Ein Mensch in seiner Zeit

Anmerkungen zu Karl Marx

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich aus Anlass seines 200-jährigen Geburtstages mit Karl Marx beschäftigt – etwa indem er eine aktuelle Biografie wie die des englischen Historikers Gareth Stedman Jones zur Hand nimmt – mag sich zuweilen die Frage stellen, was man eigentlich tatsächlich braucht, um heute Marx abseits eines wie auch immer gearteten Spezialinteresses, sei es ein wissenschaftliches, ein politisches oder ein persönliches, zu verstehen oder ihn doch zumindest so kennenzulernen, dass man in ihm auch den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts aus Trier, einen Menschen mit Idealen, Bedürfnissen, Wünschen und Nöten wiedererkennt. Einen Menschen, der hinter der ikonografischen Überhöhung, die sein Name seit 200 Jahren erfährt, zu verschwinden droht. Der Biograf wird überlegen, wie viel Lebensgeschichte, wie viel Werkbeschreibung und -analyse, wie viel Zeitgeschichte, wie viel Interpretation all dessen nötig ist, um dem Subjekt des Interesses auf die Weise nahe zu kommen, die das Unternehmen einer Biografie überzeugend begründet. Jones, dies sei hier nur nebenbei bemerkt, meistert diese Aufgabe. In zwölf Kapiteln geht er chronologisch vor, weiß Leben und Werk von Karl Marx ebenso anschaulich zu beschreiben, wie er sie miteinander in Verbindung zu setzen vermag. Er ermöglicht den Lesern, Karl Marx durch sein Leben zu begleiten.

Aber was heißt „sein Leben“? Denn da ist ja noch dieses große, alles überwältigende Wort „Marxismus“. Alles, was sich zu Recht oder zu Unrecht mit diesem Begriff verbindet, weist über das Einzelleben von Karl Marx hinaus. Es empört sich geradezu vor der Zumutung, diesem Namen ein ‚normales‘ Leben im 19. Jahrhundert zuordnen zu sollen. Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Die Trierer sahen seitdem auf ihren berühmten Sohn mit zwiespältigen Gefühlen. Ja, er kam aus Trier, aber bitte, deshalb ist die Stadt doch nicht mitverantwortlich dafür zu machen, was in seinem Namen im 20. Jahrhundert alles geschah. Das Geburtshaus samt Museum blieb über Jahre bescheiden. Man empfand es eher als peinliche Pflicht, die Erinnerung zu wahren, und überließ es vor 50 Jahren wohl gern der Friedrich-Ebert-Stiftung, die die Trägerschaft des Museum Karl-Marx-Haus (KMH) übernahm. Wie anders feierte man Marx in den damaligen sozialistischen Ländern. Denkmäler, eines gewaltiger als das andere. So wie in einer eigens nach ihm benannten Stadt in dem kleinen Land namens DDR, wo 1971 über 250.000 Menschen zusammengekommen waren, um der Einweihung einer über 13 Meter hohen (mit Sockel) und 40 Tonnen schweren Plastik seines ‚Antlitzes‘ beizuwohnen. Karl-Marx-Stadt statt Trier. Was für entgangene Möglichkeiten! Heute aber, zum 200. Geburtstag, endlich, darf sich die Volksrepublik China, letzte verbliebene Macht des sich auf Karl Marx beziehenden sozialistischen Imperiums, mit einem Geschenk revanchieren. In Bronze wird er gegossen nach dem Entwurf des Bildhauers Wu Weishan. 5,50 Meter hoch ragt die Heldenstatue, Karl Marx im bürgerlichen Gelehrtenrock, in der linken Hand ein Buch haltend, die Rechte angewinkelt nach vorne weisend den Schreitenden, dessen Blick erhaben in die Zukunft gerichtet ist: der weise Prophet, der Erbauer einer neuen Welt. Was für eine großartige Ironie der Geschichte!

Und eine Mahnung an die kleinkarierten Versäumnisse des Gedenkens im Geist des jahrzehntelangen Antikommunismus, die bis heute spürbar sind. In Köln ließe sich des Trierers gedenken als eines Vorreiters des modernen politischen Journalismus, als eines Wahrers der Pressefreiheit oder auch als jemandem, der – völlig unideologisch – die Kooperation mit liberalen Bürgerkreisen einging, die ihn einstmals zur Rheinischen Zeitung geholt hatten. Als ein politischer Kämpfer gegen obrigkeitsstaatliche Willkür, als ein Bürgerrechtler wäre er hervorzuheben. Aber man muss schon wissen, wo man in Köln nach Marxʼ Spuren suchen muss, um derartige Anlässe des Gedenkens zu finden. Sonst wüsste man gar nicht, dass er mal hier gewesen ist.

