Marguerite Duras: Zwischen Mensch und Mythos

Jens Rosteck entfaltet mit „Schwester der Meere“ ein prachtvolles Panorama

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marguerite Duras (1914–1996), Schriftstellerin, Journalistin, Regisseurin, ist mehr Phänomen als Mensch, so scheint es besonders in der Rückschau. An dieser Wahrnehmung hat sie ihr ganzes Leben gearbeitet, indem sie ihren Werken eine autobiografische Essenz einschrieb, die sowohl verstörend als auch faszinierend ist. Zugleich aber verstellt dies durchaus gewollt den Blick auf den Menschen, der in Vietnam geboren wurde und aufwuchs, als Kind der Kolonien in Frankreich zuerst eine Fremde blieb, das Grauen des Zweiten Weltkriegs in Paris erlebte und sich literarischen Ruhm erschrieb, um letztendlich, in gefühlter Einsamkeit und unverstanden, dem Alkohol den Vorzug über fast jede menschliche Gesellschaft zu geben und mit Argusaugen den eigenen Verfall zu beobachten. Dabei aber war Duras für lange Jahre eine der großen intellektuellen Stimmen Frankreichs und Europas – weder frei von Schuld noch von Selbstüberschätzung und gerade deshalb unbequem authentisch.

Dieser faszinierenden Persönlichkeit widmet Jens Rosteck eine kenntnisreiche Biografie. Auf etwas mehr als 200 Seiten nähert er sich der rätselhaften und widersprüchlichen Marguerite Duras, die ihre biografischen Spuren immer wieder verwischte und im Dienste der Kunst umformte, über den Topos des Meeres an. Auf den ersten Blick mag diese Perspektive widersinnig erscheinen: Zwar strotzen ihre Romantitel vor maritimen Begriffen, aber Duras verbrachte viel Zeit abseits des Meeres in ihrer Kindheit in Vietnam, während ihrer Jahre in beziehungsweise bei Paris. Kursorisch betrachtet scheinen deshalb andere Zugänge vielversprechender – über Familie, Gefährten und Liebhaber oder über ihre Werke, die immer wieder die Frage umkreisen, wie Nähe möglich sein kann und soll. Aber gerade die Annäherung, die Rosteck wählt, offenbart viel über Duras und den Kosmos, in dem sie sich bewegte. Dabei ist das Meer nicht einfach nur eine geografische Verortung, der sich Rosteck auf die Spur begibt, sondern vielmehr ein Bild, das immer wieder unterschiedlich mit Sinn besetzt werden kann und so immer neue Akzente offenbart.

Prägend, und deshalb ausführlich behandelt, sind für Marguerite Duras ihre Kinderjahre im heutigen Vietnam, wo sie zwar in einer französischen Familie, aber doch immer in Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung aufwächst und wo Klima, Vegetation, Kultur und die Begegnungen mit Menschen eine Folie für viele ihrer Werke bilden werden. Darunter ist auch der Chinese, der in Der Liebhaber (1984) verewigt werden sollte – das Buch ist Duras’ bekanntestes und erfolgreichstes. Anhand dieses und anderer Beispiele zeichnet Rosteck nach, wie eng Fakt und Fiktion im Werk von Duras miteinander verwoben sind, so eng mitunter, dass die Frage danach, was denn nun wirklich geschehen ist, nicht mehr zu beantworten ist und belanglos wird.

Nach ihrer Ankunft in Frankreich liegt Rostecks Augenmerk auf den Jahren rund um den Zweiten Weltkrieg und Robert Antelme, Duras’ Ehemann von 1939 bis kurz nach seiner Rückkehr aus dem KZ Dachau. Die Erlebnisse in der Résistance und Antelmes qualvollen Heilungsprozess verarbeitet sie in Tagebüchern, die die Grundlage für Der Schmerz (1985) bilden werden. Nach einem eher kurzen Flirt mit den Kommunisten von Duras, Antelme und Dionys Mascolo, dem Dritten im literarischen und amourösen Bunde, betrachtet Rosteck Duras in den 1960er Jahren als Journalistin. Hier wird ihre Stimme endgültig in der Öffentlichkeit als von Bedeutung wahrgenommen; ihre Interviews fördern auf unaufdringliche Art Erkenntnisse über Stars, Politiker, Sportler und Intellektuelle zu Tage; gleichzeitig behält Duras aber auch das normale Leben in Frankreich im Blick.

