer – jedenfalls sei der neue Bond nicht mehr ödipaler Mama-Beschützer, vielmehr opfere die übermächtige Mutter beide Männer im Dreieck. Da ist nicht mehr „die sexuelle Mutter“, sondern die „existenziell-übermächtige Mutterfigur des präödipalen Kindes“, die vernichtet. Wenn nun aber im Spionagethriller gesellschaftlich Unbewusstes zum Ausdruck kommt und das Männlichkeitsmodell Bonds generalüberholt wurde – heißt das dann, dass man sich psychoanalytisch den postmodernen Mann als einen schlotternden, kaum der Sprache fähigen Kindskopf im Angesicht der vernichtenden Mutter denken soll? Das überzeugt nicht. Ganz abgesehen davon belehrte einen die metoo-Debatte, dass die präpotent-ödipale Männlichkeit im Bademantel doch so vergangen noch nicht ist. Auch aus diesen Gründen kann Hamburgers faszinierende Idee, gesellschaftliche Unbewusstheiten, Kino und Zuschauerrezeption kurzzuschließen, so nicht überzeugen.

Titelbild

Andreas Hamburger: Filmpsychoanalyse. Das Unbewusste im Kino – das Kino im Unbewussten.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2018.
403 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783837926736

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