Eberzähne und schwarzweiße Menschen

Wiebke Ohlendorf nimmt drei Parzival-Handschriften unter die Lupe und sucht nach dem „Fremden“ in Bild und Text

Von Désirée MangardRSS-Newsfeed neuer Artikel von Désirée Mangard

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Fremde fasziniert und weckt Neugier, das Fremde gibt Rätsel auf und manchmal macht das Fremde auch Angst. Wer sich mit dem Parzivalstoff ein wenig auskennt, für den wird es zwar kein großes Rätsel sein, was mit dem Fremden im Parzival gemeint sein könnte, neugierig auf die Ausarbeitung darf man aber ruhig sein.

Die Monographie basiert auf der an der TU Braunschweig eingereichten Dissertation von Wiebke Ohlendorf und ist in der Reihe Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte bei De Gruyter erschienen. Gleich in der Einleitung sehen sich Kenner des Stoffes bestätigt, denn diese startet mit einigen Versen zur Geburt und Beschreibung von Feirefîz. Dessen Charakteristikum als Sohn des weißen Ritters Gahmuret und der dunkelhäutigen Mohrenkönigin Belacâne ist sein schwarz-weiß geflecktes Erscheinungsbild, das von Wolfram von Eschenbach im Parzival überaus ausführlich und anschaulich beschrieben wird. Ähnliches gilt für die eberzähnige Gralsbotin Cundrîe mit ihrem menschlich-tierischen Äußeren, die als zweite fremdartig erscheinende Figur im Laufe der Analyse näher betrachtet wird.

Bevor sich die Autorin konkret mit sprachlichen Aspekten oder den Bildern der drei Handschriften auseinandersetzt, schafft sie auf gut 40 Seiten die Grundlagen dafür und klärt wesentliche Herangehensweisen. Sie stellt dabei ganz richtig fest, dass beide von ihr untersuchten Informationsträger – Bild und Text – die Rezipienten beeinflussen und in bebilderten Handschriften eine gemeinsame Wirkung entfalten, die auch in ihrer Gesamtheit untersucht werden sollte. Die Möglichkeiten von Bezügen, Verweisen und rezeptionsleitenden Strategien illustriert sie dann an späterer Stelle gut nachvollziehbar mithilfe einer veranschaulichenden Skizze. Jede Handschrift verfügt über ihr ganz spezielles Interpretationsangebot, das umso spannendere Rückschlüsse auf die Interpretation im Laufe der Zeit gibt, je weiter die Entstehung der Handschrift von der Entstehungszeit des Textes entfernt ist. Ganz richtig konstatiert die Autorin weiter, dass Texte weniger Veränderungen unterworfen sind als die bildlichen Darstellungen, erklärt diesen Umstand allerdings etwas künstlich mit dem Vorhandensein einer Autor-Autorität, über die der Illustrator nicht verfüge. Wer sich an dieser Stelle eher einen Verweis auf die Verhältnisse und Abläufe mittelalterlicher Handschriftenproduktion zur Erklärung von Übereinstimmungsschwierigkeiten zwischen Bild und Text erwartet hätte, wird erst nach kurzem Weiterlesen fündig.

Schließlich stellt Ohlendorf das dreistufige Interpretationsschema zur Deutung von Kunstwerken von Erwin Panofsky vor, der sich hauptsächlich auf die Renaissance fokussiert. Dieses wendet sie dann mit einem Umweg über Roland Barthes auch auf das Mittelalter an und weist darauf hin, dass gerade der zweite und dritte Schritt (Ikonographische Analyse und Interpretation) besonders geeignet für die Anwendung auf Handschriften seien. Dennoch ist diese Methode lediglich in Anpassung und vor allem in Kombination mit anderen Vorgehensweisen anwendbar, wie die Autorin selbst einräumt.

Nach dieser Einführung des Analysemodells der Text-Bild-Verschränkung folgt die Vorstellung des Textkorpus, wobei die Autorin kurz ihre Auswahlkriterien darlegt. Sie nennt die wichtigsten Eckdaten der drei zur Analyse herangezogenen Handschriften und ordnet sie schließlich in den jeweiligen Entstehungskontext ein. Daran schließt sich noch eine knappe, eher allgemeine Beschäftigung mit dem Begriff vremde an, der dabei in erster Linie auf Basis von Wörterbüchern analysiert wird. Diese Übersicht der Begriffsentwicklung und -verwendung auf Grundlage von Nachschlagewerken ist natürlich ein logischer Ausgangspunkt und bietet einen Einblick in die Verständniswelt der Rezipienten, spiegelt aber natürlich nicht die konkreten Beispiele in den Parzival-Handschriften wider. Hier stellt sich den (voreiligen) Lesern/Leserinnen die Frage, wieso nicht auch die tatsächliche Verwendung von vremde in den behandelten Handschriften untersucht wird oder dies zumindest am Beispiel einer üblichen Edition erfolgt.
Dass ein Blick auf die konkrete Verwendung in den einzelnen Handschriften tatsächlich lohnenswert ist und die Autorin darauf auch nicht verzichtet, zeigt sich jedoch schon im darauffolgenden Kapitel, das bereits zur Analyse gehört. Diese weist eine deutliche Zweiteilung auf: Im ersten Schritt erfolgt eine Beschäftigung mit dem sprachlichen Aspekt des mittelhochdeutschen Ausdrucks vremde bezogen auf den Parzivalstoff. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der historischen Semantik. Hier analysiert die Autorin nun Einzelbefunde, die sie wiederum drei Kategorien zuordnet, wobei sich unterschiedliche Ausformungen des Begriffs vremde auf Personen, Orte oder Sonstiges beziehen. Am Ende des Kapitels fasst Ohlendorf die vielen Einzelbefunde in allgemeineren sprachbezogenen Tendenzen zusammen. Dabei weist sie auf einen interessanten Befund hin, dass nämlich Personen außerhalb des eigenen Wertesystems (wobei sie vom Bezugspunkt Artushof ausgeht) so weit von der eigenen Lebenswelt entfernt sind beziehungsweise die Möglichkeiten des Realen übersteigen, dass es sich quasi erübrigt, sie als fremd zu bezeichnen – die Abgrenzung erfolgt also auf visuell-beschreibende Art, nicht auf explizit-benennende.

Im wesentlich umfangreicheren, beinahe 150 Seiten umfassenden, zweiten Teil liegt der Fokus dann ganz auf den bildlichen Umsetzungen einzelner Szenen anhand von drei Handschriften, die von der Autorin nacheinander behandelt werden. Im Gegensatz zur sprachlichen Analyse, bei der Ohlendorf sich vom Allgemeinen zum Konkreten vorgearbeitet hat, kann hier nun keine Verallgemeinerung vorausgeschickt werden. Bedingt durch das Medium geht die Autorin hier quasi den umgekehrten Weg und analysiert zuerst die zu Episoden zusammengefassten Illustrationen, die einen Bezug zur vremde aufweisen. Sie gibt an, anschließend Analogien herzauszuarbeiten, Darstellungsmuster zu definieren und auf allgemeinere Visualisierungscodes zu schließen. Neben der genaueren Betrachtung von Personengruppen, hierarchischen Konstellationen und geschlechterspezifischen Darstellungsunterschieden legt Ohlendorf dabei besonders einen Schwerpunkt auf die bildliche Umsetzung von Szenen mit Gâwân, Feirefîz und (als Gegenbeispiel) Cundrîe, die sprachlich interessanterweise nicht als fremd charakterisiert wird. Was die Autorin gleich zu Beginn zurecht als etwas befremdlich herausstreicht, ist die Tatsache, dass Wolframs überaus genaue Beschreibungen von Feirefîz und Cundrîe in der Buchmalerei quasi gar nicht oder nur sehr eigentümlich bildlich umgesetzt wurden.

Die Münchner Handschrift Cgm 19 verfügt nur über eine – auf den ersten Blick – sehr geringe Bebilderung mit vier dreiregistrigen Bildseiten am Ende der Handschrift, worauf die Autorin auch selbst explizit hinweist. In der Tat spiegelt sich das aber nicht unbedingt in einer geringeren Quantität der bildlichen Inhalte, diese zeigen sich stattdessen sehr verdichtet und nicht über den ganzen Text verteilt. Man könnte nun vielleicht annehmen, dass speziell diese komprimierte Auswahl und Präsentationsform sich als besonders fruchtbarer Analyseaspekt anbieten könnte, doch Ohlendorf erläutert, dass gerade dieses Spartanische nicht unbedingt von Interesse war. Trotz der Erklärung der Auswahl im einleitenden Kapitel drängt sich hierbei die Frage auf, ob man diese Handschrift nicht hätte weglassen oder durch eine zweite Lauber-Handschrift hätte ersetzen sollen?

Bei der Münchner Handschrift sind im Gegensatz zur Untersuchung der anderen beiden Handschriften auch keine Bilder in den Fließtext der Analyse eingefügt, sondern finden sich nur im Anhang. Dies hat zwar den Vorteil, dass sie großformatig und in Farbe abgedruckt sind und damit gewissermaßen die Einbindung der Bilder in die Handschrift gespiegelt wird, es macht aber eben auch ständiges Blättern notwendig. Dementsprechend hätte als Service der Leserschaft gegenüber ein Hinweis auf das Vorhandensein der Abbildungen im Anhang nicht geschadet.
Bei der Berner Handschrift Cod. AA 91 zeigt sich eine vollkommen andere Art der Bebilderung, die sich über den gesamten Text verteilt, sich am Textspiegel der Seiten orientiert und in unmittelbarer Nähe und Beziehung zu den entsprechenden Textpassagen steht. Dementsprechend kann in der Analyse viel intensiver auf die eigentlich im Vordergrund stehenden intermedialen Bezüge eingegangen werden.

Bei der Heidelberger Handschrift cpg 339 aus der Werkstatt Diebold Laubers ist die Textkenntnis zum Verständnis der Illustrationen viel notwendiger. Ohlendorf konstatiert, dass die Szenen viel interpretatorische Freiheit gestatten, aber entsprechend weniger Konkretes bieten, das sich für die Analyse der vremde eignet.

Die allgemeine Auswertung zur Wirkung der Bilder zeigt sich eher als erneute Zusammenfassung zu den einzelnen Handschriften. Sie beschäftigt sich leider nur sehr eingeschränkt mit dem konkreten Vergleich der Handschriften anhand einzelner Motive oder anderer Aspekte. Festzustellen ist also eher eine Konzentration auf die Einzelanalysen mit ab und zu eingestreuten Querverweisen; die Zusammenführung der drei Analysen und die Darlegung von abstrahierten Entwicklungslinien fällt jedoch sehr knapp aus. Auch das in der Einleitung im Rahmen einer der beiden Leitfragen angesprochene Zusammenspiel von Bild und Text wird im vierten Kapitel Text und Bild als Symbiose – Ein Ausblick leider nur äußerst kurz auf zehn Seiten behandelt und bleibt, wie schon die Überschrift sagt, ein Ausblick.

Im Text eingestreut finden sich immer wieder Schwarzweiß-Abbildungen, die jedoch sehr klein geraten sind. Zwar soll an dieser Stelle kein Ersatz durch ganzseitige Farbabbildungen gefordert werden, aber zumindest ein wenig größer hätten die Bilder durchaus sein dürfen. Ohne Eingriff in die vorhandene Formatierung wäre schon eine kleine Verbesserung – nämlich eine leichte Vergrößerung der tatsächlich wichtigen Inhalte – möglich gewesen, wenn man die überschüssigen schwarzen Ränder der Digitalisate etwas beschnitten hätte, ohne dabei aber eine Seitenbeschneidung der abgebildeten Buchseiten vorzunehmen. Ein kleiner Trost ist immerhin, dass sich die Illustrationen nicht allzu detailverliebt zeigen, weswegen die Darstellungen trotz äußerst geringer Abbildungsgröße noch passabel zu erkennen sind – die Lesebrille sollte man hier aber auf jeden Fall zur Hand haben.

Zur leichteren Orientierung wurde am Ende des Bandes ein Register eingefügt, das sich wiederum zweigeteilt zeigt: Einerseits gibt es ein kurzes und übersichtliches Personen-, Autoren- und Werkregister, andererseits findet sich ein etwas umfangreicheres Figuren-, Orte- und Schlagworteregister. Positiv hervorzuheben ist hierbei, dass die Kategorisierung der häufiger vorkommenden Figuren nochmals untergliedert ist. So finden sich etwa beim Eintrag „Parzival“ die Unterpunkte „als Kind“, „als Narr“, „als Ritter“ und so weiter, wobei manche Zusatzkategorien, die bei einzelnen Figuren ergiebig sind, auch auf andere angewandt werden, bei denen sie nicht notwendig wären und nicht ganz so sinnvoll erscheinen.

Drei Handschriften zu untersuchen, die sich in jeglicher Hinsicht sehr unterschiedlich zeigen, ist von Vornherein ein sehr ambitioniertes Unterfangen. Es spielen so viele unterschiedliche Voraussetzungen mit, die auch bei der Analyse alle bedacht werden müssen, dass das große Ganze und dabei vor allem die Hauptthematik manchmal aus dem Blick zu geraten droht. Es stellt sich daher die Frage, ob man sich nicht auf ähnlichere Bebilderungsformen hätte konzentrieren sollen, da die Münchner Handschrift doch erkennbar aus dem Rahmen fällt. Sie verfügt selbstverständlich über einen besonderen Reiz, fraglich ist nur, ob ihre Untersuchung für diesen Kontext besonders geeignet ist. Das im Titel erwähnte Untersuchungsgebiet des Text-Bild-Verhältnisses ist zwar natürlich auch hier vorhanden, aber eher in Form von zwei eigenständigen Blöcken; das engere Zusammenspiel kann hier zwangsläufig nicht so intensiv stattfinden. Hätte man stattdessen den Gegensatz der unterschiedlichen Einbettung der Illustrationen in die Handschriften zum Hauptthema gemacht, wäre die Wahl eine glückliche gewesen, so aber erschwert die gegensätzliche Bildeinbindung der Münchner Handschrift die Analyse und vor allem ein auf das Bild-Text-Verhältnis bezogenes Fazit zu allen behandelten Handschriften eher.

Mit seinem fachübergreifenden Untersuchungsgegenstand fügt sich dieser Band gut in den aktuellen Forschungstrend Interdisziplinarität in den Geisteswissenschaften ein. Wer sich mit Bild-Text-Relationen – besonders bezogen auf mittelalterliche Handschriften – beschäftigt wird hier sicher gerade bei den Einzelanalysen fündig werden. Diese sind ausführlich und gelungen, die allgemeine Zusammenschau zur Bild-Text-Verbindung fällt aber leider eher kurz aus. Somit muss man sich auch selbst gut in die Thematik eindenken und die Ergebnisse der unterschiedlichen Kapitel zusammenführen, um zu einem etwas ausdifferenzierteren, abstrahierenden Fazit zu gelangen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Wiebke Ohlendorf: Das Fremde im Parzival. Zum Text-Bild-Verhältnis in den Handschriften Cgm 19, Cod. AA 91 und Cpg 339.
De Gruyter, Berlin 2017.
301 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110549515

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