Rostecks Buch schließt, wie es begonnen hat, nämlich mit der Betrachtung von Duras’ merkwürdig symbiotischer Beziehung zu Yann Andréa, der vom Bewunderer zum Gefährten avanciert, um letztendlich als Krankenpfleger in Duras’ letzten Tagen in Saint Germain nicht mehr von ihrer Seite zu weichen und ihr Vermächtnis noch Jahre nach ihrem Tod zu bewahren und pflegen, auch wenn sein eigentlicher Lebensinhalt nach ihrem Ableben nicht mehr vorhanden ist.

Marguerite Duras ist sicherlich ein faszinierendes, aber auch schwieriges Objekt für eine Biografie: Zwischen dem Mythos und dem Menschen zu unterscheiden, ist eine ganz besondere Herausforderung, Duras weder als Monster noch als Heilige darzustellen, eine Kunst. Beides gelingt Rosteck auf bewundernswürdige Weise. Sein Schwester der Meere ist meisterhaft erzählt, sparsam aber treffend mit Zitaten untermauert und bietet nicht nur einen differenzierten Blick auf eine große Schriftstellerin, sondern auch atmosphärische Bilder von Vietnam in den 1910er und -20er Jahren, die ohne Kolonialkitsch auskommen. Auch die Zustände in Paris vor, während und unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg schildert Rosteck eindringlich, ohne dabei die Menschen und ihre allzu menschlichen Schwächen, aber auch Stärken aus den Augen zu verlieren. Immer wieder merkt man auch, dass Rosteck die Vorliebe von Duras für das Meer teilt – seine Beschreibungen der Ozeane, die das beharrliche Hintergrundrauschen für diese Biografie beisteuern, sind prachtvolle Schilderungen von unendlicher Weite und ruheloser Freiheit.

Die Biografie ist sparsam mit einigen Fotografien von Marguerite Duras illustriert. Auch ihre Familie und andere, die ihr nahestanden, sind abgebildet. Dass diese Abbildungen auf erklärende Bildunterschriften und Datierungen verzichten, die eine Einordnung erleichtern würden, ist schade. Dass Rosteck zwischen den Benennungen Donnadieu, Duras und Marguerite abwechselt, wird verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Duras ihr selbstgewählter nom de plume war, der sich von dem Familiensitz des Vaters im Südwesten Frankreichs herleitet. Dass allerdings diese Freiheit auch und besonders auf ihre Männer (unter anderem Robert versus Antelme) übergreift, stiftet mehr Verwirrung als Klarheit, da ein bestimmter Kontext für die Benennungen nicht immer offensichtlich ist, was das Lesen gerade in dem Abschnitt über die 1930er bis -40er Jahre in Paris etwas mühsam macht.

Abgesehen von diesen kleinen Kritikpunkten hat Rosteck mit Schwester der Meere eine gelungene Biografie vorgelegt, die sowohl informativ als auch literarisch anspruchsvoll ist. Sie ist Duras-Kennern ebenso zu empfehlen wie denjenigen, die sich mit dieser starken und eigenwilligen Frau und ihrem umfassenden und vielseitigen Werk auseinandersetzen wollen und einen zugänglichen, aber anspruchsvollen Einstieg in ihr Œuvre suchen.

Titelbild

Jens Rosteck: Marguerite Duras. Die Schwester der Meere.
Mare Verlag, Hamburg 2018.
240 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482852

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