Pornografie ist die Theorie, Prostitution die Praxis

Sandra Konrads Beantwortung der Frage, „warum sie will, was er will“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bei Sex geht es um Macht.“ Das ist schon deshalb eine hochinteressante Behauptung, weil im feministischen Diskurs weithin eine klare und scheinbar unüberschreitbare Trennungslinie zwischen Macht und Sex gezogen wird. So wird etwa behauptet, Vergewaltigungen hätten nichts mit Sex zu tun. Vielmehr gehe es allein darum, Macht auszuüben und die Frau zu unterwerfen und zu erniedrigen. Nun ist das obige Zitat zunächst nichts weiter als eine Behauptung, die es zu beweisen oder doch zumindest zu plausibilisieren gilt. Oscar Wilde hat sie bereits im 19. Jahrhundert aufgestellt, Sandra Konrad eröffnet damit ihr Buch Das beherrschte Geschlecht. Auch sie selbst betont, dass Sexualität „grundsätzlich kein machtfreier Ort“ sei.

Anliegen des Bandes ist es darzulegen, „wie aus männlicher Herrschaft weibliche Selbstbeherrschung wurde“. Seine „Kernfrage“ aber ist noch eine andere: „Wie frei und selbstbestimmt“ in Zeiten wie den heutigen, in denen „Unterwerfung und Sexualisierung als Emanzipation gefeiert werden“, sind Frauen tatsächlich? Dabei fasst sie besonders ins Auge, ob „weibliche Sexualität sich etwa nicht emanzipiert, sondern lediglich maskulinisiert“ hat. Um dem nachzugehen hat Konrad nicht zuletzt 70 Frauen im Alter zwischen 18 und 45 Jahren zu ihrer Sexualität interviewt.

Entstanden ist ein Sachbuch, das sich nicht an Fachgelehrte, sondern an ein breites Publikum richtet. Gleichwohl sollte es auch in einem Sachbuch Usus sein, Zitate zu belegen. Doch verzichtet die Autorin in aller Regel selbst darauf anzugeben, wen sie überhaupt zitiert. Auch für diverse Tatsachenbehauptungen wären Quellenangaben angebracht gewesen. Doch nichts von alledem. Wozu also das umfangreiche Literaturverzeichnis am Ende des Buches?

Gut lesbar ist es hingegen zweifellos. Dazu trägt nicht zuletzt Konrads anschaulicher, metaphernreicher Stil bei. „Die Gesellschaft“, formuliert sie etwa in einem schönen Bild, „sitzt wie ein Fahrlehrer auf dem Beifahrersitz unserer Lust und bremst vor allem Frauen scharf aus“. Allerdings unterläuft ihr auch schon mal ein unangemessen abfälliger Ausdruck. So apostrophiert sie Hysterikerinnen mit geringschätzigem Zungenschlag als „Drama-Queens des 19. Jahrhunderts“.

Ein weiterer Nachteil ihres gelegentlich allzu leichtfüßigen Stils liegt darin, dass er zu terminologischen und argumentativen Unschärfen (ver)führt. So changiert Konrad etwa zwischen den Termini „sexuelle“ und „sexualisierte Gewalt“. Damit ebnet sie eine analytisch nicht unwesentliche Differenzierung ein. Auch ist es zwar eine traurige Tatsache, dass sexuelle Gewalt „so alt wie die Menschheit“ ist, nicht aber, dass sie darum „weder individuelles Schicksal noch individuelle Tat, sondern kirchlich und politisch abgesegnet“ sei. Letzteres ist sie keineswegs immer und überall; ersteres zwar nicht nur, aber durchaus auch. Andernfalls gäbe es kein individuelles Leid und keine individuelle Schuld. An anderer Stelle moniert Konrad, dass Prostitution von interessierter Seite „neutralisierend“ als „Sexarbeit“ bezeichnet wird, überbietet diesen Euphemismus aber selbst mit dem legeren Ausdruck „Job“. Ungeachtet dessen zeigt sie nachdrücklich, dass Prostitution kein „Beruf wie jeder andere“ ist, sondern vielmehr „kommerzialisierte sexuelle Gewalt“.

Gelegentlich sind einige ihrer beiläufigen Tatsachenbehauptungen nicht ganz zutreffend. So geißelt sie unter Bezugnahme auf namentlich ungenannt bleibende „Kritiker“ zwar zu Recht die „Kastration gesunder Frauen“ durch Ärzte des 19. und 20. Jahrhunderts. Dass, wie sie mit besagten Kritikern weiter meint, „niemand auch nur ansatzweise auf die Idee gekommen wäre – aus welchem Grund auch immer –, männliche Hoden zu entfernen“, ist hingegen unzutreffend. Erinnert sei nur an Haremseunuchen oder an die unzähligen Knaben, die kastriert wurden, um ihre schöne Gesangsstimme für christliche Chöre zu erhalten.

Bevor sich Konrad dem Hier und Heute zuwendet, wirft sie aus guten Gründen einen langen und tiefen Blick in die Menschheitsgeschichte. Denn

die vermeintlich natürlichste Sache der Welt – hat sich historisch entwickelt: Sexualität ist nicht nur Biologie, Lust und/oder Unlust, sondern immer auch Ausdruck der jeweiligen Gesellschaft. Schon immer war Sexualität mehr als nur Sex – es geht um Rollenzuschreibungen, Regeln und Rechte. Es geht um Verschmelzung und Abgrenzung. Es geht um Lust und Liebe und viel zu oft um Gewalt. Es geht um Macht und Ohnmacht: um männliche Herrschaft und weibliche Beherrschung.

Ein besonderes Augenmerk legt sie dabei auf die Geschichte der Hysterie. Denn anhand dieser „Krankheit, die von Männern erfunden und von Frauen übernommen wurde, zeigt sich in einzigartiger Weise das Machtverhältnis zwischen Mann und Frau, die gesellschaftliche Ordnung der Geschlechter, die Beherrschung der weiblichen Lust – und die quälende Ohnmacht, die daraus entsteht.“ Gelegentlich werden Konrads oft erhellende historische Lehrstunden dadurch getrübt, dass sie plötzlich einem Menschen das Wort erteilt, der in einer ganz anderen Ära lebte, als derjenigen, um die es gerade geht.

Nachdem sie die Geschichte der Hysterie ausführlich nachgezeichnet hat, wendet Konrad sich Pornografie und Prostitution zu. Die zentrale Gefahr ersterer sieht sie darin, „dass sich Normen verschieben und die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt gegen Frauen sich langsam, aber sicher wieder erhöht“. Insgesamt aber hat sie zur Pornografie ein eher entspanntes Verhältnis. „Für viele Mädchen“ habe sie sogar „einen aufklärenden Charakter, besonders Blowjob-Techniken“. Tatsächlich lässt sich aber wohl eher von einem normierenden Charakter reden, sowohl was die Erwartung von Seiten der (heranwachsenden) Männer wie auch die Ausführung der (jungen) Frauen betrifft. So beklagt die Autorin einige Seiten später, junge Menschen „gewöhnen sich an die pornografischen Inhalte, die angeboten werden und die zu neuen unbewussten Normen führen“. Darum will sie die Pornographie nicht etwa gleich verboten sehen, vielmehr sei „das maßgebliche Mitwirken von Frauen bei der Filmproduktion, hinter der Kamera und in der Regie“ anzustreben, um „neben dem männlichen auch den weiblichen Blick auf das Geschehen“ zu gewährleisten. Allerdings stellt sich Konrad die Frage, „ob eine politisch korrekte Pornografie überhaupt noch erregend wäre“. Diese gibt es allerdings längst in Form des „feministischen Pornos“, für den etwa die Werke Erika Lusts stehen. Deren Filme und ihre Wirkung auf die KonsumentInnen erwähnt die Autorin nicht.

„Porno ist die Theorie – Prostitution die Praxis“, erklärt Konrad. Damit meint sie, dass Männer das, was sie in Pornos sehen, bei Prostituierten ausprobieren wollen. Anders als  Pornografie lehnt sie Prostitution sehr deutlich ab. Die „diskriminierende Geschlechterhierarchie“ zeige sich hier „unerbittlicher“ als irgendwo sonst in der Gesellschaft. Denn das Prostitutionsgeschäft sei „streng geschlechterhierarchisch strukturiert“ und spiegele „ein Mann-Frau-Herrschaftsverhältnis“, das im 21. Jahrhundert „theoretisch undenkbar“ sei und „dennoch tagtäglich – in Deutschland sogar legal – praktiziert“ werde. Dass manche der Prostituierten – die sie als „bezahlte Vergewaltigungsopfer von Männern“ analysiert – sich „in der Sexindustrie Gewalt zufügen lassen und sich gleichzeitig als Herrin der Lage bezeichnen“, sei allerdings „nichts Neues“. Neu sei „allein die Kritiklosigkeit“, mit der dieser Mythos von Politik und Gesellschaft, ja selbst von einigen FeministInnen übernommen werde. Die hierzulande vor einiger Zeit vollzogene Legalisierung der Prostitution lehnt Konrad als „gescheiterten Versuch“ ab, sie „für Frauen erträglich zu machen“. Stattdessen präferiert sie das schwedische Modell, also die Strafverfolgung der Prostituenten (vulgo Freier), nicht der Prostituierten.

Insgesamt ist der Abschnitt zur Prostitution zwar sehr überzeugend. Dass „freiwillige“ Prostitution für Frauen, die durch frühere Gewalterfahrungen traumatisiert sind, eine „Möglichkeit der Krisenbewältigung und der schrittweisen emotionalen Verarbeitung verdrängter traumatischer Erlebnisse“ böte, ist jedoch ein arger Missgriff. Konrad kommt auch nicht in den Sinn, dass Prostituierte, die behaupten, Prostitution sei eine gute Sache, Mittäterinnen bei der Aufrechterhaltung der von ihr natürlich zu Recht angeprangerten „patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen“ und der „ausbeuterischen Beziehung zwischen Männern und Frauen“ sein könnten.

Im anschließenden Abschnitt analysiert Konrad Vergewaltigung und sexuelle Gewalt. Sie ventiliert die von Susan Brownmiller in ihrem Buch Against Our Will vor einem halben Jahrhundert  aufgestellte und seither in feministischen Kreisen auch von anderen weithin übernommene These, bei Vergewaltigungen und „allen anderen Formen von sexualisierter Gewalt“ gehe es „nicht um Sexualität“, sondern „in erster Linie um Macht“. Die Eingangsthese, der zufolge Sexualität „grundsätzlich kein machtfreier Ort“ ist und das vorangestellte Wilde Zitat scheinen vergessen zu sein. Unumstößlich fest steht jedenfalls, dass die Schuld stets und ausnahmslos „einzig und allein beim Täter“ liegt. Dabei ist es völlig belanglos, welche Kleidung eine Frau getragen hat, wie sie sich verhalten hat, was sie gesagt hat, wo sie sich aufgehalten hat und was den Tätern sonst noch an Ausreden einfallen mag. Sexuelle Gewalt, schließt Konrad, sei „kein Frauenproblem, sondern ein Männerproblem“. Genauer gesagt, sind es Männer, die dieses Problem verursachen, Frauen aber sind damit konfrontiert.

Im vierten Kapitel „Zwischen Sexobjekt und Sexgöttin“ benennt Konrad das Ziel weiblicher Emanzipation auf dem Feld der Sexualität: „Subjekt des Begehrens werden“. Dabei stößt sie zur „entscheidenden Frage“ für den Stand in Sachen Emanzipation vor: „Machen Frauen die Normen oder halten sie sich nur an sie?“ Dabei hat sie für „weibliche Komplizenschaft mit männlicher Macht“ durchaus Verständnis, ohne sie darum allerdings zu rechtfertigen. Sie sei „aufgrund der weiblichen Sozialisation absolut nachvollziehbar“. Konrad zufolge übernehmen Frauen „männliche Spielregeln“ außerdem, weil es ihnen „(finanzielle) Sicherheit, einen gewissen sozialen Status – und die Liebe des Mannes“ erhalte. Nun, vielleicht glauben diese Frauen das. Tatsächlich sichert ihnen ihre Komplizenschaft gar nichts, wie viele von ihnen immer wieder leidvoll erfahren müssen.

Seien manche oder auch viele Frauen verständlicherweise Komplizinnen männlicher Macht, so mache die herrschende Geschlechterhierarchie „Männer per se zu Mittätern […] ob sie es wollen oder nicht“. Eine starke, ja provozierende These. Denn Konrad behauptet nicht nur, dass sämtliche Männer notwendigerweise – und gegebenenfalls ganz gegen ihren Willen – von den patriarchalischen Verhältnissen profitieren. Allerdings versäumt sie es, ihre These zu belegen. Dabei ließe sie sich zumindest plausibilisieren. Gegen Ende ihres Buches meint die Autorin ganz im Gegensatz zu obigem Zitat hingegen: Es sei „sinnlos je nach Bedarf das eine oder andere Geschlecht zu diskreditieren“. Vielmehr sei es „an der Zeit, den unsinnigen Geschlechterkampf zu beenden, der Männer viel zu lange automatisch zu Tätern und Frauen zu Opfern machte“. Stattdessen solle der Feminismus endlich werden, „was er immer hätte sein sollen“, nämlich eine „genderneutrale Bewegung, in der Menschen für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und das Recht auf Selbstbestimmung auf die Straße gehen“.

Es stellt sich allerdings die Frage, warum eine solche Bewegung das Label „feministisch tragen sollte? Natürlich können und werden FeministInnen sich für all dies einsetzen. Als Feministinnen aber kämpfen sie gegen jede Form von frauenfeindlichem Sexismus. Oder um es mit der nigerianischen Feministin Chimamanda Ngozi Adichie zu sagen:

Manche fragen‚Warum der Begriff Feminismus? Warum kann ich nicht einfach sagen, dass man an die Menschenrechte glaubt?‘ Weil es unaufrichtig wäre. Natürlich sind Frauenrechte ein Teil der Menschenrechte im Allgemeinen, aber sich für den verschwommenen Ausdruck Menschenrechte zu entscheiden heißt, spezifische und spezielle Probleme zu leugnen.

Mag sich auch nicht jede Aussage und Ansicht Konrads unterschreiben lassen, so hat sie doch ein wichtiges Buch verfasst, das im Entscheidenden zumeist völlig richtig liegt.

Titelbild

Sandra Konrad: Das beherrschte Geschlecht. Warum sie will, was er will.
Piper Verlag, München 2018.
382 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492058322

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