Hausbesuche

Florian Illies über bildende Kunst und Literatur. Texte aus den Jahren 1996–2017

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine langjährige Tätigkeit als Autor, Journalist, Herausgeber einer Kunstzeitschrift und einer Wochenzeitung sowie Partner eines großen Auktionshauses führt zu einer Vielzahl von Publikationen, die verstreut erschienen sind oder nur mündlich vermittelt wurden: Reden, Vorträge, Katalogbeiträge oder Zeitungsartikel. Irgendwann verliert man selbst den Überblick, und es entsteht der begreifliche Wunsch, zumindest eine Auswahl all dieses Geschriebenen zusammenzustellen und ein Buch daraus zu machen. Mehr als dreißig solcher Texte versammelt der Band Gerade war der Himmel noch blau von Florian Illies. Der Untertitel Texte zur Kunst bringt die Beiträge auf einen thematisch weiten gemeinsamen Nenner. Die Outline-Schrift scheint sich im Wolkenhimmel, dem Allover-Motiv des Umschlags, zu verlieren, und die Botschaft wird deutlich: Dieses Buch unternimmt den Versuch, flüchtige Tagesprodukte einzufangen.

Bei dem Bild auf dem Umschlag handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Gemälde Wolke auf hellblauem Himmel von Johann Heinrich Schilbach, für Illies – als Kunsthändler ist er für die Kunst des 19. Jahrhunderts (und die zeitgenössische Kunst) zuständig – „der größte hessische Maler der Romantik“. Das Motiv von Himmel und Wolken ist geschickt gewählt: Es verbindet die Literatur mit der Kunst, und um beides geht es in diesem Band, und es verbindet das 19. mit dem 21. Jahrhundert, dem Zeitraum, der hier durch etwa dreißig Forscher, Architekten, bildende Künstler und Dichter vertreten ist. Sie werden unter biografischer Perspektive vereint als „Frühe Helden“ (von Julius Meier-Graefe bis Hans Magnus Enzensberger) und „Neue Helden“ (von Andy Warhol bis Christoph Schlingensief) sowie in weiteren Kapitelüberschriften unter persönlich, zeitlich oder kunstformspezifisch ausgerichteten Gesichtspunkten zusammengestellt: „Hausbesuche“, „Erkundungen im 19. Jahrhundert“, „Erkundungen im Jahr 1913“ und „Literatur“.

Nur ist es ungeheuer schwierig, das zeigt auch die Gliederung des Bandes, so unterschiedliche Beiträge zu versammeln, zumal es kurze, genau auf den Punkt gebrachte Texte sind, jeder einzelne Text mit eigener Spannungskurve, jeder ein kleines abgeschlossenes Gebilde in sich. Was sie jenseits des verhandelten Gegenstands Kunst verbindet, ist die Art und Weise des Herangehens: Illies will dem auf die Spur kommen, wie Kunst, wie Literatur, wie wissenschaftliche Forschung geschieht, in welchen Kontexten sie stehen. Für sein Schreiben gibt es einen Schlüsseltext. Es ist der erste im Band, und er ist dem in der Wissenschaft umstrittenen Kunsthistoriker und Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe gewidmet. Illies arbeitete sich an ihm im Zuge eines Dissertationsprojektes ab, das nicht beendet, ja gar nicht richtig begonnen wurde:

Julius Meier-Graefe. Drei Worte, eine Verheißung. Mein ganzes kunsthistorisches Studium über schlich ich um seine Bücher herum wie um den heißen Brei, ich wusste, dass sich darin etwas befand, was noch immer, auch hundert Jahre nach seiner Entstehung, eine gefährliche Explosionskraft besaß. Es ist das barock Ausschweifende, das Unwissenschaftliche, das leicht Unseriöse, das ihn umweht. Seine herrliche Praxis etwa, Fußnoten nicht für überflüssige Literaturhinweise zu benutzen, sondern für Anekdoten von persönlichen Begegnungen mit den Künstlern, über die er schrieb.

Meier-Graefe, das war für den Studenten Illies jemand, der gegen „die strengen akademischen Hygienevorschriften“ schrieb und „das Reinheitsgebot deutscher Wissenschaft“ ignorierte.

