Faust und Helena

Aspekte einer deutsch-griechischen Beziehungs- und Faszinationsgeschichte

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Motto

Goethe, Faust II. „Klassische Walpurgisnacht“, Verse 7397-7445

Helena aus der Unterwelt zu beschwören, misslang im ersten Anlauf.  Nur das verführerische Bild war zu sehen, keine leibhafte Gestalt. Faust soll nun zu den Müttern gehen; Mephisto bringt ihn zu Chiron, dem heilkundigen Kentauren. Faust steigt auf seinen Rücken, um ihn nach Helena zu fragen.

 

Faust
Vom schönsten Mann hast du gesprochen,
Nun sprich auch von der schönsten Frau!

Chiron
Was! . . . Frauenschönheit will nichts heißen,
Ist gar zu oft ein starres Bild;
Nur solch ein Wesen kann ich preisen,
Das froh und lebenslustig quillt.
Die Schöne bleibt sich selber selig;
Die Anmut macht unwiderstehlich,
Wie Helena, da ich sie trug.

Faust
Du trugst sie? –

Chiron
Ja, auf diesem Rücken.

Faust
Bin ich nicht schon verwirrt genug?
Und solch ein Sitz muß mich beglücken!

Chiron
Sie faßte so mich in das Haar,
Wie du es tust. –

Faust
O ganz und gar
Verlier‘ ich mich! Erzähle, wie?
Sie ist mein einziges Begehren!
Woher, wohin, ach, trugst du sie?

Chiron
Die Frage läßt sich leicht gewähren.
Die Brüder hatten, jener Zeit
Das Schwesterchen aus Räuberfaust befreit.
Doch diese, nicht gewohnt, besiegt zu sein
Ermannten sich und stürmten hintendrein.
Da hielten der Geschwister eiligen Lauf
Die Sümpfe bei Eleusis auf;
Die Brüder wateten, ich patschte, schwamm hinüber;
Da sprang sie ab und streichelte
Die feuchte Mähne, schmeichelte
Und dankte lieblich-klug und selbstbewußt.
Wie war sie reizend! jung, des Alten Lust!

Faust
Erst zehen Jahr! . . . –

Chiron
Ich seh‘, die Philologen,
Sie haben dich so wie sich selbst betrogen.
Ganz eigen ist’s mit mythologischer Frau,
Der Dichter bringt sie, wie er’s braucht, zur Schau:
Nie wird sie mündig, wird nicht alt,
Stets appetitlicher Gestalt,
Wird jung entführt, im Alter noch umfreit;
Gnug, den Poeten bindet keine Zeit.

Faust
So sei auch sie durch keine Zeit gebunden!
Hat doch Achill auf Pherä sie gefunden,
Selbst außer aller Zeit. Welch seltnes Glück:
Errungene Liebe gegen das Geschick!
Und sollt‘ ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,
Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt?
Das ewige Wesen, Göttern ebenbürtig,
So groß als zart, so hehr als liebenswürdig?
Du sahst sie einst; heut hab‘ ich sie gesehn,
So schön wie reizend, wie ersehnt so schön.
Nun ist mein Sinn, mein Wesen streng umfangen,
Ich lebe nicht, kann ich sie nicht erlangen.

***

„Faust und Helena“: das Paar ist weniger bekannt als etwa „Faust und Gretchen“ oder „Faust und Mephisto“. Die beiden letztgenannten haben beide einen Ruch, das eine klingt nach Mord und Heiratsschwindel, das andere nach satanischen Verabredungen und übermenschlich kaltem Gebaren. Nur Helena, so scheint es, kann Goethe aus den Verstrickungen erlösen, die ihn seit seinem „Urfaust“ 1775 umgeben; aber wiederum nicht jene Helena aus dem deutschen Volksbuch, die er als Junge in einem Puppenspiel erleben konnte. Hier kam ja zu allem Ruchlosen noch blendender Liebestrug dazu, Helena war ein böses Phantom, wenn auch sehr schön. Keine Frau ist in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit dermaßen hingerissen geschildert worden – und es war dieser Anblick, den Goethe schließlich in die Waagschale werfen konnte. Doch durfte diese rettende Gestalt nicht nur aus der Hexenküche stammen, sie musste in eigener Anstrengung gesucht und vor allem: gefunden werden.

