Versuchsanordnungen zum Thema Kulturkonflikt zwischen Nordamerikanern und Europäern

Vier Kurzgeschichten von Henry James neu übersetzt

Von Renate BroschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Brosch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Neuübersetzung von vier Kurzgeschichten des amerikanischen Meistererzählers Henry James kommt passenderweise in einer attraktiven Ausgabe von mare daher. Auf dem ansprechenden Schutzumschlag ist ein Ozeandampfer abgebildet, wie er um 1900 zwischen den Kontinenten verkehrte. Auf solchen Schiffen reiste der in Europa lebende Autor, wenn er zu Besuch in der Heimat war. Auch diese, von Mirko Bonné übersetzten, vier Geschichten eint der thematische Bezug zu einer atlantischen Seepassage. Doch ihre Entstehung liegt zeitlich 20 Jahre auseinander, sodass sie auch einen Einblick in die Entwicklung Jamesʼ vom Jugendwerk zur stilistischen Virtuosität erlauben.

Sehr zu seinem Leidwesen war Henry James nie ein wirklich populärer Autor. An den Erfolg seiner Novelle Daisy Miller und seines Romans Portrait of a Lady konnte er nicht mit weiteren Bestsellern anschließen, und seine Versuche, das Theaterpublikum zu erobern, das sich köstlich über Oscar Wildes Stücke amüsierte, misslangen kläglich. Doch für Literaturwissenschaftler und Kritiker besteht kein Zweifel über den Stellenwert seines Werks in der Weltliteratur: Er ist wie für die etwas jüngere Autorengeneration um Virginia Woolf „the master“, der bedeutendste Romancier der Jahrhundertwende um 1900.

Was die Literaturwissenschaft an James’ Werk besonders schätzt, sind die Formexperimente seiner Spätphase, in denen er mit der Perfektionierung des personalen Erzählens den Bewusstseinsstrom von Modernisten wie Woolf und James Joyce vorbereitet. James’ Werk stellt somit eine Schnittstelle dar, an der traditionelle literarische Darstellungsmuster auf Innovationen treffen, die sich von realistischen Annahmen und Verfahren entfernen. Die ältere Wirklichkeitsvermittlung macht einen wichtigen Aspekt seiner früheren Werke aus, und obwohl seine Prosa später deutlich anders werden sollte als die von Émile Zola, Iwan Turgenjew, Lew Tolstoi, Honoré de Balzac und William Dean Howells, teilte er anfangs ihre Ästhetik und ihre Poetologie. Er intensivierte kontinuierlich sein schriftstellerisches Sensorium für unausgesprochene Gefühlslagen, Stimmungen und Gedanken. Ab der Jahrhundertwende entfernte er sich von herkömmlichen Verfahren der Illusionsbildung und konzentrierte sich zunehmend auf die Schilderung eines wahrnehmenden Bewusstseins. Dadurch gelang ihm eine nuancenreiche psychologische Durchdringung der Charaktere. Mit James setzt sich somit eine neue Realismusauffassung durch: Der Fokus liegt nicht mehr auf der Entwicklung der Handlung und des Plot, sondern bleibt weitgehend auf die Entfaltung innerseelischer Vorgänge konzentriert. Diese radikale point-of-view-Technik, die er in den Vorworten zu seinen Romanen theoretisch fundierte, setzte in aller Konsequenz eine Subjektivierung und Relativierung des Dargestellten durch, die dem Leser ein manchmal anstrengendes Maß an Reflexion abverlangt.

Die vier Geschichten im vorliegenden Band aus der Zeit zwischen 1864 und 1884 sparen die Spätphase des schriftstellerischen Schaffens aus, lassen diese Leistungen aber bereits erahnen. Sie behandeln vornehmlich das „international theme“, für das James unter Zeitgenossen bekannt war, nämlich die Kulturdifferenz beziehungsweise gewachsene Fremdheit zwischen Amerikanern und Europäern. In diesen kosmopolitischen Erzählungen begegnen sich Europäer und Amerikaner mit all ihren Vorurteilen, Erwartungen und Verwunderungen. James hatte schon als junger Mann seiner provinziellen Heimat konsequent den Rücken gekehrt, um sein Leben in Europa, zunächst in Paris, dann hauptsächlich in London, zu verbringen. Dennoch oder gerade deshalb ging es ihm immer wieder um den Kontrast zwischen der Dekadenz der alten Welt und den Freiheiten und der Engstirnigkeit der neuen.

