Titties & Beer

Warum „Faust“ schon immer Pop war und was das mit dem Kanon zu tun hat

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Faust war schon immer Pop. Wenn man Populärkultur so definiert, dass ihre Hervorbringungen international erfolgreich sein müssen, in vielen unterschiedlichen Medien adaptiert und ‚gecovert‘ werden können sowie die Kluft zwischen ‚Unterhaltung‘ und ‚Ernst‘ spielend zu überwinden vermögen – dann stand Faust zweifelsohne seit jeher ganz oben auf der Rangliste. Bereits die Historia von D. Johann Fausten von 1587 war mit 22 Auflagen und vier Übersetzungen bis 1599 ein Bestseller.

Wie fragwürdig die Unterteilung der Kultur in eine gehobene oder triviale, in high oder low brow ist, kann man an der alle diese Differenzen überwindenden Tradierung des Faust-Stoffes durch die Jahrhunderte hindurch gut nachvollziehen. Nicht zuletzt ist die Betrachtung der wechselvollen Vermittlungsformen dieses Mythos von beträchtlichem historischem Interesse. Globale Gesellschaften sind seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne die Berücksichtigung popkultureller Kommunikationsprozesse, wie sie sich anhand der Faust-Tradierung beobachten lassen, gar nicht mehr angemessen zu beschreiben – ohne Pop keine Zeitgeschichte.

Wenn „Pop“ als Kurzform also nicht nur für einen musikalischen Stil steht, der etwa ab den 1970er Jahren aufkam, sondern auch als Begriff für die Popular- oder Massenkultur und den Komplex des Vergnügens allgemein definiert wird, dann besteht kein Zweifel, dass Faust in diesem Sinne zu einer Art Allzweckkatalysator avancierte: Das hängt in erster Linie mit der Variabilität des Stoffes zusammen. Dieser Stoff der Stoffe wurde in beispielloser Weise von der Literatur, in der bildenden Kunst, in der Musik, und seit den 1980er Jahren auch in postmodernen Comics sowie im Internet bzw. bei YouTube (dort bekommt man derzeit etwa 1.120.000 Suchergebnisse bei der Eingabe des Worts „Faust“) immer wieder neu aufgegriffen. 

Faust als Urmythos und Spielmaterial des Rock’n’Roll

Prominente Beispiele für diese rhizomatische‚ sich immer weiter auffächernde und ausbreitende Faust-Rezeption finden sich insbesondere in der Geschichte der populären Musik nach dem Zweiten Weltkrieg. Die gängigen Muster der Rock’n’Roll-Rezeption des Faust-Mythos gehen auf eine einfache Formel zurück: Die Erzählung von Gut und Böse, in der ‚das Böse‘ als treibende Kraft und damit als Inbegriff ambivalenter Coolness auftritt, erschien nicht nur bereits der Autorengeneration des Sturm und Drang als Symbol einer revolutionären Lebenshaltung – sie ist gewissermaßen die Ur-Idee des Rock’n’Roll.

Der Plot eines Deals mit dem Teufel kann geradezu als Gründungsmythos des Blues gelten, den Rockmusiker seit den 1950er Jahren umzuwandeln und schließlich in den Sixties immer aggressiver zu elektrifizieren begannen, um daraus die Genres des Rock und des Heavy Metal zu formen: Seine Seele zu verkaufen, um den Blues zu erlernen bzw. zum Gitarrenvirtuosen des Genres zu werden, verweist auf Crossroads, einen 1936 komponierten Song des Blues-Musikers Robert Johnson. Er wurde u.a. von Eric Clapton, dem angeblichen Gitarrengott, seit der Live-Version auf dem legendären Doppelalbum Wheels of Fire (1968) der Super-Group The Cream in den 1970er Jahren vielfach aufgeführt und auch bei der spektakulären Alters-Reunion der Gruppe im Jahr 2005 in der Royal Albert Hall in einer überaus gelungenen Version erneut intoniert.

https://www.youtube.com/watch?v=pX6J5-13c-0
Cream – Crossroads (2005) Live At Royal Albert Hall

Die erste Strophe des Lieds kann als Bitte um Vergebung dafür gelesen werden, dass Robert Johnson dem Mythos nach an einer Kreuzung am Mississippi einen Pakt mit dem Teufel schloss, um als Musiker berühmt zu werden:

I went down to the crossroads
Fell down on my knees
Down to the crossroads
Fell down on my knees
Asked the Lord above for mercy
„Take me, if you please“ 

Crossroads lieferte die Grundidee zum gleichnamigen US-Roadmovie des Regisseurs Walter Hill von 1986, mit dem virtuosen Rockgitarristen Steve Vai in der Rolle des Teufels. Der Nachwuchs-Blues-Musiker Eugene Martone (Ralph Macchio) schafft es in seinem legendären Gitarrenduell mit Vai, zu erreichen, dass der leichtsinnige Deal mit dem Teufel, den sein Begleiter Willie Brown als Jugendlicher an einer Kreuzung im Mississippi-Delta abschloss, annuliert wird. Der historische Brown wiederum war der Gitarrenlehrer von Robert Johnson und wird in der letzten Strophe von Crossroads ebenfalls erwähnt.

Kurzum, der Bund mit dem Teufel, dieses zentrale Motiv des Faust-Plots, wurde nach 1968 zu einer der meistgenutzen Provokationen in der Rock- und Heavy-Metal-Musik, von Sympathy for the Devil von den Rolling Stones (1968, inspiriert von Michail Bulgakows Faust-Roman Meister und Margarita, der 1967 erstmals posthum erschienen war) über Queen mit Bohemian Rhapsody (1975), Highway to Hell und Hells Bells von AC/DC (1979, 1981) und The Number of the Beast von Iron Maiden (1982) bis hin zu Megadeth mit The Conjuring (1986) und unzähligen anderen Black- bzw. Death-Metal-Songs seit Entstehung und Entfaltung dieser extremen rockmusikalischen Subgenres.

Das zentrale Emotionalisierungs-Skript, um das alle diese Rock-Inszenierungen kreisen und die erregende Enthemmung in der bedingungslosen Bejahung des Verbotenen versprechen, lässt sich mit dem Zeilen aus Highway to Hell zusammenfassen:

Hey Satan, paid my dues
Playing in a rocking band
Hey mama, look at me
I‘m on my way to the promised land, whoo!

I‘m on the highway to hell
Highway to hell

Einer ganze Generation von Jugendlichen wurde in den 1980er Jahren in christlichen Institutionen mit erhobenem Zeigefinger bedeutet, wie gefährlich diese satanische Rockmusik doch sei. Selbst bloß ‚verdächtige‘ Songs wie Led Zeppelin’s Stairway to Heaven („‘Cause you know sometimes words have two meanings“) wurden im gymnasialen Religionsunterricht mit wichtiger Miene durchgenommen. Der 1971 uraufgeführte Song von Led Zeppelins berüchtigtem ‚Runen-Album‘ IV war nicht nur aufgrund von Gerüchten um die Faszination des Bandleaders und Gitarristen Jimmy Page für den britischen Okkultisten Aleister Crowley ins Gerede gekommen, sondern auch aufgrund der Behauptung, mittels des sogenannten Backmasking-Aufnahmeverfahrens habe man satanische Botschaften in dem Songtext versteckt, die man hören könne, wenn man ihn rückwärts laufen lasse.

Vergleicht man derartig alarmistisches Geraune mit dem Faktum, das heutzutage hunderttausende Jugendliche begeistert offen antisemitische Rap-Musik kaufen und hören, während den Urhebern für ihre Hass-Botschaften auch noch renommierte Medien-Preise verliehen werden, möchte man in der Rückschau doch für mehr Gelassenheit gegenüber den Affektszenarien des klassischen Hardrock plädieren. Selbst Goethe hätte diese uralten Provokationen nur wissend abgenickt. Es sind immer die gleichen Einflüsterungen fiktiver Teufelsfiguren, die für das Versprechen höchster Verzückungen herhalten müssen, wie etwa auch in AC/DCs Hells Bells:

I‘ll give you black sensations up and down your spine
If you‘re into evil you‘re a friend of mine
See my white light flashing as I split the night
‚Cause if God’s on the left, then I‘m stickin‘ to the right

Dieser aufreizende Deal mit dem Bösen als Coolness-Faktor in Pop und Rock wurde aber zugleich auch schnell zum Motiv der Selbstironisierung. Der progressive Rock-Musiker Frank Zappa etwa führte ab den späten 1970er Jahren den Song Titties & Beer auf, nachzuhören auf verschiedenen Konzertaufnahmen wie Zappa in New York (1978) und anzusehen in dem Konzertfilm Baby Snakes (1979). Der Song porträtiert den Groupie-Betrieb und das Rock-Business als Äquivalent zur Hölle und gipfelte in Live-Aufführungen stets in einem improvisierten minutenlangen Gespräch zwischen Zappa und dem Teufel (gespielt von dem Schlagzeuger Terry Bozzio).

https://www.youtube.com/watch?v=WzzWEeiUf3Y
Frank Zappa – Titties and beer

Zappas sexistische Bühnen-Persona soll in dieser Performance einen faustischen Vertrag mit dem Teufel unterzeichnen, um mit seinem wiederzubelebenden Groupie Chrissy, das der Teufel aufgefressen hat, zum Sinn seines Lebens – Titties & Beer – zurückzufinden. Der Dämon fragt Zappa in der Filmversion allerdings zunächst skeptisch, was ihn seiner Meinung nach dazu qualifiziere, in die Hölle zu kommen. Worauf der Musiker antwortet, er sei doch schon längst dagewesen. Schließlich habe er acht Jahre lang bei dem Musikkonzern Warner unter Vertrag gestanden.

Die Botschaft der Performance ist spätestens dann klar, als Zappa gegen Ende des Songs die albernen Wörter „Titties & Beer“ so oft wiederholt, dass selbst der Teufel es im Kopf nicht mehr aushält und nur noch um Gnade winselt: Nichts ist für den Satan in dem Moment schlimmer als die Vorstellung, dass Frank Zappa seinen Vertrag unterzeichnen und ihm fortan in der Hölle weiter auf die Nerven gehen könnte. Kurz: Das gesamte Rock-Business mit seinem sexistischen Drogen- und Macho-Kosmos ist offenbar schlimmer als Dantes Inferno.

Faust im Netz – zum Beispiel bei YouTube

Wer im Netz nach dem Faust-Stoff fahndet, wird mit einer nicht mehr zu bewältigenden Masse an Informationen konfrontiert. Bei der Videoplattform YouTube stößt man u.a. auf Aufzeichnungen klassischer Faust-Theaterinszenierungen, darunter jenen von Gustaf Gründgens (1957) und Peter Stein (2000), aber auch auf Bridge Marklands 2006 im Berliner Saalbau Neukölln uraufgeführte Handpuppen-Pantomime. Erst kürzlich erschien eine begeisterte neue SZ-Theaterkritik zu Faust in the box. Goethes Faust 1 für die Generation Popmusik – einer Inszenierung, die mit der akustischen Zitation des Songs Sympathy for the Devil von den Rolling Stones einsetzt und zu satirischen Zwecken auch nicht vor der Einspielung von AC/DCs Highway to Hell Halt macht.

https://www.youtube.com/watch?v=HTKEy4ljKSM
Bridge Markland – faust in the box

Vor allem aber findet man extrem kurze Video-Zusammenfassungen von Goethes Faust-Texten, die von einer äußerst heterogenen und stetig wachsenden Gruppe von Urhebern ins Netz gestellt werden. Dazu zählen professionelle kabarettistische Darbietungen oder Comedy-Adaptionen wie die aus Jan Böhmermanns „Neo Magazin Royale“ (ZDF). Der Moderator spielt in diesem etwa 7-minüten Clip Goethe als herablassenden Weimarer Boss, der seinen Mitarbeiter Schiller in einem Programm-Manager-Meeting nach dessen Vorschlag, auf dem Theater ein reißerisches Sequel der „Räuber“ zu bringen, der Lächerlichkeit preisgibt. Stattdessen entwickelt Goethe spontan den Meta-Faust-Plot und langweilt seine Kollegen damit zu Tode.

Goethes alias Böhmermanns unfertig und mit großem Dichtergestus vorgetragene Ideen wirken dabei ermüdend selbstgerecht, widersprüchlich, sexistisch und schlicht gaga. In dem Sketch werden damit aber nicht nur Goethe und Schiller durch den Kakao gezogen. Schätzungsweise sind vielmehr auch ähnliche Kreativ-Sitzungen zur Planung neuer Folgen des „Neo Magazin Royale“ gemeint. Im TV-Business dürfte es, so legt der Clip mithin nahe, nicht viel anders aussehen als im Rockzirkus. Oder in Weimar: „Sie ‚thronen? Göttern gleich?‘, die ‚Großen unserer klassischen Zeit‘?: welch widerliche Vereinfachung und Verniedlichung von ,Künstlers Erdenwallen‘!“, urteilte schon Arno Schmidt. „Die Wahrheit klingt schrillend anders: es muß über alle Maaßen entsetzlich gewesen sein, in Weimar zu leben!!“

Die Idee, auf der solche Kabarettnummern bei YouTube beruhen, scheint insbesondere jüngere Laien zu faszinieren und zunehmend zur Produktion selbstgemachter Faust-Zusammenfassungen anzuregen. Das Phänomen resultiert einerseits aus dem wachsenden Schülerbedarf, mangelndes eigenes Lesevermögen und Textverständnis durch leicht verständliche, vor allem aber zeitsparende audiovisuelle Erläuterungen auszugleichen. Andererseits hat es mit einem narzisstischen Selbstdarstellungsdrang zu tun, der nach dem Auftauchen sozialer Medien wie Facebook, Twitter, Instagram und WhatsApp nur noch zugenommen zu haben scheint. 

So stößt man etwa auf eine von einer jungen Frau präsentierte Reihe ironischer Ratgebervideos ohne klar erkennbare thematische Ausrichtung und mit dem stets falsch geschriebenen Titel Die Klugscheisserin (Moderatorin: Lisa Ruhfus). Wie viele andere Online-AkteurInnen versucht auch Lisa Ruhfus, ihren ZuschauerInnen in nur knapp fünf Minuten und in einem übertrieben altklugen Duktus zu erklären, worum es in Faust I geht. Im Umkreis solcher Suchergebnisse tauchen allerdings auch noch weit dilettantischere Interpretationen auf. So etwa die eines Berliner Schülers, der sich ‚Kahlrazzia‘ nennt und Goethes Text in nur einer Minute zusammenzufassen versucht. Er gibt an, im Plot von Faust I käme es am Ende hauptsächlich deshalb zur Katastrophe, weil Gretchen so „crazy“ sei. Darunter liest man bei YouTube User-Kommentare wie: „Ich muss das Buch gerade für die Schule lesen und hatte nach zwei Seiten keine Lust mehr. Sogar die Zusammenfassung bei Wikipedia war mir zu langweilig. Aber dein Video war echt cool, du hast mir das Leben gerettet!“ Oder auch: „Wir haben das Buch gerade gelesen, den Film gesehen, zum lesen [sic!] das Hörbuch gehört und szenisches Lesen geübt. Wir hätten uns so viele Stunden sparen können, wenn wir einfach das Video geguckt hätten…“.

Auf der anderen Seite tauchen aber auch weit intelligenter gemachte Parodien auf. So etwa die Playmobil-Inszenierungen von Faust I und II, die der Dramaturg Michael Sommer für seinen – sinnigerweise in Kooperation mit dem Reclam Verlag präsentierten – YouTube-Kanal Sommers Weltliteratur to go produziert hat.

https://www.youtube.com/watch?v=OMXvK6uScnY
Faust to go (Goethe in 9 Minuten)

Wie Sommer selbst verrät, geht die Idee auf Harald Schmidts Playmobil-Nachstellungen geschichtlicher Ereignisse oder auch weltliterarischer Texte in der Harald Schmidt Show seit Ende der 1990er Jahre zurück. Sommer bietet seine witzigen Miniatur-Inszenierungen parallel auch noch auf Englisch an, und er fordert sein internationales Publikum dazu auf, über die Kommentarfunktion bei YouTube Wünsche zu weiteren Zusammenfassungen kanonischer Texte zu äußern.

Kulturpessimismus ist hier fehl am Platze: In diesem Fall amalgamieren sich literaturgeschichtliches Wissen und langjährige Theaterpraxis mit dem Humor eines professionellen Lesers, der zugleich versucht, ein größeres Publikum mit der angedeuteten Imitation jugendlicher Alltagssprache zu ‚pitchen‘, wie sie auch bei Kahlrazzia auftaucht. Der multiplikatorische Effekt solcher Faust-Adaptionen im Netz ist keinesfalls zu unterschätzen. Virtuelle Klassikerkanäle bei YouTube wie der von Michael Sommer könnten zum Beispiel für die German Studies-Lehre in Zukunft von beträchtlichem didaktischen Interesse sein, da es insbesondere im anglophonen Raum mehr denn je darauf ankommt, Studierende mit möglichst eingängigen und leicht verständlichen Materialien in der Fremdsprache für Hervorbringungen der deutschsprachigen Literaturgeschichte zu interessieren.

Kommende Untersuchungen der intermedialen Faust-Rezeption werden sich mit dem bisher noch kaum untersuchten Feld der Vermittlung des Faust-Stoffes via Social Media näher zu beschäftigen haben. Ließe sich doch daran ablesen, wie ein nachwachsendes, internationales Massenpublikum mit der Weltliteratur auf konstruktive Weise neu umzugehen lernen könnte. Hier bilden sich zudem ganz neue Darstellungsweisen heraus, die nicht zuletzt der Selbstpräsentation der Produzenten dienen und progressive Formen literarischer Kommunikation entstehen lassen, die stärker denn je auf die virtuelle Interaktion mit dem Publikum setzen.

Anm. der Red.: Der vorliegende Text ist ein stark gekürzter, vielfach umformulierter und ergänzter Auszug aus Jan Süselbecks ausführlichem und im Juli 2018 erscheinenden Handbuchartikel „Pop“, in: Carsten Rohde / Thorsten Valk / Mathias Mayer (Hrsg.): Faust-Handbuch. Konstellationen – Diskurse – Medien. Stuttgart / Weimar: J.B. Metzler 2018, S. 576-584.