Liest man Illies’ Texte, findet man diesen Meier-Graefe’schen Ton, weniger das barock Ausschweifende als das „leicht Unseriöse“ im Persönlichen, Anekdotischen und subjektiv-sinnlich Erfahrenen, was zu einer geradezu detailversessenen, beängstigend genauen Darstellungsweise führt. Illies’ erstes Buch Generation Golf war der Seziertisch seiner konsumgebetteten Generation und schockierte ob der Präzision der Instrumente, die im Prinzip einfacher nicht sein konnten: Markennamen wie Nutella, Adidas, Barbour prägten das Selbstgefühl einer Epoche. Im Jahr 2000 – 18 Jahre ist das jetzt her – schrieb Anja Höfer in litereaturkritik.de über das Buch: „Illies, ein wahrer Erinnerungskünstler, trägt das alles mit bewundernswerter Akribie zusammen, und der Wiedererkennungswert grenzt bisweilen an Obszönität.“ Damit charakterisiert sie genau die Schreibweise, die sich auch in den kleinen Texten zur Kunst wiederfindet.

In dem Kapitel „Hausbesuche“ geht es in „Gottfried Benn. Gute Regie ist besser als Treue“ detailverliebt, vom Perlwein bis zum Törtchen, um den Besuch bei einer der von Benn in den 1950er Jahren umworbenen jungen Frauen, durch deren Bewunderung der alternde Dichter sein Ego aufzupolieren suchte. Wenn Illies aus dem zu diesem Zeitpunkt gerade veröffentlichten Briefwechsel zitiert, wie der Dichter die ihm von dritter Seite aus beschriebene Attraktivität der Doktorandin zum Anlass nimmt, sie, die sich an ihn wegen einer Frage zu seiner Dichtung gewandt hat, um ein Foto zu bitten, könnte das entlarvender nicht sein.

Wie selbstverständlich bezieht Illies in seinen Texten die Produkte mit ein, die aus den „strengen akademischen Hygienevorschriften“ hervorgegangen sind, sei es ein sorgfältig edierter Briefwechsel oder aber der dritte Band der Innsbrucker Georg Trakl-Ausgabe von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina in „Georg Trakl. Friedenssommer vor 1914“. Illies vermittelt seine Leseerfahrung der textgenetischen Darstellung von Trakls späten Gedichten auf dem Hintergrund der Biografie des Dichters im Jahr vor seinem Tod, seinen unsteten Reisen, seiner Rückkehr von Venedig nach Österreich im Herbst 1913 und der sich daran anschließenden intensiven Schaffensphase: „Durch die Zerlegung in die Textstufen wirkt Trakls Lyrik wie in tausend Scherben zerbrochen, doch in jeder einzelnen von ihnen spiegelt sich ein wenig vom großen Schatten seines Lebens.“ Sein Urteil aber, man habe das Gefühl, man könne Trakl nur noch „innsbruckisch“ lesen, wird der Leistung der vorgängigen Salzburger Ausgabe von Walther Killy und Hans Szklenar nicht ganz gerecht. Denn schon Killy hatte mit seinem Team, wenn auch auf anderer editionsphilologischer Grundlage, die Genese des Traklschen Œuvres mit seinen oft kontradiktorischen Varianten erarbeitet und war an ihnen verzweifelt, im Grunde ein Stoff für Illies.

Gerade war der Himmel noch blau ist dezidiert Ausdruck einer persönlichen Begegnung mit Kunst, Dichtung und den Akteuren: Immer wieder verweisen die Texte auf den Autor selbst zurück, seine Leidenschaften, seine Vorlieben. „Ein flammender Liebesbrief an die Kunst“ heißt es auf dem Rückumschlag. Und wie das mit Liebesbriefen so ist: Sie lesen zu dürfen, bedeutet zwar, ein intensives Gefühl und tief wurzelnde Erfahrungen zu teilen, gleichzeitig aber auch, dem Zwiespalt ausgeliefert zu sein, dass man eigentlich nicht dazu gehört.

Titelbild

Florian Illies: Gerade war der Himmel noch blau. Texte zur Kunst.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
300 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972511

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