Diese „internationale“ Sicht äußert sich in kontrastierenden Figurenkonstellationen, in denen sich Ungezwungenheit und Konventionalität gegenüberstehen. Einfühlsamer noch als andere viktorianische Autoren setzte James weibliche Figuren ins Zentrum der Aufmerksamkeit, an denen er die Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Selbst- und Lebensentwürfe auslotete. Seine männlichen Helden sind meist sensible, kontemplative und ein wenig passive Menschen, deren Erleben erstaunlich oft aus dem Beobachten anderer besteht. Diese Zurückhaltung lässt sie ihre besten zwischenmenschlichen und erotischen Chancen verpassen, sodass ein melancholischer Grundton bei aller Ironie vorherrscht. Wie Daisy Miller ist die Zentralfigur der letzten Geschichte Pandora ein frisches, selbstbewusstes amerikanisches Mädchen, das ihrem aristokratischen Beobachter, einem steifen deutschen Grafen, durch ihr nicht standesgemäßes Verhalten auffällt. Anders als Daisy wird die Frau aber nicht von der illustren Gesellschaft ausgestoßen. Vielmehr gelingt ihr der Aufstieg in dieselbe, was ihrem heimlichen Verehrer die größte Verwunderung abringt. Diese Geschichte von 1884, die bereits auf James’ spätere Virtuosität in der Darstellung ambivalenter Gefühlslagen und uneingestandener Motive vorausweist, ist sicher die beste der Ausgabe.

Die erste Geschichte des vorliegenden Bandes Tragödie eines Irrtums ist dagegen ein Jugendwerk, das noch ganz in der Tradition der „sensation novel“ verhaftet ist. James hatte sie anonym in einer Zeitschrift veröffentlicht und nahm sie nie in seine Gesamtausgabe auf. In Anbetracht der Verfeinerung seines Stils und seiner Erzählweise ist dies kein Wunder, denn diese Geschichte ist trotz der Anspielung auf Shakespeare im Titel nur eine geschickt konstruierte viktorianische Horrorgeschichte. Wie die Schmöker von Wilkie Collins und anderen Populärschriftstellern des 19. Jahrhunderts baut sie mithilfe eines Arsenals an melodramatischen Elementen Spannung um einen geplanten Gattenmord auf.

Vier Begegnungen gehört zu den für James typischen Verzichtgeschichten. Caroline Spencers Lebenstraum, einmal durch Europa zu reisen, wird von einem skrupellosen Verwandten vereitelt, der ihr schon bei der Ankunft in Le Havre ihre gesamte Reisekasse abschwatzt. Auch später muss sie auf ihren Wunsch verzichten, denn dessen angebliche Ehefrau, eine angebliche Gräfin, hat sich bei ihr eingenistet und lässt sich von Carolines bescheidenen Mitteln aushalten. Die kunstvolle erzählerische Gestaltung liegt hier schon in der Perspektive: Die traurige Verwicklung von Leichtgläubigkeit und Schmarotzertum wird von einem Mann beobachtet, der Caroline nur vier Mal begegnet, dabei aber mit Bedauern ihre zunehmende Resignation und uneingestandene Enttäuschung registriert.

Wie man es sieht kann als frühes Experiment mit polyperspektivischem Erzählen gelten, denn diese Geschichte ist aus acht Briefen zusammengesetzt, in denen sich unterschiedliche Einschätzungen der amerikanischen Gesellschaft versammeln. Die Mitteilungen an Adressaten in Frankreich und England beziehen ihre Komik aus den eingefleischten Vorurteilen, die von aufgeplustertem Nationalstolz bis zu snobistischer Ablehnung rangieren. Den Rahmen bilden wie so oft die Geschicke einer jungen Amerikanerin, die zum Leidwesen ihrer Mutter in Europa nicht unter die Haube gekommen ist und nun ihr Glück in der neuen Welt suchen soll. Auf dem Schiff hat sie Bekanntschaft mit Männern gemacht, die ihr während der Reise den Hof machen, sich dann aber doch nicht zum entscheidenden Schritt durchringen können. Wieder einmal stehen der Eheschließung die Ungezwungenheit und der Freiheitsdrang des Mädchens im Weg, für die James in seinem gesamten Werk Verständnis und Sensibilität zeigte.

Das elegante Nachwort des Herausgebers und Übersetzers Mirko Bonné bietet eine erhellende Einführung in Jamesʼ Leben und Werk sowie kluge Interpretationen der vier ausgewählten Geschichten. Seine Übersetzungen können aber die funkelnde Sprachschönheit der Originaltexte nicht einfangen. Viele Leser werden sich über die erläuternden Fußnoten freuen, in denen der historische Kontext beleuchtet wird und die Übersetzungen der vielen französischen Ausdrücke, die eine Marotte von James waren, enthalten. Insgesamt bietet dieses schöne Buch einen guten Überblick über James’ Versuchsanordnungen zum Thema Kulturkonflikt zwischen Nordamerikanern und Europäern und seinen Erkundungen der Entfremdung zwischen den Geschlechtern. Wer Interesse an der Ausbildung von James’ literarischem Gestaltungswillen hat, kann an den vier Geschichten auch die sukzessive Hinwendung zum perspektivischen Erzählen mit seiner spannenden Unzuverlässigkeit erkennen.

Titelbild

Henry James: Vier Begegnungen. Erzählungen.
Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Mirko Bonné.
Mare Verlag, Hamburg 2018.
272 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482715

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