Gefühl ist alles

„Gretchen am Spinnrade allein“ in Goethes „Faust“

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

   Meine Ruh‘ ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.

   Wo ich ihn nicht hab‘
Ist mir das Grab,
Die ganze Welt
Ist mir vergällt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   Mein armer Kopf
Ist mir verrückt,
Mein armer Sinn
Ist mir zerstückt.

   Meine Ruh‘ ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.

   Nach ihm nur schau‘ ich
Zum Fenster hinaus,
Nach ihm nur geh‘ ich
Aus dem Haus.

   Sein hoher Gang,
Sein‘ edle Gestalt,
Seines Mundes Lächeln,
Seiner Augen Gewalt,

   Und seiner Rede
Zauberfluß,
Sein Händedruck,
Und ach sein Kuß!

 

 

 

   Meine Ruh‘ ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.

   Mein Busen drängt
Sich nach ihm hin,
Ach dürft‘ ich fassen
Und halten ihn!
Und küssen ihn
So wie ich wollt‘,
An seinen Küssen
Vergehen sollt‘!

        –––

Da geschieht fast nichts in „Gretchens Stube“. Doch die Dramatik dieses Monologs in neun Strophen ist kaum zu überbieten. „Gretchen am Spinnrade allein“, lautet die knappe Anweisung zu der kurzen Szene. Wir können uns das Mädchen, das die Verse im Rhythmus des Rades erregt vor sich hin spricht, als einen glücklichen Menschen vorstellen. Denn eine Seelenverwandte, das Klärchen in „Egmont“, kennzeichnet das Glück bekanntlich so: „Himmelhoch jauchzend,/ Zum Tode betrübt;/ Glücklich allein/ Ist die Seele, die liebt.“

Wie diese Verse entfalten auch jene Gretchens ein starkes Eigenleben gegenüber dem Tragödienzusammenhang. Sie sind denn auch vielfach vertont worden. Wer sie liest oder hört, wird die Intensität des mit ihnen evozierten und reflektierten Gefühlszustandes sofort mit Mustern vieler Liebesgeschichten verknüpfen, die er kennt. Die Geschichte der Liebe zwischen Faust und Margarethe ist die erste und einzige nicht, zu der die Verse passen. In ihrem Zusammenhang erhalten manche Wörter, Motive und Formulierungen allerdings besondere Bedeutungsaspekte und emotionale Effekte.

„An seinen Küssen/ Vergehen sollt‘!“ Was die letzten Verse als aufgelösten Zustand höchster Lust herbeiwünschen, weist mit der Doppeldeutigkeit von „Vergehen“ auf das unendlich traurige Ende der Liebesgeschichte voraus. Schon vorher verbindet das Gedicht Vorstellungen von Liebe und Tod: „Wo ich ihn nicht hab‘/  Ist mir das Grab“. Das ist, wie „zum Tode betrübt“, zunächst Bild für einen Gemütszustand. Im Rahmen der Tragödie erhält „Grab“ jedoch seine wörtliche Bedeutung zurück. Gretchens lyrischer Monolog ist, wie vorher schon ihr Lied vom König in Thule, Teil einer der vielen großen Dichtungen über Liebe und Tod zugleich.

Warum lassen Autoren, gerade auch hochrangige, ihre Figuren so oft lieben und sterben? Und warum lassen wir uns das beim Lesen so gerne gefallen? Weil Liebes- wie Todesszenarien sich am besten dazu eignen, Emotionen hervorzurufen, deren Stärke sich in der Kombination noch einmal potenziert. Weil es eine der vorrangigen Funktionen von Literatur ist, emotional zu wirken. Und weil Leser sich bevorzugt von solcher Literatur anziehen lassen, der das besonders gut gelingt.

Zu diesem Gelingen gehört freilich noch mehr: Kunst. „Wodurch bewegt er alle Herzen?“ lässt Goethe den Dichter im „Vorspiel auf dem Theater“ fragen und führt die hohen Künste der Emotionalisierung selbst vor. Der Autor des „Faust“ beherrscht sie wie kaum ein anderer. Die Unruhe, das Leiden an der Abwesenheit des Geliebten und die Sehnsucht nach ihm, die das Mädchen fast außer Fassung bringen, werden ausdrücklich benannt. Sie artikulieren sich jedoch zugleich in Versen und Strophen, wie sie kaum kürzer, atemloser sein könnten, und in einer Form, die innerhalb der gewahrten Ordnung alle erdenklichen Zeichen der Unordnung in sich trägt. Die Versenden reimen sich mal nach diesem, mal nach jenem Schema, mal überhaupt nicht. Sätze gehen zuweilen über die Strophengrenze hinweg. Die Wiederholung der Anfangsstrophe erfolgt in unregelmäßigen Abständen. Die Zahl der unbetonten Silben vor oder hinter den betonten wechselt ständig. Gefühlsakzente stören die geregelte Abfolge der metrischen erheblich: „Ach dürft‘ ich fassen…“. Und in der Fassung von 1808 wird am Ende sogar das Strophenmuster durchbrochen: Das Drängen lässt vor den letzten vier Versen keine Pause mehr zu.

Gefühl und Herz gehören zu den häufigsten Wörtern im ersten Teil der „Faust“-Tragödie. In der Szene, die den Versen Gretchens folgt, werden sie zu Bestandteilen in Fausts Glaubensbekenntnis. „Glaubst Du an Gott?“ Fausts lange, ausweichende Antwort auf die kurze Frage des frommen Mädchens mündet in eine Apotheose himmlischer Gefühle. „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!/ Ich habe keinen Namen/ Dafür! Gefühl ist alles;/ Name ist Schall und Rauch,/ Umnebelnd Himmelsglut.“ Schon die Verse Gretchens zeigen Spuren dieser Liebesreligion – mit Anklängen an jenes „Hohelied“ aus der alttestamentarischen Liebesdichtung, das Goethe selbst übersetzte. In der frühen Fassung, dem „Urfaust“, hatte der junge Dichter auch noch das sexuelle Begehren des Mädchens mit dem Namen „Gott“ verbunden, doch auf so unerhörte Weise, dass er dies später seinem Publikum nicht mehr zumuten mochte. „Mein Schoos! Gott! drängt/ Sich nach ihm hin.“

Ob Gretchen hier mit „Gott!“ ängstlich die Hilfe einer Macht beschwört, die der Macht und Gefährlichkeit des sexuellen Drängens entgegensteht, oder ob sie (oder der Autor) die Sexualität selbst als gleichsam göttliche Macht begreift, muss beim Lesen nicht entschieden werden. Sind es doch gerade die Widersprüche intensiven Gefühlslebens, die das Glück ausmachen, auch das beim Lesen solcher Verse.

Der Beitrag ist die geringfügig modifizierte Fassung einer Gedichtinterpretation, die am 23. Februar 2008 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ im Rahmen der von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Reihe  „Frankfurter Anthologie“ erschien. Der Verstext folgt dem Erstdruck der „Tragödie. Erster Theil“  vor 210 Jahren in:
Faust. Eine Tragödie. Von Goethe. Tübingen. J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1808  [digital: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Faust_I_(Goethe) oder https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/764087290/9/LOG_0002/ ]. Hier S. 223-225.

 

Die bekannteste der vielen Vertonungen dieser Verse als Lied ist die von Franz Schubert (1814, veröffentlicht 1821 als Opus 2, D 118):

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=-LQgXtDOaYU
„Gretchen am Spinnrade“ (Franz Schubert)
Barbara Bonney, Soprano; Geoffrey Parsons, Piano (1994)