Japanische Ränke

Hideo Yokoyamas „64“ bietet einen tiefen Einblick in die moderne japanische Gesellschaft

Von Petra ReichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Reich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kriminalromane aus Japan sind zurzeit in Mode. Zwar sind sie zahlenmäßig gegenüber der Flut an Frankreich-, Italien- und Provinzkrimis immer noch eine Randerscheinung, aber Namen wie Fuminori Nakamura (Der Dieb, Die Maske) oder Keigo Higashino (Unter der Mitternachtssonne, Verdächtige Geliebte) sind mittlerweile auch in Deutschland ein Begriff. Zu der Spannung, die der Krimiplot bietet, gesellt sich hier noch der Einblick in eine Gesellschaft, die trotz ihrer wirtschaftlichen und politischen Nähe zum Westen doch immer noch ein wenig fremdartig und unbekannt erscheint.

Bei Hideo Yokoyamas unlängst auf Deutsch erschienenem Roman 64 – etwas unglücklich als „Thriller“ bezeichnet – beginnt dieses Fremdartige bereits im Titel. 64 bezeichnet nämlich nach der traditionellen japanischen Zeitrechnung das 64. Jahr der Shōwa-Zeit. Diese auch im modernen Japan durchaus noch präsente Art der Jahreszählung richtet sich nach einer bestimmten Ära. Wurde diese in der Zeit vor 1868 recht willkürlich von den japanischen Kaisern bestimmt, beginnt eine neue Ära seitdem immer mit dem Amtsantritt eines neuen Kaisers und endet mit seinem Tod. Die Shōwa-Zeit bezieht sich auf die Regierungszeit des Tennō Hirohito von 1926 bis 1989. Shōwa 64 bezeichnet das letzte Jahr dieser Ära, einer Ära der großen Umbrüche für Japan: die Blütezeit des japanischen Imperialismus, aber auch sein radikaler Untergang mit der Niederlage und Kapitulation im Zweiten Weltkrieg, die Zeit der Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki, aber auch die des rasenden Aufstiegs zur Wirtschaftsmacht. Shōwa 64 war ein Jahr, das lediglich eine Woche dauerte, denn am 7. Januar 1989 verstarb der Tennō. Eine Epoche ging zu Ende.

So ist Shōwa 64 sicher kein zufällig gewähltes Jahr für diesen Roman, den man Kriminalroman, besser noch Polizeiroman, aber eigentlich nicht Thriller nennen kann. Diese Bezeichnung weckt Erwartungen, die 64 trotz einer ganz eigenen hohen Spannung nicht erfüllen kann und wohl auch gar nicht will.

Zehn Jahre hat der investigative Journalist und Autor Hideo Yokoyama (Jahrgang 1957) an diesem Werk gearbeitet. Anfang der 2000er Jahre war er bereits mit einigen Romanen in seinem Heimatland sehr erfolgreich, musste aber aufgrund gesundheitlicher Probleme zurückstecken. 2013 erschien dann 64 unter dem Originaltitel Rokuyon und wurde ein riesiger Erfolg mit Millionenauflage. Der Rokuyon-Kalender bezeichnet in einem Sechstage-Zyklus sogenannte Glücks- und Unglückstage, nach denen traditionell wichtige Unternehmungen geplant werden – auch das etwas, das unserem Kulturkreis eher fremd ist.

So liegt der große Reiz und die Spannung, die 64 entwickelt, zum großen Teil in den Einblicken, die der Leser in die japanische Gesellschaft und Mentalität sowie in kulturkonzeptionelle Fragen gewinnt. Der eigentliche Kriminalfall wird da fast zur Nebensache.

Dabei beginnt die Geschichte ganz privat. Yoshinobu Mikami, seines Zeichens Pressedirektor der Polizei in der nicht näher lokalisierten Präfektur D und seine Frau Minako sind zu einer Identifizierung ins Leichenschauhaus gerufen worden. Ihre halbwüchsige Tochter Ayumi ist seit einiger Zeit spurlos verschwunden. Dass es sich bei der Leiche nicht um Ayumi handelt, beruhigt nur vorübergehend. Die Ungewissheit und die Selbstvorwürfe, die sich gerade der Vater macht, belasten die Ehe und den Alltag. Minako traut sich kaum noch aus dem Haus, könnte sie doch einen dieser „Schweigeanrufe“ verpassen, die in letzter Zeit mehrmals vorgekommen sind und hinter denen sie ihre Tochter vermutet.