Die Schlüsselszene aus Faust II. erreichte die literarische Welt ab 1833 – Goethe hatte das Erscheinen dieses Werkes bekanntlich zu Lebzeiten verweigert. Erst rund vierzig Jahre später waren die Verse auf der Bühne zu hören, und auch danach blieben sie theatralisch eher verborgen und Teil einer Lesekultur. Dabei deklamierten sie mit atemloser Drastik einen Wunschtraum der deutschen Bildungseliten, genauer des philhellenischen Deutschland seit Winckelmann; eben jenes Johann Jakob Winckelmann, der als Heros einer national verzückten Ästhetik Deutschland und Hellas einander verlobt hatte, ganz altmodisch mit dem unausgesprochenen Verbot der Besitznahme. Bevor ein maßgeblicher deutscher Dichter den Fuß auf griechischen Boden setzen wollte, sollten fast 150 Jahre vergehen, denn man hielt sich keusch an das Gebot, bis hin zu Gerhart Hauptmann. Reisende Archäologen, Maler und Touristen gehörten natürlich so wenig dazu wie etwa Otto I., der als König aus Bayern einzog, oder der Schweizer Jakob Burckhardt, dem man die strengste Kulturgeschichte des alten Griechenland verdankte. Doch Dichter und Denker von Hölderlin bis Nietzsche errichteten Paläste auf diesem Boden, die keine Realität duldeten.

Zahllose Darstellungen dieses Sachverhalts gibt es aus der historischen Fachwelt, und je weiter die Forschung, desto höher aufgelöst das Bild. Aber vielleicht muss es kein Bild sein, vielleicht leistet die Analogie, eine poetische Formel ohne ausufernde Metahistorie, den besseren Dienst? Der Pfad, auf dem die Idealisten zu jener fieberhaft begehrten Helena vordringen wollten, war der Traum vom klassischen Hellas als eigener Heimat, den Goethe dann mit so viel Leben wie möglich erfüllen wollte, nämlich mit einer Verkörperung des schönen Idols, einer Hochzeit und sogar einer Geburt.

Zwei mythische Riesen standen dem Dichter dabei zur Seite, Prometheus und Pygmalion, beide begnadet mit gottgleich menschenschaffendem Schöpfertum. In Faust. Eine Tragödie, wie Goethe sein Stück schließlich nannte, verzwergen sich beide zu einem Famulus namens Wagner, der im Labor – vulgo Hexenküche – einen Homunkulus erzeugt, der dann wiederum in Faust II. eine Helena aus dem ägäischen Meer heraus erzeugt. Aber als was? Als Trugbild oder als leibhafte Frau, die ihrerseits Mutter werden konnte? Schließlich verdankte sie sich in dem Stück ja ausdrücklich einem Gang „zu den Müttern“. Oder kam sie als erlöste Kriegsbeute nach zehn Jahren trojanischem Krieg in die Gefilde der Seligen, um dort mit Achill einen Sohn namens Euphorion zu gebären? Das besagt jedenfalls einer der vielen Sagenstränge um diese Helena, an denen sich Goethe entfalten musste.

Wie mächtig das Paar Faust und Helena in der Folgezeit wirkte, braucht man nicht zu betonen. Und doch blieb die Ideengeschichte unterbelichtet. Redlich darstellbar ist sie ja nur mit Blick auf die politische Geschichte; denn selten war eine poetische Erfindung so politisch motiviert wie diese Familie Faust, und selten ein politischer Akt so bildungsschwer vorbelastet wie der deutsche Einmarsch in Griechenland im April 1941, diese gespenstische Hochzeit. 200 Jahre erst glühender und auch unendlich befruchtender, dann aber allmählich erstickender Nähe zwischen den Ländern endeten auf diese brutale Weise; aber eigentlich erst seit der letzten Jahrtausendwende, je näher der Ausschluss des Landes aus der EU rückte, wurde diese sonderbare Kulturtragödie wirklich bewusst. Es ging ja anfangs niemals um zwei Länder, sondern zunächst immer um ein Land namens Deutschland (oder Preußen oder Bayern) und eine historische Fiktion namens Hellas; aber je mehr Griechenland aus Hellas wurde, desto grausamer die Nähe. Schon bald nach der Einsetzung des bayerischen Königs 1832 regte sich Widerstand im griechischen Volk, man zwang ihn schließlich zum Rücktritt, und die Berichte aus dem Land deutscher Sehnsucht färbten sich zunehmend düster. Der poetische Kalender dazu wirkt unheimlich: Goethes Hochzeitsdichtung, die „Klassisch-Romantische Phantasmagorie“ erschien noch pünktlich zum griechischen Freiheitskampf, aber zur Thronbesteigung gab es dann auch schon den „verwitweten“ Faust in Teil zwei, Faust ohne Helena, nur noch mit einem Mephisto. Und doch blieb und strahlte die Idee dieses Paares durch die folgenden Jahrhunderte wie eine Ikone; Goethe hatte die Träume seiner eigenen Generation offenbar szenisch gebändigt und entfesselt zugleich.

Eine der frühesten und eindringlichsten Darstellungen dieser ganzen Konstellation stammt von einer irischen Germanistin namens Eliza Marian Butler (1885 -1959). Ihr Buch mit dem psychologisch gemeinten Titel The Tyranny of Greece over Germany, Die griechische Tyrannei über Deutschland, erschien 1935, es war eine überaus kritische Geschichte deutscher Graekophilie von Johann Jakob Winckelmann bis zu Stefan George. Sie wurde geschrieben, als aller Welt sichtbar wurde, was der angeblich philhellenische Tyrann an der Spitze des deutschen Reiches plante. Zuerst mit der Übernahme der antiken Olympiade, dann auch mit pseudohellenistischer Propaganda auf allen Gebieten, einschließlich der Kriegskunst, die schließlich auf das Land der Träume selber angewandt wurde. Viel zu viele humanistisch gebildete Deutsche beteiligten sich damals, und auf die meisten traf der Begriff der „Zuarbeiter“ zu, den Ian Kershaw für die maßlose Interaktion zwischen Führer und Geführten im sogenannten 3. Reich geprägt hat. Den langen Familienroman dieser Zuarbeit noch vor ihren mörderischen Exzessen erkannt und dargestellt zu haben, war das Verdienst von Eliza, gen. „Elsie“ Butler, auch wenn sie weder Gräzistin noch Archäologin war, sondern Germanistin, die sich mit Heinrich Heine, Fürst Pückler-Muskau, Rilke und immer wieder mit Goethe befasste: vor allem mit Goethes Faust.

Bis heute ist aber unklar, wie sie zu ihrem Griechenbuch überhaupt kam. In den englischen Archiven gibt es dazu nahezu keine Unterlagen, weshalb die Forschung nach Butlers Tod weitgehend erlosch. Übrig blieben nur das mehr oder minder einhellige Lob für ihr Projekt und die zahlreichen Anregungen, die es seinerseits gab und bis heute gibt. Immerhin wurde das Buch 1958 als Paperback erneut ediert, und Butler schrieb ein Nachkriegsvorwort dazu. Zwar seien die deutschen Klassiker, meinte sie nun, mit all ihrem Humanismus niemals imstande gewesen, Katastrophen wie den Zweiten Weltkrieg zu entfesseln oder gar nur zu unterstützen; aber eine Neigung zu exzessiv träumerischem Denken, ohne Rücksicht auf die mitlebende Realität, sei ihnen doch allen gemeinsam.

The Tyranny of Greece over German wurde in Deutschland trotz einer gekürzten Übersetzung von 1949 niemals bekannt; vielleicht war das ein Fehler. Denn der deutschsprachige Griechenkult endete mit der Ausrufung zweier deutscher Staaten keineswegs und entwickelte sich nach der Wiedervereinigung erst recht. Angefangen von neuen Grabungserfolgen im alten Troja/Hissarlik, die eine viel größere Stadt gewesen sein soll als je vermutet, über die poetischen Großforschungen des Österreichers Raoul Schrott, der die berühmte Homerfrage wieder aufwarf und geistreich beantwortete, bis hin zum legendären Kulturwissenschaftler und Heideggerianer Friedrich Kittler, der um die zweite Jahrtausendwende ein überspanntes Werk von sechs Bänden zur Antike ankündigte, im Zeichen von Musik, Mathematik und Eros. Band eins war Hellas I: Aphrodite gewidmet, also eben jener Göttin, deren Eitelkeit das sagenhafte Paar Helena und Paris überhaupt zustande gebracht hat. Kittler starb 2011. Die dramatische Staats- und Finanzkrise des zeitgenössischen Landes hat er nicht mehr erlebt. Größte Hellasverehrung stand nun wie schon 1832 neben Hass auf die Realität. Deutschland, das für seine Kriegsgräuel 1941 bis 1944 nie wirklich einstand, wurde zum härtesten Gläubiger, Griechenland selber in Grund und Boden kritisiert. Ob zu Recht oder zu Unrecht ist hier nicht die Frage. Im Raum steht vielmehr die längst verbreitete Sorge der Betrachter, dass gerade die Feinheiten deutschen Kulturdenkens keinerlei Wirkung auf die politische Klasse haben, ja diese womöglich nur mit prätentiöser Selbstsicherheit versorgen. So betrachtet das vorliegende Buch das Mahnmal der Elsie Butler mit dem Wissen der Nachgeborenen. Es folgt dabei ihrer Deutung von Faust und Helena als einer düsteren Allegorie auf das Verhältnis von Deutschen und Griechen. „Die Geschichte des Zauberers Faustus aus dem Norden, der Helenas Schatten aus der Unterwelt beschwört, könnte man als Symbol der Beziehungen zwischen dem antiken Griechenland und dem modernen Europa verstehen … Unsere Architektur, unsere Poesie, unsere Art zu denken, ja auch unsere Sprache legen beredtes Zeugnis ab von der Tatsache, dass der Westen, verzaubert auf die gespenstische Erscheinung von Hellas starrend, eben das empfand, was Marlowes Faustus rufen ließ: ,Nie will ich eine andere lieben‘, was man in Prosa übersetzen und falsch zitieren könnte: , nie will ich einer anderen Norm gehorchen‘.“

So Butler 1938, zwei Jahre, nachdem sie mit ihrem Buch viel Ärger erregt und deutsche Kritik auf sich gezogen hatte. Die Kritik war verständlich, denn hinter ihrem Projekt erschien ja eine deutsche Ideengeschichte, die nachgerade sklavisch, wenn nicht vampirisch von hellenischer Kunst, Literatur, Philosophie und Technik leben wollte. Wenig überraschend umfasst diese Geschichte im Kern etwa Goethes Leben und Nachleben bis zu seinem 200. Geburtstag 1949. Kultur hat eben, anders als Oswald Spengler meinte, keine einförmig biologische Uhr. Und Goethe hieß der Abgott von Oswald Spengler, dem deutschen Kulturphilosophen der Weimarer Republik. Keinen Autor hat Spengler in seinem epochalen Werk über den Untergang des Abendlandes so oft und so zentral zitiert. Aber eine Helena kommt hier nicht vor – es sei denn, man betrachtet Spenglers Abendland als einen anderen Ausdruck für die griechische Antike unter dem Namen Hellas. Nicht Trojas, wohl aber Hellas‘/Helenas Untergang begleitet den Aufstieg von Faust, den Spengler unter dem Begriff des „Faustischen“ zum Markenzeichen einer germanischen Moderne erhob oder was er dafür hielt. Welche Ideengeschichte Elsie Butler vorfand, als sie 1924 in die Londoner Germanistik eintrat, kann man also mit Fug einem „Männlichen Blick“ zuschreiben. Dass sie selber um 1930 den Mut zu einem anderen, eher „Weiblichen Blick“ fand, lag nicht nur an der politischen Entwicklung, sondern schon an der Frauenbewegung, zu der sie gehörte, und die etwa seit 1880 in das englische Spiel um Hellas ganz neue Schwerpunkte einführen sollte.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag übernimmt das Vorwort aus Claudia Schmölders: Faust & Helena. Eine deutsch-griechische Faszinationsgeschichte. © Berenberg Verlag, Berlin 2018. Siehe dazu unseren gesonderten Hinweis auf das Buch! Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung.