Zeit für eine neue Theorie der Literatur

Schon jetzt ein Klassiker: Mit „Literatur im Labor“ zeigt Franco Moretti, wie innovativ Philologie sein kann

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Franco Moretti liest, reibt sich immer wieder erstaunt die Augen: Was uns in den letzten Jahrzehnten von der Intermedialität bis zu den Postcolonial oder Animal Studies angeboten wurde, soll innovative Literaturtheorie gewesen sein? Diese Methoden brachten belebende interdisziplinäre Öffnungen, doch veränderten sie wirklich grundlegend unser Verständnis von Literatur, unseren Umgang mit Texten?

Morettis Theorie ist radikal, weil sie an die Grundlagen geht. Literatur ist aus Sprache gemacht – diese Grundvoraussetzung verbindet ihn mit den Vertretern von Formalismus und Strukturalismus. Wie, auf welche spezifische Weise ein literarischer Text oder eine Gattung gemacht ist, lässt sich aber sinnvoll nur an einer Masse von Texten untersuchen. Das ist der entscheidend neue Ansatzpunkt, den Moretti im Einklang mit den Digital Humanities verfolgt.

In keinem seiner bisherigen Bücher hat Moretti diesen Ansatz so stringent verfolgt wie in Literatur im Labor. Spätestens mit ihm hat er als ein neuer Klassiker der Literaturtheorie zu gelten. Virtuos bewegen er und seine Mitautoren sich zwischen den „extremen Ebenen der Literatur“, zwischen mikrolinguistischer Untersuchung und der Makroebene des immens vergrößerten, elektronisch analysierbaren Archivs. In immer neuen Anläufen demonstrieren sie, „wie eine Reihe quantitativer Messungen in einen Dialog mit Begriffen tritt und diese allmählich verändert“. „Dialog“ ist das entscheidende Stichwort, denn Moretti gibt nicht vor, das Rad neu zu erfinden; wohl aber gelingt es ihm, literaturwissenschaftliche Grundbegriffe wie Stil, Gattung oder Kanon genauer und besser zu fassen.

Die neue, extreme Methode hat Folgen bis hin zur Publikationsform der Aufsätze. Moretti tritt nicht alleine auf, sondern veröffentlicht die Ergebnisse gemeinsam mit den Kollegen des Literary Lab. Innovativ ist auch, dass Zwischenüberschriften mit Datierungen versehen sind. Dadurch wird die Prozessualität des Vorgehens deutlich. Offen werden auch Irrtümer und Sackgassen benannt. Insbesondere fragen die Autoren immer wieder, ob ihre neue, quantitative Untersuchungsmethode tatsächlich zu neuen Ergebnissen führt oder nicht nur Altbekanntes auf neue Weise erwiesen wird. Wo das der Fall ist, wird es eingestanden; häufig aber schlägt die Analyse eine andere Richtung ein als geplant und führt dadurch zu überraschenden Resultaten.

Eine weitere Besonderheit sind die zahlreichen statistischen Diagramme und Schaubilder. Sie sind wohl das fragwürdigste Element von Morettis Publikationsform, da sie den makroskopischen Aspekt einseitig in den Vordergrund rücken. Dass diese Abbildungen für den Leser merkwürdig austauschbar wirken, deutet darauf hin, dass sie der Komplexität des Gegenstands nicht unbedingt gerecht werden. Die Autoren erklären denn auch, dass die Diagramme immer nur in einem relativ frühen Stadium der Untersuchung eine Rolle spielen.

In Literatur im Labor kommt es somit weniger auf die Gegenstände an, die untersucht werden: von der Länge von Absätzen als stilistisches Merkmal über literarische Schauplätze in London bis zu den Jahresberichten der Weltbank. Wichtig ist vielmehr die Vorgehensweise. Im den Band eröffnenden Aufsatz Quantitativer Formalismus. Ein Experiment etwa spielt es nur eine untergeordnete Rolle, Texte mittels elektronischer Untersuchungsprogramme erfolgreich Gattungen zuordnen zu können. Maßgeblich ist allein, welche – teilweise überraschenden – Kriterien bezogen auf eine große Masse von Texten greifen. Auch in Stil auf der Ebene des Satzes ist zu sehen, wie scheinbar überflüssige oder nutzlose Daten hervorgebracht werden, die aber zu neuen Fragestellungen führen können.

Worauf es ankommt, ist, dass die quantitative Methode immer wieder irritierende Befunde hervorbringt. So überrascht in Kanon/Archiv. Großflächige Dynamiken im literarischen Feld, dass kanonisierte Werke einen kleineren lexikalischen Reichtum besitzen als nicht-kanonisierte. Dass die Lösungsansätze für dieses Problem höchstens vorläufig sind und auch die zugrundeliegenden Definitionen von ‚Information‘ und ‚Redundanz‘ genauer sein könnten, ist dabei weniger wichtig als die Tatsache, überhaupt auf die Frage gestoßen zu sein.

Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Quantität des Materials zumindest potenziell eine neue Qualität der Interpretation mit sich bringt. Die neue Größenordnung, das enorme Ausmaß des Archivs verändert die Fragestellungen und die Begriffe. Auf eine solch produktive neue „Provokation der Literaturwissenschaft“ mussten wir lange warten.

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Franco Moretti: Literatur im Labor. Unter Mitwirkung von Mark Algee-Hewitt, Sarah Allison, Marissa Gemma u.a.
Übersetzt aus dem Englischen von Bettine Engels und Michael Adrian.
Konstanz University Press, Konstanz 2017.
268 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530816

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