Karl Marx war ein Mensch des 19. Jahrhunderts. Politisch wurde er geprägt durch die überall in Europa missglückten Versuche, die Machtverhältnisse zu demokratisieren und mehr Gerechtigkeit für alle zu schaffen. Das meinte vor allem soziale Gerechtigkeit, denn der technische Fortschritt des 19. Jahrhunderts schuf völlig neue Formen der Ungerechtigkeit vor allem in der Arbeitswelt. Wie viele andere Zeitgenossen auch, sah Marx hier eine neue Herausforderung. Er stellte sich ihr, indem er begann, mit akribischer Konsequenz die Ursachen und Wirkungen der neuen Verhältnisse wissenschaftlich exakt zu beschreiben. Auch diese Analyse begann im Geist des 19. Jahrhunderts. Für Marx und viele seiner Kompagnons steht am Beginn Hegel. Zumeist ist davon in den Büchern über Marx dann auch zu lesen: Viele Seiten erklären Entwicklung des Marxʼschen Werkes aus dem Geiste Hegels. Kaum anders, wie man es seit jeher macht: Da ist der Hegel, Feuerbach, sind die Junghegelianer. Da kritisiert Feuerbach Hegel und entwickelt ihn weiter, und Marx nutzt Feuerbach und entwickelt ihn weiter – und so weiter und so weiter. So erklärt sich der Fortgang aller Theorie ganz im Sinne der guten alten Aufklärung als Kritik an den irgendwie defizitären Vorgängermodellen. Und macht so die Denker und ihre Theorien zu Motoren der Fortentwicklung in ihrer Zeit. Was aber, wenn man es auch andersherum sehen würde? Die Zeit macht die Theorien möglich: Zu kritisieren ist also nicht, was bei dem einen Denker fehlte, bis es der andere Denker hinzufügte. Schon deshalb nicht, weil es zum jeweiligen Zeitpunkt noch gar nicht verfügbar war. Wie das Soziale: Als eine Kategorie des Denkens wurde es erst relevant, als es sich aufdrängte und man das Soziale konkret ‚erfuhr‘. Nun freilich galt es, sie einzubeziehen ins Theoretische. Politisch bedeutete das eine eher praxis- beziehungsweise erfahrungsorientierte Theorie anstelle der idealistischen. Karl Marx, obwohl durch seine Studien immer wieder auf das Praktische verwiesen, blieb in dieser Hinsicht störrisch. Es fiel ihm schwer, veränderte politisch-soziale Verhältnisse als neue Rahmenbedingungen einer Gesellschaftsveränderung anzuerkennen. Zum Teil erklären sich so auch seine Probleme mit Ferdinand Lassalle und der aufkommenden deutschen Sozialdemokratie. Sie erkannten im preußisch-deutschen Staat politisch-strategische Handlungsoptionen, um diesen Staat zu verändern – etwa durch die Einführung eines allgemeinen Wahlrechts, das auch der Sache der Arbeiter zugutekäme. Bestenfalls ein „königlich-preußischer Regierungssozialismus“ schimpfte Marx, in dieser Hinsicht über die deutschen Verhältnisse völlig einig mit seinem Mitarbeiter und Unterstützer Friedrich Engels.

Idealistisch-programmatische Politik steht heute zur Debatte. Gegen eine linke oder rechte Programmatik als Leitlinie der Politik steht eine erfahrungsorientierte Politik, die sich vom Links-Rechts-Schema emanzipiert. Ist das beliebig? Mit Marx, bei dem in den 1860er Jahren angesichts der realen Macht einflussreicher Gewerkschaften im liberalen englischen politischen System auch eine „Sozialdemokratisierung der Sprache“ (Jones) festzustellen ist, müsste man dennoch warnen vor einem prinzipienlosen Relativismus. Warnen vor den Gefahren des Populismus. Richtig, aber ausreichend? Verlangt nicht das Primat des Politischen – was ja nichts anderes ist, als die Anerkennung des tatsächlichen Lebens und Erlebens – den Vorrang vor idealistischem Formalismus wie er in allwissenden Parteiprogrammen statuiert ist?