Mikami selbst steht auch beruflich unter großem Druck. Ein ungelöster Kriminalfall aus dem Jahr Shōwa 64, also 1989, der kurz vor der Verjährung steht, soll mit dem Besuch des Generalinspektors aus Tokio noch einmal neu aufgerollt werden. Damals ist die siebenjährige Shoko entführt und trotz Lösegeldzahlung ermordet worden. Der Täter wurde nie gefasst. Nun, vierzehn Jahre später, soll Mikami eine Medienkampagne leiten, in der der Vertreter der Nationalen Polizeibehörde Tatort und Angehörige des Opfers öffentlichkeitswirksam aufsucht. Der Vater der kleinen Shoko lehnt dies aber ab, und immer mehr gewinnt Mikami den Eindruck, dass bei den damaligen Ermittlungsarbeiten Unregelmäßigkeiten und Pannen aufgetreten sind, die anschließend vertuscht wurden. Mikami, der früher ebenfalls Teil des KUA (Kriminaluntersuchungsamt) war, beginnt auf eigene Faust nachzuforschen, wobei ihm von vielen Seiten, einschließlich seiner ehemaligen Kollegen, Steine in den Weg gelegt werden. Zunehmend beginnen ihm die eigentlichen Interessen der Behörden klar zu werden.  Der Tod des Kaisers bricht mitten in diese Ermittlungen.

Auf 760 Seiten, in 81 relativ kurzen Kapiteln, entfaltet Hideo Yokoyama ganz langsam und raffiniert das Geflecht einer japanischen Polizeibehörde, ihrer Kompetenzstreitigkeiten, Eifersüchteleien und Intrigen. Auch in hiesigen Krimis kämpfen die Ermittler immer wieder einmal gegen die eigenen Leute (meist in der Staatsanwaltschaft), aber der hier erzählte Sumpf aus Eitelkeiten und Missgunst ist schier überwältigend. Ritualisierte Höflichkeit und Unterwerfung verdecken da nur mühsam einen brodelnden Kessel aus Karriere- und Machtstreben. Die Liste der Hauptprotagonisten umfasst 44 Personen, fast alle im aktiven oder ehemaligen Polizeidienst. Mikami ist darunter nur das eine Rädchen, auf dem allerdings die alleinige Perspektive des Romans ruht. Ihm gegenüber steht der übermächtige Apparat. Auch die Presse scheint ungewöhnlich aggressiv und mit großer Macht ausgestattet zu sein, doch die Polizei wirbt auf sehr offensive Weise um sie: Saufgelage und Barbesuche gehören hier zur Öffentlichkeitsarbeit. Eine eigenartige Mischung aus Fremdheit und Vertrautheit stellt sich bei diesen Schilderungen des Systems Polizeibehörde und der ihr innewohnenden Mechanik ein. Auch Mikamis Mitarbeiter tragen dazu nicht unerheblich bei. Es ist nicht der in Krimis sonst oft dargestellte kollegiale oder gar freundschaftliche Umgang, den Mikami mit seinen Untergebenen pflegt. Gerade bei der weiblichen Mitarbeiterin Mikumo fällt zudem das gebrochene Verhältnis zum anderen Geschlecht auf. Wie sie behandelt wird, lässt immer wieder die Rolle der berufstätigen Frau in Japan, aber letztendlich natürlich auch bei uns, überdenken.

Diese akribischen Schilderungen der Ermittlungs- und Pressearbeit verlangen vom Leser einen recht langen Atem und auch ein prinzipielles Interesse an solch genauen Gesellschaftsstudien. Dann entwickeln sie aber eine ungemeine Spannung und gewähren einen tiefen Einblick in das moderne Japan. Loyalität, Wahrung des Gesichts, Unterordnung des Einzelnen, Respektierung der Hierarchien, Konflikte zwischen persönlichen Idealen, der Moral und den Konventionen – diese Dinge entwickeln hier eine ganz eigene Dringlichkeit; Spannungen zwischen tradierter Werteordnung und moderner Gesellschaft treten zutage. Auch der grüblerische Mikami als Ermittler ist in einem „westlichen“ Krimi eher schwer denkbar. Er geht zwar durchaus seinen eigenen Weg, aber der Konflikt mit den übergeordneten Instanzen eskaliert nie. Viele Wege, die er beschreitet, erweisen sich als Sackgassen. Unterstützung bleibt im Wesentlichen die Ausnahme. Er laviert sich hindurch, widersteht mehr, als dass er agiert.

Erst im letzten Teil gewinnt der Krimiplot dann noch einmal richtig Fahrt. Eine weitere Entführung geschieht und ungeahnte Verbindungen zu Fall Aktenzeichen 64 und auch Ayumis Verschwinden tun sich auf. Das ist raffiniert entworfen und nüchtern erzählt. Hideo Yokoyama rundet den Fall schlüssig ab, lässt aber auch einige Fragen wohltuend offen.

In Amerika hat der Roman Begeisterungsstürme ausgelöst und auch in der deutschen Kritik wurde er sehr positiv aufgenommen. Von „großer Literatur“, „Nobelpreis“, „Henry James“ und den „Abgründen der Pflicht“ war da die Rede. Diese Bezugsgrößen sollte man eher heranziehen als die Bezeichnung „Thriller“, die das deutsche Cover ziert. Dann wird man das Buch mit großem Gewinn lesen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hideo Yokoyama: 64.
Übersetzt von Sabine Roth und Nikolaus Stingl.
Atrium Verlag, Zürich 2018.
768 Seiten, 28,00 € EUR.
ISBN-13: 9783855350179

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