An dieser Stelle ist ein weiterer interessanter Widerspruch zwischen Leben und Ideal auch bei Marx anzumerken: Er lebte ein sehr bürgerliches Leben. Diese Aussage wird ironischerweise dadurch bestätigt, dass dieses bürgerliche Leben als Ehemann, Vater und Familienmensch über viele Jahre völlig misslang. Anders als der Freund Engels, der den Widerspruch zwischen seiner Existenz als wohlhabender Fabrikantensohn und sozialistischem Ideal in einer legeren, zuweilen fast bohémehaft anmutenden Form kultivierte, blieben Marx und seine bewunderungswürdige Frau Jenny im Bemühen stecken, überhaupt eine irgendwie sichere Existenz aufzubauen. Dass trotz der elenden Verhältnisse, in denen die Familie darbte und die sicher auch beitrugen zum Tod von vier Kindern, dennoch immer die bourgeoise Fassade mit Dienstboten und großem Haushalt aufrecht erhalten wurde, macht Marx abermals zu einem Repräsentanten seiner Zeit. Die quälende Situation, deren tatsächliche Auswirkungen auf die Seelenbefindlichkeiten in der Marx-Familie nur zu erahnen sind, wurde ebenso prägend, wie sie niemals aufgearbeitet wurde. Als er schrieb, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, hätte er auch schreiben können, dass der Schein das Bewusstsein bestimme. Bezeichnend für die Familien-Situation ist ein Besuch Lassalles 1862 in London. Um ihn einigermaßen angemessen empfangen zu können, mussten im Marxʼschen Haushalt entwürdigende Anstrengungen zur Aufrechterhaltung des Scheins unternommen werden. Und das ausgerechnet für Lassalle, über den Marx sich zuweilen in gehässig-bösartiger, zudem mit antisemitisch motivierter Ablehnung äußerte. Andererseits war da auch eine Art „widerwilliger Bewunderung“ (Jones), die auch den wohlhabenden Lebensstil Lassalles betraf. Mit neidvollem Grimm bemerkte Marx, wie leicht dieser das Geld auszugeben vermochte, das im Haushalt Marx überall fehlte, statt es einem Freund, ihm, der es so sehr brauchte, zu leihen. Als Lassalle schließlich doch bereit war, ihm Geld zu leihen, verlangte er zur Sicherheit eine Garantieerklärung für die Rückzahlung des geliehenen Geldes – von Engels! Was für eine Kränkung für Marx. Aber doch auch so typisch für die Abgründe, die sich hinter so vielen gutbürgerlich getarnten Verhältnissen auftun konnten. Jene Abgründe, die Jahre später Sigmund Freund zu erkunden begann.

Was aber auch diese Episode aus dem Marxʼschen Leben zeigt: Es bleibt das immerwährende Verdienst Engels, seinen Freund zeitlebens finanziell unterstützt zu haben. Dabei ist doch auch diese „intellektuelle Freundschaft“, über die man gerade in Jürgen Herres Buch Marx und Engels. Porträt einer intellektuellen Freundschaft lesen kann, Ausdruck eines verklärten Machtverhältnisses, wie es so typisch für das 19. Jahrhundert war: Geld bestimmt die Welt. Hier die Rollenverteilung des wohlhabenden Mäzens auf der einen und des darbenden Künstlers, der in diesem Fall ein Philosoph ist, auf der anderen Seite. Dass ausgerechnet die Freundschaft zwischen Marx und Engels dann zum Modell einer romantisch idealisierten Symbiose zwischen Mäzen und Künstler beiträgt und als auf Sofakissenstickereien ikonisiertes Abbild zur gutbürgerlichen Behaglichkeit beiträgt, obwohl sie doch in Wahrheit nur der Verschleierung tatsächlicher Machtverhältnisse dient, mutet fast schon komisch an.

Aber in diesen Konstellationen eines bürgerlichen Lebens, das auch von Lebenslügen und Verdrängungsleistungen aufrecht erhalten wird, wird der Mensch Karl Marx als Zeitgenosse wieder sichtbar – eben als ein Mensch in seiner Zeit.

Titelbild

Gareth Stedman Jones: Karl Marx. Die Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
891 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783100366108

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jürgen Herres: Marx und Engels. Porträt einer intellektuellen Freundschaft.
Reclam Verlag, Stuttgart 2018.
314 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783150111512

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch